Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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9) Nur ein literarisches Spiel: Lukianos.Dies lässt sich in zwei Abteilungen weiterführen:a) Die Erklärung eines Sprichwortes: Apostolios*.b) Ein Kunstwerk: Pausanias.
10) Eine Art von historischer Chronik: Eusebios, Hieronymus, Augustinus, Isidor von Sevilla, Petrus Comestor und Rodrigo de Rada.
Diese zehn Motive können folgendermaßen gruppiert werden: Das Thema der Stiefmutter, die MenschenopferMenschenopfer, die Geschichte der Argonauten, die Entmythologisierung des Mythos von Athamas und der Katasterismos des Widders. Es gibt auch Schlüsselwörter, die sich sofort auf diese Version beziehen, wie z.B. ‚WidderWidder‘ bzw. ‚Hellespont‘. Es gibt auch Orte, die mit dieser Tradition verbunden sind, wie z.B. OrchomenosOrchomenos bzw. AlosAlos.
De facto lässt sich alles auf drei Schwerpunkte beziehen:
PHRIXOSPhrixos: Mit ihm werden verbunden:Das Thema der Stiefmutter10:Negatives Bild von Ino.Die Enthüllung der IntrigeIntrige veranlasst die I-L-M-Version.Die MenschenopferMenschenopfer11:Sie verursachen NepheleNepheles’ Bestrafung:Athamas’ OpferOpfer: Örtlicher KultKult – Fluch des Klanes.Die AbenteuerAbenteuer in KolchisKolchis:Ehefrau und Kinder.Gewaltsamer bzw. friedlicher Tod.Entmythologisierung des Mythos12:Verliebtheit des Königs von Kolchis.
WIDDER13: Mit ihm werden verbunden:Das goldene VliesGoldenes Vlies.Die Reise von Phrixos und HelleHelle in der LuftLuft bzw. zur See:Nach den Chronisten verursacht dies den Mythos.Darstellungen in der bildenden Kunst.Das Opfer in Kolchis:Katasterismos.Motiv für die Reise der ArgonautenArgonauten.Entmythologisierung des Mythos14:Die Figur des Widders.Das Gold des Widders.Die Bewachung des Widders.
HELLEHelle (als Nebenfigur): Mit ihr werden verbunden:Ihr SturzSturz und der Name HellespontHellespont.DivinisierungDivnisierung: Nereide:Göttin im Hellespont: Erscheinung.Poseidon und Nachkommenschaft.Entmythologisierung des Mythos: Krankheit bzw. Ohnmacht15.
II. Ino-Learchos-Melikertes-Version
Zehn sind auch die Ursachen für die Erzählung, lato sensu, der I-L-M-Version1, ausgenommen die mythographischen Texte2, genau wie in der letzten Abteilung:
1) Die DivinisierungDivnisierung von InoIno und MelikertesMelikertes: Ovid, Laktanz, Servius und Augustinus.In drei Fällen konzentriert sich der Text entweder auf ein Merkmal oder auf eine Figur dieser Etappe:a) Die Gestalt von LeukotheaLeukothea: Homer – Porphyrios, Aristides und Eustathios*.b) Reinigung des bösen Rufes / Poseidon: Aristides.c) Die Gestalten von Leukothea und Melikertes: Badius.
2) Eine Sprichworterklärung: Menekrates-Zenobios.
3) Die Isthmischen SpieleIsthmische Spiele: Pindar, Menekrates (Zenobios), Kallimachos, Apollodor, Plutarch, Pausanias, Eusebios (Hieronymus), Eudokia, Hygin, Eustathios und die Mythographi Vaticani.
4) Inos SprungSprung: Kallimachos und Laevius.
5) Der WahnsinnWahnsinn: Nymphodoros und Cicero.a) Theatralische Darstellung: Lukian und Cicero.
6) Nur ein literarisches oder rhetorisches Spiel: Anthologia Palatina.a) Ein Kunstwerk: Kallistratos und Plinius.
7) Die Funktion von Athamas als ParadigmaParadigma:a) Blindheit3: Plutarch, Favorinus und Tertullian.b) WahnsinnWahnsinn: Clemens von Alexandreia und Cicero.c) Grausamkeit: Eustathios.d) Von den Eumeniden geschlagen: De Matiscone.
8) Der kultische Charakter:a) Von LeukotheaLeukothea – Mater Matuta: Plutarch, Pausanias, Anonymi in Aristotelis Artem Rhetoricam und Ovid.b) Von Melikertes – PalaimonPalaimon: Epiphanios.
9) Der Hinweis auf einen konkreten Ort (Die Athamantische Ebene – ThebenTheben): Pausanias, Historia Alexandri Magni, Eustathios und die Etymologica Gudianum, Magnum und Symeonis.
10) Die Erziehung von DionysosDionysos: Oppian, Euteknios, Nonnos und Ovid.
Diese zehn Gründe können folgendermaßen gebündelt werden: Die Erziehung von Dionysos, das ParadigmaParadigma des Wahnsinns, die DivinisierungDivnisierung von Ino und Melikertes, der KultKult zu Ehren von Leukothea oder Mater Matuta (und Palaimon) und die Isthmischen SpieleIsthmische Spiele. Es gibt auch Schlüsselwörter, die sich sofort auf diese Version beziehen, wie z.B., ‚furor‘ bzw. ‚Sprung‘. Es bestehen auch Orte, die mit dieser Tradition verbunden sind, wie z.B. Ἀθαμάντιον πεδίον bzw. ThebenTheben.
Auch dies kann man auf drei Schwerpunkte fokussieren:
DIONYSOSDionysos4: Mit ihm werden verbunden:Seine Erziehung in Athamas’ und Inos Haus.Heras ZornZorn, der die Bestrafung durch den WahnsinnWahnsinn veranlasst.Inos und Melikertes’ Rettung.In dieser Version, nach dem Sprung.Von dem von Athamas befohlenen OpferOpfer an Stelle Phrixos‘.Inos bacchischer Wahnsinn.
WAHNSINNWahnsinn: Mit ihm werden verbunden:Athamas als Prototyp des Wahnsinnigen, verbunden mit folgenden paradigmatischen Eigenschaften:Blindheit.Verlust des Sebstbewusstseins.Grausamkeit.Jemand, der von den Eumeniden geschlagen ist.Nennung des Athamas in der Dramen-Literatur.Tod des eigenen Kindes: Angriff auf seine eigene Familie.
LEUKOTHEALeukothea – PALAIMONPalaimon5: Mit ihnen werden verbunden:Inos und Melikertes’ DivinisierungDivnisierung.Ursprung: Athamas’ Wahnsinn.Tilgung des bösen Rufes von Ino.Inos Sprung mit Melikertes.Das positive Bild einer schwankenden Ino.Der KultKult von Leukothea, die mit Mater Matuta identifiziert ist mit den Facetten:Hilfe für Schiffbrüchige: Odysseus.Gelber Kuchen.Dies verknüpft ihn mit dem HassHass gegen die Sklavinnen: I-P-H.Für die Kinder der Geschwister beten.Dies verbindet ihn mit der Erziehung von Dionysos.Palaimons Kult: Im Zusammenhang mit Glaukos.Szenen der Meeresstille.Mystischer Kult für Eingeweihte.OpferOpfertod von kleinen Kindern in TenedosTenedos.Die Isthmischen SpieleIsthmische Spiele.
III. Ino-Themisto-Version und Zwischenstadium
Nur Hygin berichtet den Mythos der I-T-Version. Nonnos aus Panopolis spielt auf diese Version lediglich an und sowohl Athenaios wie die Anonymi ParadoxographiAnonymi ParadoxographiAnon.Par. 1–8 Westermann weisen aufgrund des ruinierten Hauses von Athamas auf sie hin.
Von ThemistoThemisto wird immer ein negatives Bild gezeichnet; sie wird als dumm bzw. töricht dargestellt, denn sie wird von InoIno (oder einer Dienerin) betrogen; sie tötet ihre eigenen Kinder; sie ruiniert Athamas’ Haus bzw. veranlasst den Wahnsinn des AiolidAioliden. Man findet viele Autoren, die Themisto bzw. ihre Kinder erwähnen, sie erzählen jedoch nicht den Kern dieser Version, sondern geben nur eine etymologische Deutung des geographischen Ortsnamens.
Schließlich findet sich eine Reihen von Texten – viele von ihnen beziehen sich auf AlosAlos bzw. auf die athamantische Ebene, wie z.B., Apollodor, Herodianos, Stephanos von Byzanz, die Etymologica Geniunum, Magnum und Symeoni und Eustathios –, die von Athamas’ Herumlaufen reden; dieses Motiv stellt möglicherweise ein Zwischenstadium der I-L-M und I-T Versionen dar.
Ino-Phrixos-Helle-Version Teil 1
Krappe meint, dass Athamas’ Mythos in dieser Version – er kennzeichnet sie mit den Figuren von Phrixos und dem goldenen Vlies – das Ergebnis des Zusammenschlusses von zwei Elementen ist: „L’ancienne coutume de sacrifier le roi ou le fils aîné du roi en temps de famine, et un type de conte de fée bien connu, qui a été relevé dans presque tous les pays européens“1. Weiter unten wird diese Behauptung nachgeprüft. Da von dieser Version nur sehr fragmentarische Texte erhalten sind, ist folgende Behauptung dieses Gelehrten m.E. etwas übertrieben: „[Il y a une] manque déplorable de documents antérieurs au temps de Phérécyde“2. Es ist sogar insofern falsch, als sich Andeutungen auf gewisse Bestandteile dieser Version bei Hesiod, Simonides, Hekataios und Akusilaos finden.
In Bezug auf die magischen und volkstümlichen Hinweise in dieser Version glauben Krappe und andere Forscher, wie z.B., Friedländer, dass Feenmärchen diese Geschichte sehr stark beeinflusst und diese Version wesentlich modifiziert haben. Friedländer spricht sogar explizit von ‚MärchenmotivMärchen‘3, wie z.B. dem der gedörrten Samen, der kleinen Geschwister, der grausamen StiefmutterStiefmutter, usw.; Krappe schließt kategorisch aus: „[Le] mythe de Phrixos a été changé sous l’influence du conte de fée“4.
In der I-P-H-Version kann man in der mythischen Erzählung drei wichtige geographische Orte erkennen: HellasHellas, das MeerMeer zwischen Griechenland und KolchisKolchis und Kolchis selbst. In Hellas findet Inos IntrigeIntrige statt, der erste Grund von Phrixos’ (und Helles) OpferOpfer und die letzte Ursache der Flucht der Kinder von NepheleNephele auf dem rettenden Widder. In dieser ersten Etappe spielt Phrixos die Hauptrolle, entweder als Opfer der Intrige oder als Förderer und Vollstrecker der Flucht auf dem Widder. Die SeeSee spielt in der zweiten Etappe dieser Version eine Rolle, sei es nun, dass das Tier auf dem Meer schwimmt oder über die See fliegt. Die Hauptfigur ist zweifellos Helle, Phrixos’ Schwester, deren SturzSturz den Namen ‚HellespontHellespont‘ kreiert. In Kolchis findet der letzte Teil dieser Version statt, nämlich die AbenteuerAbenteuer von Phrixos in diesem entfernten Land. Ohne den Athamantiden gering zu schätzen, ist der Protagonist dieser Etappe der Widder, dessen Opfer bzw. Enthäuten dem ArgonautenArgonautenzug zugrunde liegt und dessen KatasterismosKatasterismos ihn mit dem Sternzeichen des Widders (Aries) identifiziert.
Nun sollen diese drei Schlüsselfiguren untersucht werden: Phrixos, der Widder und Helle. Mit ihnen kann man auch zugleich die wichtigsten Themen dieser Version analysieren.
I. PhrixosPhrixos
I.1 Einführung
Es ist noch einmal zu betonen, dass das Ziel dieses Buches nicht die ausführliche Untersuchung der Gestalt des Phrixos oder der Figuren auf den folgenden Seiten ist, sondern die detaillierte Analyse und Erörterung der Figur von Athamas. Es ist aber unmöglich, den AiolidAioliden und seinen MythosMythos völlig zu verstehen, ohne ihn mit all den Personen seiner SageSage zu kontextualisieren. Alle diese Figuren sollen deshalb analysiert werden, um ein möglichst vollständiges Bild des Mythos von Athamas skizzieren zu können. Infolgedessen sollen alle diese Gestalten lediglich als Hauptbestandteile der mythischen Erzählung verstanden werden, deren Analyse nur in Verbindung mit der Hauptfigur Athamas bzw. mit den wichtigsten Themen dieses Mythos, in denen sie eine hervorragende Rolle spielen, durchgeführt wird.
Im Hinblick auf Phrixos gibt es vier Schlüsselmotive, und keines hat mit dem ‚Wort‘ Athamas zu tun: das Thema der StiefmutterStiefmutter, den OpferOpferaltar, den rettenden Widder und das aufnehmende Land von KolchisKolchis. Das erste dieser Motive, das der Stiefmutter, bildet den Grund des zweiten, nämlich das der Opferung auf dem Opferaltar. Im ersten Fall werden die m.E. zwei Arten von ‚Stiefmüttern‘ im Mythos von Athamas untersucht; hier werden auch die Ursache und die Weise der IntrigeIntrige gegen Phrixos (und manchmal auch gegen Helle) analysiert. Im zweiten Fall ist von der Opferung im Allgemeinen und von den Menschenopfern in HellasHellas die Rede. Das dritte Thema, der Widder, stellt ein grundlegendes Element dieser Tradition dar, weswegen es im nächsten Absatz der I-P-H-Version ausführlicher erforscht wird. Das vierte Thema wird in der dritten Abteilung dieses Absatzes von Phrixos untersucht.
Im Grunde genommen werden an dieser Stelle die Themen der Stiefmutter, der MenschenopferMenschenopfer und der AbenteuerAbenteuer von Phrixos in KolchisKolchis analysiert.
I.2 Das Thema des StiefmutterStiefmutters
Das Argument der grausamen Stiefmutter ist sehr alt und findet sich in allen Literaturen der Welt. Sprichwörtlich ist die praktische Lieblosigkeit zwischen Stiefmüttern und Stiefkindern. Einige Beispiele können dafür Zeugnis ablegen1: Hdt. IV 154HerodotHdt. IV 154; Is. Pro EuphIsaiosPro Euph. V. V; Apul. MetApuleiusMet. X 5. X 5. In Tac. Ann. XII 2TacitusAnn. XII 2 spricht man von nouercalia odia, einem derMythographi VaticaniM.V. I 23 M.V. I 23 sehr ähnlichen Ausdruck: nouercali odio. Dieser HassHass wird stark konkretisiert in Sen. Contr. IV 6SenecaContr. IV 6 : nouercalibus oculis aliquem intueri.
Das deutlichste Beispiel in den Texten über Athamas’ Mythos ist das Frg. 36 KannichtEuripidesPhrixos A-B:Frg. 36 Kannicht, das auf einen der zwei Phrixos von Euripides zurückgeführt wird; InoIno hätte es aussprechen sollen. Das Frg. 4 Kannicht, von AigeusEuripidesAigeus:Frg. 4 Kannicht, ist diesbezüglich auch sehr bedeutsam. McHardy meint, Medea wäre in diesem Werk „the hostile stepmother attempting to persuade her husband Aegeus to murder his unrecognized son, Theseus“2.
Fontenrose stellt fest: „The second wife and the other woman have been favorite themes of story“3. Diese zweite Frau hat immer einen negativen Charakter, denn sie wird ipso facto zur Stiefmutter der Kinder der früheren Ehefrau, und Stiefmütter haben keinen guten Ruf4. Als Muster gilt nicht nur die Legende von Athamas, sondern auch jene von Aëdon-Prokne, in der Tereus als Ehebrecher – genauso wie Athamas in Bezug auf NepheleNephele bei Philostephanos (FHGPhilostephanosPhilosteph.Hist. (FHG) 37 37) – oder als ein Mann, der zweimal heiratet, vorkommt.
Der Ruf der Stiefmütter ist so negativ, dass Alkestis sich freiwilligfreiwillig statt ihres Mannes dem Tod hingibt, wenn nur Admetos – immer in Euripides’ Version – keine zweite Ehe eingeht; eigentlich sorgt sie sich um ihre Kinder: „È per essi (più che per gelosia), infatti, che chiede ad Admeto di non introdurre in casa una matrigna; e per la loro sorte futura che essa trema“5.
McHardy, der sich auf eine Untersuchung von Visser stützt, meint, die Entscheidung der Stiefmutter, ihre StiefkinderStiefkinder zu töten, „is based on their preference for their natal kin (father and siblings) over their husband and sons“6. Deswegen ist es nicht notwendig, dass die Stiefmutter ihre Stiefkinder in einem Anfall von Irrsinn, wie es üblich ist, wenn es um den Angriff einer Mutter gegen ihre eigenen Kinder geht, umbringt: Es ist absolut ‚normal‘, dass die Kinder einer früheren Ehefrau der Stiefmutter ungeheuren Ärger verursachen. In dieser Linie ermahnt Platon die Männer, dass sie keine Stiefmutter nach Hause ‚bringen‘7. Moderne Studien, wie die von Daly & Wilson McHardy zeigen, „children are at greater risk from stepparents than from natural parents“8.
Zahlreich sind die Adjektive für die Kennzeichnung der Stiefmutter, vor allem in der lateinischen Literatur, und keines ist gut: saeua (Verg. G. II 128VergilG. II 128); scelerata (Ou. Fast. III 853OvidFast. III 853); terribiles (Ou. MetOvidMet. I 147. I 147). Auffällig ist der Ausdruck von Quintilian (Inst. II 10, 5QuintilianusInst. II 10, 5), als er die Klischees aufzählt, die man nie in einem Gerichtsverfahren finden wird: Nam magos et pestilentiam et responsa et saeuiores tragicis nouercas aliaque magis adhuc fabulosa frustra inter sponsiones et interdicta quaeremus; er meint offensichtlich die berühmten auf der Bühne dargestellten Stiefmütter9. Merkwürdig ist der Ausdruck in Plaut. Ps.PlautusPs. 314 314, (argentum) apud nouercam querere, in dem er sagen will, dass derjenige, der eine StiefmutterStiefmutter um Geld bittet, umsonst bittet. Dieses Thema war so bekannt, dass ihm selbst Antiphon eine Ausführung widmete: In nouercam.
Die verwandtschaftlichen Beziehungen sind immer und überall zumindest schwierig10 und der Konflikt innerhalb der Familie ist oft zu einem literarischen Motiv geworden11. Wo liegt der Ursprung dieses Konfliks?
Die die Familie zusammenhaltende Verbindung sind meiner Meinung nach die Ehe und die Geburt. Im Prinzip sollte die Liebe die Beziehungen kennzeichnen und ein wesentliches Element der Gründung und des Bestandes der Familie sein; leider ist es nicht immer so. Diese Verbindungen, nämlich Ehe und Geburt eines Kindes, können auch ohne Liebe bestehen. Im ersten Fall mildert die Auswahl des Ehepartners die zukünftigen Probleme der Beziehung; wenn die Wahl aber unfrei gewesen ist, ähnelt die Ehe sehr der Beziehung einer Stiefmutter zu ihren Stiefkindern, denn beide sind erzwungene Beziehungen. Im zweiten Fall, der Geburt eines Kindes, ist es das Blut, das die Beziehung zwischen Eltern und Kindern begründet, ein Element, das von Natur aus über der Wahl selbst steht12. Das Problem erscheint, wenn eine nicht auf Blut basierende Beziehung die Familie kennzeichnet: Der Konflikt ist da. Dies geschieht mit der Stiefmutter.
Das Wort ‚StiefmutterStiefmutter‘ (μητρυιά, ᾶς, auf Griechisch) hat sowohl im Griechischen als auch im Deutschen und im im Spanischen13 einen großen Begriffsreichtum. In Hes. Op. 825–826 ist es ein Synonym für Unglück in einem zeitlichen Rahmen, was auf Deutsch ‚ein schlechter Tag‘ heißt: ἄλλοτε μητρυιὴ πέλει ἡμέρη, ἄλλοτε μήτηρ14. In A. Pr. 727 wird dieses Übel räumlich zusammengefasst: ἐχθρόξενος ναύτῃσι, μητρυιὰ νεῶν. In Pl. MxPlatonMx. 237b. 237b ist mit μητρυιά gemeint, was nicht unverfälscht ist. Im Lateinischen hat auch das Wort nouerca, dessen Etymologie die früheren Überlegungen deutlich macht15, ein unfassendes Kompendium von Einzelheiten, die das Unglück und das Böse bedeuten. In der Linie von Plutarch wird in Quint. Inst. XII 1, 2QuintilianusInst. XII 1, 2 folgendes behauptet: rerum ipsa natura in eo … non parens sed nouerca fuerit, si … Vell.Pat. II 4, 4Velleius PaterculusVell.Pat. II 4, 4 bezieht sich auf das Vaterland, da die schreiende Versammlung in Italien nicht heimisch ist16; in Petron. 122PetroniusPetron. 122 aber ist RomRom der Hinweis, der darauf hindeutet, dass die ewige Stadt mit dieser Schandtat nichts zu tun hat.
Letztlich ist auch das Wort nouercae, arum interessant, dessen erste Bedeutung auf die Bewässerungsgräben hinweist, die das Wasser schlecht und langsam tragen17, dessen zweite Bedeutung aber, nach Lewis-Short (1993), s.u. nouerca, „a rough piece of land (so called in allusion to the iniquitas nouercae)“18 ist.
Im Mythos von Athamas ist das Thema der Stiefmutter grundlegend für die I-P-H-Version, obwohl seine Gegenwart in den ältesten Elementen dieser Legende von verschiedenen Autoren in Frage gestellt worden ist. Friedländer z.B. glaubt, dass zunächst eine Sterbliche auftaucht – möglicherweise ohne Identifikation –, die sich in die Ehe von Athamas und NepheleNephele einmischt und diese in Gefahr bringt; aus dieser Sterblichen „(wird) erst nachträglich die MärchenMärchenfigur der bösen Stiefmutter erwachsen sein“19. Krappe ist derselben Meinung, wenn er annimmt, „le motif de la marâtre est attaché au récit primitif“20.
Das Thema der StiefmutterStiefmutter rollt auch ein elementares Problem auf, nämlich die Reihenfolge der Ehen von Athamas. Natürlich kann eine Frau nur Stiefmutter der Kinder einer früheren Beziehung werden. Üblich ist, dass die zweite Frau gegen die Kinder der ersten bzw. die dritte Ehefrau gegen die Kinder der zweiten intrigiert. Dies geschieht aber nicht immer mit Notwendigkeit: es genügt, dass sie in diesem Moment die Ehefrau des Mannes ist bzw. die οἰκοδεσποσύνη hat, damit die Beziehung Stiefmutter-StiefkinderStiefkinder entsteht.
Das prototypische Beispiel dieser letzten Idee findet sich bei Philostephanos (FHGPhilostephanosPhilosteph.Hist. (FHG) 37 37). InoIno ist in diesem Fall nicht die zweite Ehefrau des Athamas, sondern die erste, und mit ihr hat der Aiolide zwei Kinder, Klearchos und Melikertes. Ino kann selbstverständlich keine Stiefmutter sein. Aus seltsamen und unbekannten Gründen wird Athamas nachher gezwungen, Ino aus dem Hause zu verweisen; dann heiratet der Aiolide Nephele und sie haben zusammen zwei Kinder, Phrixos und Helle. Nephele ist in diesem Moment offensichtlich die Stiefmutter von Klearchos und Melikertes, aber der Text präsentiert – in Zusammenhang mit der Tradition – den HassHass der ‚grausamen Stiefmutter‘ überhaupt nicht; im Gegenteil: Nephele ist eine gute Stiefmutter für sie21HeraHyginusFab. IVNonnos von PanopolisD. IX 316–321. Sie entdeckt jedoch den Betrug ihres Mannes und verlässt ihn. Nun sollte Ino noch einmal als Ehefrau von Athamas gelten, aber dies ist nicht wichtig. Hauptsache ist, dass sie wieder die Kontrolle über das Haus hat (πάλιν δὲ τῆς οἰκίας ἐπικρατήσασα ἡ Ἰνὼ) und Nepheles Kinder, die nach ihren eigenen Kindern geboren sind22, jetzt unter ihrem Befehl stehen. Hier, und nicht früher, kommt das Motiv der grausamen Stiefmutter vor.
Allerdings ist die üblichste Reihenfolge der Ehen von Athamas diejenige, die Nephele als die erste Ehefrau und Ino als die zweite vorschlägt; diese Reihenfolge ermöglicht, dass Ino als Stiefmutter angesehen wird. Der Fall von Ino fasst alles, was oben über die Stiefmutter gesagt worden ist, zusammen. Erwähnenswert ist, dass HeraHera, die die übliche Anstifterin des WahnsinnWahnsinns wegen der Erziehung von Dionysos durch Athamas und Ino ist, sich meistens so verhält wie Ino. Der folgende Text von Firm. Mat. Err. Prof. Rel. VI 1Firmicus MaternusErr. Prof. Rel. VI 1 bezeugt Junos Hass gegen Liber: Vxor Iouis, cui Iunoni fuit nomen, nouercalis animi furore commota ad necem infantis omnifariam parabat.
Dieses bedeutsame Thema gibt Anlass zu der ganzen mythischen Erzählung dieser Version, ist aber nicht gleichförmig in seiner Zusammensetzung. Obwohl der Hass der Stiefmutter gegen ihr(e) Stiefkind(er) vorhanden ist und seine Handlungsweise und Wirkungen fast immer dieselben sind, kann man m.W. zwei verschiedene Arten von ‚Stiefmutter‘ erkennen; der Unterschied liegt im anderen Ursprung dieses Hasses: im Motiv des Neides23 und im Motiv der Verliebheit, was auch als Thema von PotipharPotiphar bekannt ist. Diese zwei Ursachen sollen nun ausführlich analysiert werden.
I.2.1 Das Motiv des NeidNeides
In diesem ersten Fall konzentriert sich das Thema auf den Neid, den die StiefmutterStiefmutter gegen die Kinder der früheren Ehefrau hegt. Im Mythos von Athamas ist diese Motivierung die Mehrheitsoption der griechischen und lateinischen Autoren, zumindest nach den Informationen der erhaltenen Werke. Allerdings wird der Hass gegen PhrixosPhrixos bzw. HelleHelle selten explizit gemacht, sondern dieser HassHass wird angenommen, weil sie die Stiefmutter der Kinder von Nephele ist1.
Ein fragwürdiges Element dieser Version ist die Verfahrensweise der Stiefmutter, um Phrixos (und Helle) zu beseitigen: der verbrannte Samen. Im Prinzip versteht man nicht, was der gedörrte Samen mit dem letzten Ziel der Intrige, dem Tod von Phrixos2, zu tun hat. Der Zweck der IntrigeIntrige der Stiefmutter ist die Verursachung einer großen Plage in der Stadt, damit das Orakel in Delphi befragt wird. Dann folgt der zweite Teil des Planes der grausamen Stiefmutter: die Bestechung des Boten. Vor dieser Analyse aber sollte man einen kleinen excursus über die zwei verschiedenen Arten natürlichen Unglücks unternehmen: die Unfruchtbarkeit und die DürreDürre.
Die erste Plage kommt direkt aus der Bosheit der Stiefmutter; ihr Hauptziel ist die Bestrafung von Phrixos; die zweite Katastrophe aber hat ihren Ursprung in einer möglicherweise noch primitiveren Vorstellung: ein natürliches, nicht von Menschenhand veranlasstes Unglück, dessen Ziel die Hinrichtung Athamas’ ist. Auch Friedländer meint dies, wenn er den Bericht von Schol. in Ar. Nu. 257 HolwerdaScholia zu AristophanesSchol. in Ar. Nu. 257b Holwerda vorschlägt, weil dieser Text der älteren Motivierung näher ist als die jüngere Tradition, die „ganz von dem MärchenMärchenmotiv der bösen Stiefmutter beherrscht“3 wird. Diese zweite Geschichte soll hier sorgfältig untersucht werden.









