Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur

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Fuhrmann bemerkt, dieses Thema sei eines, „welches bisher durch keine antike Darstellung bekannt ist“59, wenn auch Lucas de Dios60 darauf hinweist, dass dieser Stoff von Athamas’ Mythos eine der bevorzugten keramischen Darstellungen war. Fuhrmann vermutet, dass dieses Motiv auch auf drei anderen Werken dargestellt worden ist: „Sie deutet nunmehr auch die Darstellung auf dem Karneol der Eremitage, auf dem Relief aus Santa Marinella und auch die auf dem etruskisch-rotfigurigen Stamnos aus Falerii auf die Überbringung des Dionysoskindes durch HermesHermes in die Obhut des Athamas“61. Athamas sieht Zeus in diesen Darstellungen ähnlich und seine sitzende Haltung weist ihn als König aus. Dies sind die Bilder von zweien dieser Darstellungen62:

Stamnos aus Rom / Relief aus Budapest
Fuhrmann erklärt, „die Themen des Bilderschmuckes der ‚homerischen‘ Becher sind, wie schon zu Anfang gesagt, griechische Mythen und Sagen, so wie diese durch die griechische Dichtung gestaltet sind“63. Der Becher mit Athamas kann da keine Ausnahme sein.
Lloyd-Jones weist in seiner Einleitung auf den Zweck der Inschrift hin: „[It] has been thought to support this identification“64. Die Anfangsbuchstaben ΣΟΦΟ… gestatten zu behaupten, dass es um Sophokles geht65. Die sophokleische Tragödie, auf die sich die Darstellung dieser Vase bezieht, glaubt Fuhrmann66, dank dem Text von Apollodor67, als den ersten Athamas zu erkennen. Dementsprechend rekonstruiert Fuhrmann die vierte Inschrift folgendermaßen:
ΣΟΦΟ[ΚΛΗΣ ΕΝ ΑΘΑ[Μ]
ΤΙ Α[……?]68
Fuhrmann folgert daraus: „Diese Ergänzung würde jedenfalls die Zurückführung des Bildes auf dem ‚homerischen‘ Becherfragment der Sammlung Curtius auf die Tragödie ‚Athamas α‘ des Sophokles völlig sicherstellen“69. Weitzmann aber meint, dass der ganze Becher mit Szenen aus der Tragödie von Sophokles bemalt war; eine von ihnen wäre die Übergabe des Kindes DionysosDionysos durch HermesHermes70. Radt ist sich diesbezüglich nicht sicher und schreibt: „Ad alteram fort. referendum est poculum ‘Homericum’ s. IIa“71. Weitzmanns Meinung kann man m.E. akzeptieren: hier wurde eine Szene aus einer der zwei Athamas-Tragödien von Sophokles dargestellt.
Nun ist es aber schwierig, wie Radt andeutet, dieses Bild auf den zweiten Athamas von Sophokles zurückzuführen, weil alle Scholien der einhelligen Meinung sind, dass es sich bei dieser Tragödie um den Mordversuch an Athamas am Opferaltar durch Nephele und um die Rettung Athamas’ durch Herakles in extremis handelte. Es ist auch schwer zu verstehen, warum Nauck sagt, dass sich die Handlung des ersten Athamas um den bekränzten Aioliden drehte72: „Phrixo et Hellae Athamantis et Nephelae liberis struit nouerca Ino; Phrixus aureo ariete uectus Colchidem peruenit, Athamas morti destinatus seruatur per Herculem. Hoc fere Athamantis prioris argumentum fuerit“73. Seeliger in Roscher und Escher in Pauly-Wisowa folgen auch diesen Gedanken74.
Im Gegensatz zu diesen Autoren scheint es, dass Mette, Chrétien und Lucas de Dios den Vorschlag der vorliegenden Arbeit teilen. Mette behauptet tatsächlich, dass es sich bei dem zweiten Athamas um Athamas’ Bestrafung durch Nephele und um die Rettung Athamas’ durch Herakles handelte; „demgegenüber könnte sein erster ‚Athamas’ (daraus frg. 1) denselben Stoff zum Gegenstand gehabt haben wie das aischyleische Drama (frg. 4–10 werden ohne Distinktion aus ,dem Athamas’ des Sophokles zitiert)“75. Chrétien bestätigt: „Dans l’Athamas B de Sophocle, c’est Athamas qui est la victime de Néphélé devenue déesse“76. Lucas de Dios drückt sich so aus: „Respecto al Atamante II hay una mayor seguridad en base al testimonio de varias fuentes. Su argumento debía de tratar de la maquinación de Néfele en su intento por conseguir que su antiguo esposo pereciese, de lo que le salvará Heracles al comunicarle que su hijo Frixo estaba vivo“77.
Wenn das richtig ist, sieht es so aus, als ob die Szene der megarischen Vase mit der I-L-M-Version zu tun habe, nämlich mit der Überreichung des Dionysos durch HermesHermes an Athamas (und Ino), damit das Kind gepflegt werde. In der Tat hält es Lucas de Dios für sehr wahrscheinlich, dass es bei dem ersten Athamas um Athamas’ Wahnsinn ging78.
Fuhrmann zufolge würde in der ersten Beischrift der Keramik eine kleine Zusammenfassung des Mythos von Athamas mit der Erwähnung von Heras ZornZorn über Athamas wegen der Erziehung des Dionysos präsentiert. Der Akkusativ könnte vom letzten Wort abhängen, dessen Buchstaben „schwerlich anders als die Anfangsbuchstaben einer Form des Verbums τρέφειν angesprochen werden“79. Die Bezeichnung ΠΑΡΑΘΗΜΑ80 leitet sich von παρατίθημι, ‚hinterlegen, anvertrauen, zu treuen Händen übergeben‘, ab, obwohl diese Bedeutung üblicherweise dem Wort παραθήκη zugeordnet ist; dieser Begriff bezeichnet nach Fuhrmann „die Beziehung zwischen dem Dionysoskind und Athamas“81. Fuhrmann glaubt, dass Athamas’ WahnsinnWahnsinn in der zweiten Zeile durch HeraHera angedeutet wird. Er wagt sogar folgende Inschrift zu rekonstruieren:
ΔΙΟΣ ΛΥΣΑΝΤΟΣ ΤΑ ΡΑΜΜΑΤΑ ΕΡΜΗΣ ΠΡΟΣ ΑΘΑΜΑΝΤΑ ΚΟΜΙΖΕΙ] ΔΙΟΝΥΣΟΝ ΟΝ ΠΑΡΑΘΗΜΑ ΤΡΑΦ[ΕΝΤΑ] ΑΘΑΜΑΣ ΔΕ ΥΣΤΕΡΟΝ ΤΩΝ ΕΞ ΙΝΟΥΣ ΕΣΤΕΡΗΘΗ ΠΑΙΔΩΝ ΜΑΝΕΙΣ ΔΙΑ ΜΗΝΙ]Ν ΗΡΑΣSonderbar ist, dass HermesHermes Athamas, und nicht Ino, der Schwester von SemeleSemele, das Kind DionysosDionysos übergibt. In diesem Fall wäre gerechtfertigt, dass Athamas einen Wahnsinnsanfall hat und nicht Ino. Der ‚Stamnos‘ aus RomRom zeigt beide Figuren als Empfänger von Dionysos, wie es auch in Apollod. III 4, 3ApollodorosApollod. III 4, 3 erzählt wird. Aber warum sollte Athamas das Kind Dionysos empfangen? Mit Athamas als Empfänger hätte diese Handlung mehr Gewicht und Würde: Der König empfängt das Kind.
Es gibt noch einen anderen ikonographischen Beleg zu diesem Thema. Er wird an dieser Stelle erwähnt, nicht weil er Informationen über die Tragödie von Sophokles geben kann, sondern weil er eine m.E. deutlichere Darstellung der Übergabe von Dionysos durch HermesHermes an Ino und Athamas liefert als auf der vorher analysierten Vase. Diese neue Darstellung scheint der Erzählung von Apollodor (III 4, 3ApollodorosApollod. III 4, 3)82 zu folgen, genau wie der Stamnos aus RomRom. Es geht um eine in AthenAthen erhaltene, rotfigurige Hydria aus der privaten Sammlung von Adonis Kyrou, die auf Hermonacte-Maler zurückgeführt wird. Leider ist sie nur fragmentarisch erhalten geblieben: Es fehlt der Fuß der Hydria, der Griff der linken Seite, fast der ganze Bestandteil und ein kleiner Teil über dem Griff der rechten Seite. Hier ein Bild der Vase:

HermesHermes übergibt Ino und Athamas Dionysos
Auf dieser Keramik lassen sich vier Figuren erkennen. Die auffälligste ist die von HermesHermes, mit seinem Chlamys, seinem breitkrempigen Hut (Petasos), seinen geflügelten Schuhen und seinem zaubermächtigen goldenen Stab in der linken Hand; seine rechte Hand wendet er nach oben. Zwischen seinem linken Arm und seiner Schulter befindet sich ein Kind, dessen Haupt in dieselbe Richtung wie Hermes weist. Ein Band mit Amuletten bedeckt seinen Körper. Diese zwei Figuren wenden ihr Angesicht einer Frau zu, die mit Chiton, Himation, einem Gürtel und einem Diadem bekleidet und zwischen zwei dorischen Säulen steht, vielleicht in einer Vorhalle. Neben ihr befindet sich ein dreifüßiger Tisch mit zwei Tonkrügen und einem Kuchen. An der linken Seite der Frau ist, leider sehr unklar, der Oberkörper eines sitzenden Mannes zu sehen, der das Himation trägt und eine Fiale in seiner rechten Hand hält. Oakley schreibt: „his left hand, most likely held the striped scepter preserved in part by his knee and by the left hand Doric capital“83.
Dieser Wissenschaftler erklärt, es bestehe eine Reihe von rotfigurigen Vasen, datierbar zwischen 480 und 440 v. Chr., auf denen dargestellt ist, wie Zeus, es könnte aber auch HermesHermes sein, das Kind Dionysos den Nymphen aus Nisa übergibt. Man nimmt an, dass alle diese Darstellungen durch das Satyrspiel Dionysiscus von Sophokles beeinflusst sein könnten. Kyrous Hydria beschreibt eine andere Variante dieser Geschichte: Hermes vertraut Ino und Athamas das Kind Dionysos an. Bis zur Veröffentlichung von Fuhrmanns Artikel 1950/1 gab es für diese Version der Kindheit von Dionysos keinen Beleg, weder in den Bemalungen der attischen Keramik noch in irgendeiner plastischen Darstellung.
Die rotfigurige Hydria ist dem von Fuhrmann kommentierten84 ‚Stamnos‘ aus der Villa Giulia sehr ähnlich; darum ist es durchaus möglich, Oakleys Deutung für diese Keramik anzunehmen: „The myth depicted, I believe, is HermesHermes bringing the infant Dionysos to King Athamas and Ino, one of the mythological versions of Dionysos’ childhood“85. Oakley erläutert auch Tonkrüge und Kuchen als Zeichen bzw. Attribute von Dionysos. Er sagt aber nichts über die fehlenden berühmten Merkmale dieses Gottes, wie z.B. die Efeukränze. Kunze-Götte bringt die Vase in Zusammenhang mit zwei in Athens Keramik gefundenen Pyxiden und glaubt, dass „wegen der von HeraHera drohenden Gefahr ein gewisses Inkognito des Kindes eine Rolle spielte“86. Deswegen hält der Mangel an Attributen, die üblicherweise vorhanden sind, den Leser nicht davon ab, Dionysos als Gott zu erkennen.
In Hinblick auf die Datierung der Vase schätzt Oakley, dass Kyrous Hydria gleichzeitig mit dem ersten Sophokles entstanden ist, nämlich ca. 460 v. Chr., wenn man dem Marmor Parium 56: IG2 2325 folgt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die obengenannte Tragödie von Sophokles auf diese Hydria Einfluss hatte. Wenn das so wäre, „the moment of the encounter between the messenger god, and the King and Ino could suggest that the latter was one of the major characters in the play, a fact which so far has not emerged so clearly from the other pictorial renderings and the extant fragments of the Athamas as it does now from the Kyrou hidria“87. Wegen dieser Datierung glaubt Lucas de Dios seinerseits, dass es viele Möglichkeiten gibt, einen Berührungspunkt mit Aischylos’ Tragödie zu finden88. Zum anderen stammt die Hydria aus Atalanti, einer Stadt in Locris, zwischen BöotienBöotien und ThessalienThessalien gelegen. Oakley lässt sich auf folgenden Vorschlag ein: „Since Athamas was a local hero in this area and since red-figure finds from Atalanti are rare, might we dare speculate that our vase was a special commission or purchase of a local passing through Athens, perhaps one who had seen the Athamas of Sophocles?“89.
II.2 Die PhrixosPhrixos betitelte Tragödie
Abgesehen von den zwei schon analysierten Tragödien verfasste Sophokles ein weiteres Schauspiel über den Phrixos-Mythos. Leider sind nur wenige Fragmente dieses Dramas erhalten.
Der Leser könnte sich fragen, warum in dem vorliegenden Buch ein Werk untersucht werden soll, das sich nicht auf die Figur von Athamas konzentriert bzw. den Namen des Aioliden nicht als Titel trägt, wie die oben erwähnten Stücke von Aischylos und Sophokles. Fuhrmann erklärt treffend den Grund: „Denn wenn auch Athamas die zentrale Gestalt der Sage ist, so sind er und sein Schicksal keineswegs immer der Mittelpunkt der sie behandelnden Dichtungen, sondern ebenso seine Gemahlinnen und Kinder, also einerseits Nephele mit ihren Kindern Phrixos und Helle und Ino mit ihren Söhnen Learchos und Melikertes und andererseits diese und Themisto mit ihren Zwillingen. … So gehören zum Kreis der Dichtungen, die den Athamasstoff behandeln, auch die Tragödien nicht allein mit dem Titel ‚Athamas‘, sondern auch die mit den Titeln wie ‚Phrixos‘ und ‚Ino‘“1. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Die Handlung des Phrixos von Sophokles wird üblicherweise mit der in Hyg. Astr. II 20HyginusAstr. II 20 beschriebenen Geschichte in Verbindung gebracht. Nauck selbst weist auf diese Idee hin: „mythum in Hygini Poet. Astr. 2, 20 p. 446 repperisse sibi uisus est Welcker“2. Lucas de Dios ist aber vorsichtiger: „Respecto al Frixo sofocleo, poco puede decirse a través de los fragmentos conservados. Hay, sin embargo, una serie de conjeturas, basadas en criterios externos a la obra“3.
Vier Vermutungen werden im Folgenden vorgeschlagen, um die Handlung dieser Tragödie zu rekonstruieren.
1) Potiphars Motiv
Es geht um die verleumderische Anklage der Demodike, wenn ihr Neffe Phrixos sie zurückweist und es ablehnt, mit ihr zu schlafen4.
Der erste Gelehrte, der dieses Thema auf die Tragödie zurückführte, war Welcker: „Auf eine für die Tragödie gerade ganz geeignete Sage deutet Pindar, indem er (Pyth. IV, 162) sagt, daß Phrixos durch den Widder gerettet ward von der Stiefmutter bösen Geschoffen“5.
Pearson mutmaßt, dass die Handlung dieses Dramas „is referred to by Pind. Pyth. 4. 161“6, auch wenn die Aussage des Scholions zu Pindars Werk „does not in any way assist the conclusion that the Demodice-story was the central incident in the Phrixus“7. Gantz schenkt diesem Scholion auch keinen Glauben: „But possibly, too, the scholiast is confused“8. Diesem Forscher gemäß konnte die StiefmutterStiefmutter in Sophokles Tragödie nicht Nephele genannt werden.
In Bezug auf Welckers Vorschlag behauptet Pearson, „is thus little more than a guess“9, obwohl es möglich ist, dass Welcker Recht hatte, denn Phrixos musste die Hauptfigur der Tragödie sein und die Geschichte der Demodike beschreibt ihn auf diese Weise. Fontenrose ist in seiner Erklärung der Demodike als Tante, nicht als Stiefmutter, wahrscheinlich derselben Ansicht: „The nature of her plot is evident from a second (probably Sophoclean) version of the story, wherein Demodice or Biadice was not the stepmother of Phrixus but the wife of his uncle Cretheus10. Ganz anders ist die Ansicht von Lucas de Dios. Er meint nicht, dass Potiphars Motiv der Kern dieser Tragödie war, zumindest wenn man Euripides’ Tragödie im Sinne hat: „El tradicional paralelismo de contenido en correspondencia a la identidad de títulos11 hablaría igualmente en contra de aplicar al Frixo sofocleo el motivo de Putifar“12. Allerdings ist es nur eine Vermutung, dass Sophokles’ Phrixos einer der Tragödien des Euripides ähneln sollte.
2) Das Motiv der StiefmutterStiefmutter
Dieser Mutmaßung gemäß handelt es sich bei Sophokles’ Phrixos um die übliche IntrigeIntrige der Ino ihren Stiefkindern gegenüber. Pearson meint, „Phrixus contained the earlier part of the story of Ino’s plot up to the time of the escape of the two children, whereas the Athamas, as has already been suggested (I p. 2), narrated the subsequent punishment of their father“13.
3) Phrixos’ Rückkehr und seine endgültig erwiesene Unschuld
Pearson weist darauf hin, „Urlichs conjectured that the Phrixus related to the fortunes of the hero subsequent to his arrival in Colchis“14. So war es, denn Ulrichs beteuert, „Sophocles autem, quum in altero Athamante periculum, quod Phrixo eiusque sorori a patre instabat, descripsit, in Phrixo eius aduentum in Colchide uidetur repraesentasse“15. Welcker erwiderte ihm, es gäbe der Tradition nach kein solches AbenteuerAbenteuer, das die Handlung einer Tragödie darstellen konnte: „Allein von seiner That des Phrixos bey oder nach seiner Ankunft ist die geringste Spur in den Sagen“16.
4) Mangelnde Grundlage für eine Aussage
Zuletzt meint Ribbeck, Demodikes Geschichte „ist der Hippolytosfabel unverkennbar nachgebildet, muss also jüngeren Ursprungs sein, so dass … [sie] … nur einem späteren Tragiker, gewiss nicht dem Sophokles zuzutrauen ist“17. Zudem ist er auch der Meinung, es sei nicht auszuschließen, dass Sophokles’ Phrixos ein Satyrspiel war.
Schmid selbst entschließt sich nicht für eine bestimmte Handlung18 und viele andere Wissenschaftler geben zu, dass es sehr schwer ist, den Inhalt der Tragödie anzudeuten – vorausgesetzt es handelt sich um eine solche. So stellt Radt fest: „de argumento non constat“19; Mette erkennt, „der Inhalt des ‘Phrixos’ (frg. 721–723, P.) bleibt unbekannt“20. Pearson weist darauf hin, „the internal evidence is insignificant, and general probability can alone decide the issue“21. Lloyd-Jones vertritt die Auffassung, „there is no positive evidence“22 für Phrixos’ Handlung; er vermutet aber, „Phrixus may have been identical with one of the two Athamas plays“23, was meiner Meinung nach sehr unwahrscheinlich ist.
Nach allem, was bis jetzt gesagt worden ist, kann man über die Handlung von Sophokles’ Athamas folgendene Schlußfolgerungen ziehen:
1) Erster Athamas: Die I-L-M-Version mit der Übergabe des Kindes Dionysos durch HermesHermes an Athamas.
2) Zweiter Athamas: Wahrscheinlich die I-P-H-Version, aber es lässt sich nicht sicher feststellen. Das Opfer eines bekränzten Athamas und die Rettung durch HermesHermes sollte in diesem Theaterstück dargestellt werden.
3) Phrixos: Darüber herrscht Unsicherheit. Welckers Vorschlag (Potiphars Thema) ist ziemlich willkürlich, wenn er entweder nur auf den erhaltenen Fragmenten oder auf den sicheren Informationen über diese Tragödie aufbauen will.
Glaubwürdig sind m.E die Scholien zu Aristophanes für die Rekonstruktion des zweiten Athamas und die nach Fuhrmann erläuterten Fragmente des homerischen Bechers für die des ersten Athamas. Leider lässt sich nicht mehr sagen. Im nächsten Kapitel wird der mögliche Einweihungs- oder Reinigungsritus für Athamas analysiert, ein Thema, um das es sich in seinen Tragödien handeln konnte24.
III. Euripides
Von den drei berühmten Tragikern des 5. Jh. n. Chr. ist Euripides derjenige, von dem mehr Fragmente in indirekten Belegen überliefert worden sind. Er schrieb eine Ino betitelte und zwei PhrixosPhrixos betitelte TragödieTragödien; darüber hinaus wird InoIno auch in MedEuripidesMed. 1282–1289. 1282–1289 und LeukotheaLeukothea und PalaimonPalaimon in Iph. 270–274 erwähnt.
Bekannt ist, dass Euripides in seinen Werken Traditionstreue mit kreativer Erneuerung gepaart hat. Zwei Gründe aber erschweren die Festellung, inwiefern er den früheren Traditionen treu blieb oder inwieweit er mit ihnen brach: Zunächst sind nur geringe Fragmente dieser Traditionen erhalten; sodann sind Euripides’ Tragödien über den Mythos von Athamas auch nur sehr fragmentarisch überliefert. In der vorliegenden Arbeit versuche ich eine Rekonstruktion dieses Binoms.
Innerhalb dieses Spiels von Treue und Erneuerung durch Euripides ist der springende Punkt die Beziehung zu Aischylos. Wie Aélion1 bestätigt, ist die Gegenüberstellung von Sophokles und Euripides sehr viel schwieriger zu begründen. Nach Aristophanes’ Die Frösche wurden Aischylos und Euripides seit der Antike einander entgegengesetzt; dies führte zur Behauptung, dass Euripides Aischylos gewissermaßen ‚korrigierte‘. Wenn Euripides aber, der Aischylos’ Werke sehr gut kannte, eine Tragödie seines Vorgängers mit Änderungen sogar nachbildete, will das heißen, dass er sich in gewissem Sinne im Einklang mit ihm fühlte. Aélion behauptet ausdrücklich, „Euripide n’est ni celui qui s’oppose à Eschyle et le critique ou le corrige, ni celui qui recommence Eschyle (instaurator, selon le terme de O. Krausse)“2. Wenn Euripides eine Darstellung umarbeitete, geschah das in der Absicht, sich dem Zeitgeschmack anzupassen. Meiner Meinung nach gilt er also als ein treuer Neuerer.
Interessant ist Aélions Überlegung zu der Frage, ob Euripides die mythische Tradition verfälschte oder sich von ihr trennte: „Quand un poète tragique choissait de porter au théâtre un récit mythique et d’en faire le sujet d’une tragédie, il n’était pas complètement libre: … [Il y avait] une tradition commune à tous les Grecs, qui représentait sans doute pour eux l’histoire de leur passé“3. Oft hat man den Eindruck, dass Euripides seine poetischen Ausarbeitungen von Grund auf neu begonnen hat, als ob er keine Grundlage gehabt hätte oder nichts aus der vorhergehenden literarischen Überlieferung und Volkstradition übernehmen wollte. Es stimmt, dass die libertas poetae besteht, und dass er im Rahmen der Tradition zweifellos eine bedeutende Variante einrichten konnte; die Abweichungen wurden aber m.E. immer motiviert und waren mehrmals auf eine entweder wenig bekannte oder lokale Tradition zurückzuführen; es wäre auch möglich, dass sich seine Variante mit diesen kleinen, sekundären Überlieferungen verbinden ließ. Einige Angaben sind ganz sicher bloße Erfindungen von Euripides, aber diese Tatsache konnte m.W. nicht den Kern des Mythos berühren.
Aélion teilt Euripides’ Werke thematisch ein, wie viele andere4 es früher auch versucht haben; es ist diesbezüglich interessant, was sie über die Verbreitung des Mythos von Athamas schreibt: „Nous plaçons parmi ces légendes thessaliennes le mythe d’Athamas, InoIno et Phrixos, parce qu’Athamas est petit-fils d’Hellen et fils d’Eole, qui régnèrent en Thessalie, et parce que certaines versions le placent lui-même en Thessalie“5. Sie erkennt jedoch, dass diese Wahl große Schwierigkeiten mit sich bringt: Athamas herrschte auch in OrchomenosOrchomenos, so dass er ebenso in der böotischen Tradition begriffen werden kann; durch InoIno wiederum kann er auch mit den mit ThebenTheben verbundenen dionysischen Mythen in Zusammenhang gebracht werden. Schwach ist m.E. der Grund für die Ausschließung dieser zwei Optionen: „Si nous avons, non sans hésitation, opté pour la « solution thessalienne », c’est que ce mythe forme un tout en lui-même et que ses liens avec Thèbes ou la Béotie et même avec DionysosDionysos sont lâches“6. Wichtiger ist meiner Meinung nach die Gliederung der drei unserem Mythos gewidmeten Werke entsprechend der Zeit ihrer Verfassung. Beide Phrixos gehören zu dem zweiten Zeitraum, zu dem der ‚semi-strengen‘ Metrik (427–417? n. Chr.); Ino aber zum dritten Zeitraum, zu dem der ‚freien‘ Metrik (416?-409 n. Chr.).
In diesem Buch werden nur die Passagen der erhaltenen Tragödien und eine allgemeine Analyse der drei fragmentarisch überlieferten Werke präsentiert, ohne eine ausführliche Untersuchung jedes Fragments.
III.1 Medea
In der berühmten Tragödie Medea (1283–1289) deutet Euripides Inos SprungSprung von den Klippe an. Diese Version unterscheidet sich grundlegend von der, welche von der Mehrheit der Quellen über dieses Ereignis präsentiert werden. Wilamowitz merkt an, was der Grund dieser Darstellung sein könnte: „Euripides Med. 1284; dabei springt sie mit beiden Kindern in das MeerMeer, wohl nur, weil Medea zwei Kinder morden wird“1. Euripides bringt Ino ins Spiel, weil er sie als Muster seiner Medea verwendet: KadmosKadmos’ Tochter tötet ebenso ihre Nachkommen, wie Ino einst ihre zwei Kinder umgebracht hat; dieses Thema aber wird etwas später analysiert. Wilamowitz’ Begründung klingt m.E. sehr vernünftig.
Der Kontext ist folgender: Der Chor der Frauen aus KorinthKorinth fleht Erde und Sonne an, dass Medea ihre verbrecherische Absicht nicht durchführe; das Schreien der Kinder verrät das tragische Geschehen; nun suchen die Frauen einen Präzendenzfall für eine solche Missetat. Wie Newton beteuert, „tragic choruses frequently allude to exempla when acts of violence occur, or are about to occur, in a play“2. Das Ziel dieser exempla ist, den dramatischen Ton der Szene zu mildern und den Zuhörern eine Verbindung zwischen der Gegenwart und dem, was früher einmal zwischen Menschen geschehen ist, zu ziehen. Mit einem Wort: Man versucht das Grauen des Erlebnisses abzuschwächen, indem die vorherigen exempla angerufen werden3. Der Text wird auf den folgenden Seiten analysiert, aber nur unter dem Gesichtspunkt, der zum Verständnis des Mythos von Athamas beiträgt.








