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Seit gestern Nacht zermarterte er sich sein Gehirn. Wie war es nur möglich gewesen, dass er mit seiner Bewerbung nicht zum Zug gekommen war? Für eine Position wie maßgeschneidert für ihn. Generalsekretär des Innenministeriums. Also die klare Nummer Zwei. De facto eigentlich die Nummer Eins. Weil sich der Minister ja nie um operative Angelegenheiten kümmerte. Mit sieben Sektionschefs als Untergebenen. Selbstverständlich mit einer speziell für ihn entworfenen Uniform. Er sah an sich hinunter. Wie er seine jetzige Arbeitskleidung hasste, mit der er sich von seinen Amtskollegen aus den anderen Bundesländern nicht unterscheiden konnte. Nicht einmal von denen aus Vorarlberg oder dem Burgenland. Dabei waren diese Bundesländer gerade einmal so groß wie ein einziger politischer Bezirk in Niederösterreich.
Der Landeshauptmann salbaderte dahin. Von der Präsenz der Polizei, die dem Volk Sicherheit vermitteln würde. Er galt wohl nur deshalb als guter Redner, weil alle anderen Politiker noch ermüdender redeten. Müde. Das war der Punkt. Diese ganze Sache machte ihn unendlich müde. Wahrscheinlich war er einer läppischen Intrige zum Opfer gefallen. Wenn er nur dahinterkommen würde, wer warum welches Gift in das Ohr des Innenministers geträufelt hatte, würde er gegensteuern können. Information war der Schlüssel zum Erfolg. Früher war er im Zentrum des Informationsflusses gesessen. Aber jetzt, jetzt saß er in Gföhl, in St. Pölten, oder sonst irgendwo im niederen Österreich, abseits der wichtigen Kanäle, abseits der Büros der Macht. Was für ein leichtgläubiger Mensch sein früherer Chef doch war. Immer auf die Person hörend, die sein Büro als letztes betreten hatte. Gerade deshalb hätte der Minister ihn als Generalsekretär so dringend gebraucht: weil er ein untrügliches Gespür für Intrigen hatte. Wie fein gesponnen sie auch immer sein mochten. Dabei half ihm seine überragende Menschenkenntnis. Als Leiter des Ministerbüros war er im ganzen Ministerium für diese Menschenkenntnis berühmt und gefürchtet gewesen. Der Minister mochte ja über eine Reihe von Qualitäten verfügen, aber Menschenkenntnis gehörte sicher nicht dazu.
Applaus. Applaus. Offensichtlich war der Landeshauptmann mit seiner Rede am Ende. Wenigstens etwas. Der Marsch, den die Kapelle jetzt intonierte, kam ihm irgendwie bekannt vor. Diese Amateurmusikanten spielten doch immer dasselbe. Und der Landeshauptmann griff zum Taktstock. Der war sich auch für nichts zu blöd. Naja. Jetzt noch schnell ein bis zwei Gläser Wein, dann Händeschütteln mit den Ehrengästen und ab nach Hause.
Morgen beim Frühstück musste er seiner Britta endlich reinen Wein einschenken. War ohnehin eine schauspielerische Meisterleistung von ihm gewesen, beim gestrigen Abendessen so zu tun, als könnte er den Anruf des Ministers gar nicht mehr erwarten. Mit der Nachricht, die sie wahrscheinlich noch schlimmer treffen würde als ihn selbst, konnte er nicht länger hinterm Berg halten. Sonst würden ihm die Buschtrommeln womöglich zuvorkommen. Britta hasste dieses Niederösterreich noch mehr als er. Und überhaupt St. Pölten. In seiner Bedeutungslosigkeit höchstens von Eisenstadt übertroffen.
Ihre Wiener Arroganz würde er nie verstehen. Schließlich hatte sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens in einer Genossenschaftswohnung in Liesing gewohnt. Auch nicht besser als St. Pölten. Aber sie tat immer so, als wäre sie in einer hochnoblen Cottage-Villa in Hietzing oder Grinzing aufgewachsen. Eines aber musste er ihr lassen: Wenn es darauf ankam, hatte sie einen geradezu sagenhaften Instinkt. Vielleicht konnte sie ihm helfen. Vielleicht konnte sie erraten, über welche Intrige er zu stolpern drohte.
Als er von seinem Sessel aufstand, fiel sein Blick auf das von der Sonne angestrahlte blonde Haar seiner Sitznachbarin. Die Frau Landtagsabgeordnete hätte ein gutes Model für eine Shampoo-Werbung abgegeben. Ihr Haar war beinahe so perfekt wie das von… Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Um Himmels willen! Das Model! Der Polizeiball vor zwei Monaten. Konnte der schuld an der Katastrophe sein? Britta war damals jedenfalls richtig wütend auf ihn gewesen.
Er hatte damals den Auftrag gegeben, den Polizeiball wieder zum Höhepunkt der Saison zu machen. Über die letzten Jahre war diese einst leuchtende Rose im St.Pöltner Ballkalender zu einem mickrigen Mauerblümchen verkümmert. Da galt es, keine Kosten und Mühen zu scheuen. Einem Mitglied des Organisationskomitees war die Idee gekommen, ein in Deutschland sehr bekanntes Erotik-Model für die Mitternachtseinlage zu engagieren. Das hatte ihm gefallen. Sozusagen als Kampfansage gegen den St. Pöltner Mief. Und gegen den niederösterreichischen gleich dazu. Die Lady war auch ein voller Erfolg gewesen. Bei den Medien schon im Vorfeld. Vor Ort bei den Herren aller Altersgruppen. Und auch bei den Damen, zumindest bei den jungen. Sowohl der Landeshauptmann als auch der Minister, die stark akklamierten Ehrengäste des Balls, hatten während der Vorstellung Stielaugen. Daher war er sehr zufrieden gewesen. Anders als seine Britta hatte er allerdings die Ehefrauen der beiden Politiker nicht beobachtet. Auf der Heimfahrt vom Ball war sie dann fuchsteufelswild gewesen. Warum hatte er nicht dafür gesorgt, dass die Damen der beiden hohen Herren während der Mitternachtseinlage weggelotst wurden? Ins Spielcasino im ersten Stock oder sonst wohin, wo sie die gierigen Blicke der Ehemänner nicht aus nächster Nähe mit ansehen mussten. Diese Dummheit würde ihm noch auf den Kopf fallen, hatte ihm seine Britta prophezeit. Denn der Landeshauptmann und der Minister würden ihn dafür verantwortlich machen, wenn bei ihnen der Haussegen wegen des tanzenden Models schief hing.
Er spürte Schweiß auf seiner Stirn. Zwar konnte er nicht hundertprozentig sicher sein, ob er die Verhinderung seiner Beförderung wirklich zwei spießigen Ehefrauen zu verdanken hatte. Aber er wusste aus vielen Erlebnissen, dass der Minister unter dem Pantoffel seiner Frau nicht nur stand, sondern geradezu darunter verschwand. Britta würde in diesem Faktum ganz sicher die Ursache der Misere sehen. Und er musste zugeben, dass ihr Instinkt sie wirklich selten trog.
Er blickte auf sein Handy, das er zu Beginn der Zeremonie auf lautlos gestellt hatte. Eine neue Nachricht: »Der Minister möchte Sie sehen. Bitte um Anruf Montag Früh.« Sein Herz machte einen Sprung. Sein ehemaliger Chef würde ihn nie zu sich bestellen, um ihm eine negative Nachricht zu geben. Dazu war er viel zu feig. Hatte er es sich doch anders überlegt?
Freitag, 16. April 17 Uhr 20
Zwar war es noch hell, aber die Sonne war bereits hinter den Hügeln verschwunden. Wegen den dunkel getönten Scheiben seines Wagens war von außen wohl höchstens schemenhaft zu erkennen, dass er mit dem Fernglas das Wasser absuchte. Kein anderes Auto stand auf diesem kleinen Parkplatz am Ufer. Hier war er schon oft allein gewesen. Meistens, um keine hundert Meter weiter stromaufwärts in die Donau zu steigen und sich bis Krems treiben zu lassen. Unter der Mauterner Brücke durch, wobei er dabei immer darauf versessen war, ganz nah an einen Brückenpfeiler heranzuschwimmen. Um sich seinen Mut zu beweisen. Schon als Zwölfjähriger hatte er begonnen, hart zu trainieren. Gern wäre er ein sehr schneller Schwimmer geworden. Aber andere waren noch schneller. Auch, weil er erst spät gewachsen war. Bis zum Ende der Schulzeit war er kleiner gewesen als seine Altersgenossen. Wenigstens hatte die Ausbildung zum Rettungsschwimmer geklappt.
Jetzt saß er nicht an diesem Platz, um in die Donau zu springen und sich neuerlich seinen Mut zu beweisen. Dazu hätte er heute einen Neoprenanzug gebraucht. Die Temperatur des Wassers schätzte er wegen des langen Winters auf maximal neun Grad.
Heute hatte seine Anwesenheit hier einen anderen Grund. Er zitterte. Obwohl es in seinem Auto sehr warm war. Er zitterte, weil er Angst hatte, sein Plan würde schon im ersten Anlauf scheitern. Dieses Zittern kannte er von früher. Fühlte sich ganz anders an als ein Frösteln, das ihm selbstverständlich ebenfalls vertraut war. Er fröstelte, wenn ihm kalt war. Er zitterte, wenn er Angst vor Misserfolg hatte.
Durch sein Fernglas blickte er über die Donau, hinüber zur Terrasse des Schlosshotels Dürnstein. Recht voll für Mitte April. Den Menschen schien die Kühle, die vom Fluss aufstieg, nichts auszumachen. Ein Paar an der Brüstung machte immer wieder schwungvolle Bewegungen mit den Armen. Offenbar warfen die beiden ein paar frechen Spatzen Krümel von ihrer Mehlspeise zu. Weiter oben erblickte er eine Gruppe von Leuten, die den steilen Weg von der Ruine herabstiegen. Durch das Fernglas alles gut zu erkennen. Aber auf der Donau selbst regte sich nichts.
Er war froh, im Auto sitzen zu können. Seit seiner Kindheit reagierte er äußerst empfindlich auf Kälte. Sehr robust war man in seiner Familie ja seit Generationen nicht gewesen. Sein Vater war schon im Alter von achtundfünfzig Jahren gestorben. Und seine Mutter mit vierundsechzig. Und sein Bruder sogar schon mit vierzehn.
In letzter Zeit hatte er sich öfter bei der Frage ertappt, wie lange er wohl selbst noch leben würde. Nicht, dass ihn ein frühes Ende übermäßig gestört hätte. So toll war sein bisheriges Leben ja nicht gewesen. Viel stärker als die mögliche Dauer seines Lebens hatte ihn seit vielen Jahren die Frage beschäftigt, warum ihm von seinen Eltern nicht die Gene, die er für ein erfolgreiches Leben hätte brauchen können, in die Wiege gelegt worden waren. Er hatte Erfolgsmenschen in seinem Umfeld über Jahre studiert. Fast alle waren intelligent, zum Teil sogar hochintelligent. Es war ein Lügenmärchen, dass Erfolg im Beruf auch ohne Intelligenz zu haben war. Aber daran allein konnte es nicht liegen. Er selbst hatte ja schon als Schüler als begabt gegolten. Nicht ganz so talentiert wie sein verstorbener Bruder, aber immerhin. Seinen Beobachtungen zufolge hatten Erfolgsmenschen ihm bestimmte Eigenschaften voraus: Sie hatten wesentlich kräftigere Ellbogen, die sie nicht nur benutzten, um sich vorzudrängen. Sie rammten damit auch ohne Hemmungen alle beiseite, die ihnen im Weg standen. Sie waren berechnender und ohne Mitgefühl. Schlossen nur Freundschaft mit Menschen, von denen sie sich etwas versprachen. Und logen, ohne rot zu werden, wenn die Lüge ihren Interessen diente. Manchmal fragte er sich, ob er diese Fähigkeiten insgeheim auch alle gern gehabt hätte. Kleinere Anläufe in diese Richtung hatte er zweifellos unternommen. Aber letztlich fehlte ihm dann doch die Härte. Im letzten Moment hatte er immer zurückgezuckt. Ob er diesmal auch zurückzucken würde? Nein. Diesmal nicht. Er war fest entschlossen. Er musste es tun.
Ungeduldig ließ er sein Fernglas über die Donau schweifen. Das Motorboot, auf das er wartete, würde er schon von Weitem sehen können. Ein ganz bestimmtes Motorboot. Wahrscheinlich würde es von Krems heraufkommen. Von dort, wo die vollbesetzte MS Wachau auf ihrer Fahrt zu ihrer Endstation schon vor einiger Zeit verschwunden war. Auf die MS Wachau hatte er die größten Hoffnungen gesetzt. Sein ganzes Timing war darauf ausgerichtet, dass ein Passagier oder sonst wer auf dem Schiff Alarm schlug.
Seine zweite Hoffnung waren die Paddler. Immer wieder kamen ein paar kleine Boote in gemächlichem Tempo an ihm vorbei. Es war ein schöner Tag gewesen. Da gab es auch unter der Woche immer ein paar Paddler, die sich mehr oder weniger treiben ließen. Am Wochenende würde sich deren Zahl sicher verzehnfachen. Vielleicht hätte er zur Sicherheit bis zum Wochenende warten sollen. Die Leute schauten ja eher in die Gegend oder in die Luft, als dass sie einen Blick auf die Wasseroberfläche warfen.
Das Motorboot kam einfach nicht daher. Vor mittlerweile drei Stunden hatte er sie der Donau übergeben. Enttäuschend war das. Aber er war noch nicht deprimiert. Spätestens bei der Staustufe in Altenwörth würde irgendjemand auf sie aufmerksam werden. Das war sein Plan B. Allerdings konnte es immer noch sein, dass sie doch am Ufer hängengeblieben war. Obwohl sie sich zunächst wie geplant Richtung Strommitte bewegt hatte.
Er schaute mit dem Fernglas Richtung Mauterner Brücke. Da sah er es. Das Boot. Endlich. Größer als die meisten Motorboote, die die Donau befuhren. Unverkennbar nicht nur an der silbergrau-blauen Lackierung, sondern auch an der rot-weiß-roten Fahne, die am Heck flatterte. Noch konnte er sich aber nicht sicher sein. Hätte ja auch eine Routinefahrt der Polizei sein können.
Keine zwei Minuten später war er sicher. Das Boot fuhr nicht in direkter Linie stromaufwärts, sondern in einem Zickzack-Kurs. Als würden die Personen an Bord nach etwas Ausschau halten. Er wollte gar nicht weiter warten. Was er sah, reichte ihm.
Das Zittern hörte mit einem Schlag auf. Die ersten beiden Schritte seines Plans hatten funktioniert. Er ermahnte sich, deswegen nicht übermütig zu werden. Diese Schritte waren eine vergleichsweise leichte Übung. Der nächste würde ihm viel schwerer fallen. Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust startete er sein Auto.
Freitag, 16. April 17 Uhr 30
Die Größe des Kunststücks, gleichzeitig das Boot zu steuern und die Wasseroberfläche mit dem Fernglas abzusuchen, hatte er zugegebenermaßen etwas unterschätzt. Das war sogar für einen Felix Frisch eine Herausforderung. Noch dazu im Zwielicht des späten Nachmittags. Es herrschte ja beinahe schon Dämmerung. Vielleicht hätte er seinen jungen Kollegen doch nicht wegschicken sollen. Aber er hatte eben ein weiches Herz und wollte für die jungen Kollegen ein leuchtendes Vorbild in Sachen Kameradschaft sein. Gerade als sie beide das schnittige Polizeiboot besteigen wollten, hatte der Kollege den Anruf von seiner Frau bekommen. Der kleine Sohn hätte hohes Fieber und würde ständig nach seinem Vater rufen. Da musste er den Kollegen doch drängen, sich schleunigst auf den Weg nach Hause zu machen. Die Donau abzusuchen würde er auch allein schaffen.
Schaffte er ja auch. Ein gestandenes Mannsbild wie er war sogar diesem schwierigen Auftrag gewachsen. Spezialauftrag von der Mordkommission. Die Donau zwischen Krems und Dürnstein sollten sie nach einer angeblichen Leiche absuchen. Oder einem Gegenstand, der wie eine Leiche aussah.
Irgendetwas musste da wohl im Wasser sein. Das sollte er finden. Also fuhr er im Zickzack stromaufwärts. Die Donau kannte er in diesem Abschnitt mittlerweile wie seine Westentasche. Vielleicht war es gut, dass er diesen Auftrag alleine erledigte. In letzter Zeit fehlten ihm sowohl die Herausforderungen als auch die Erfolgserlebnisse. Wenn da irgendwo doch eine Leiche schwamm, dann war er jedenfalls der Richtige, um sie zu bergen. Dazu brauchte es schon einen Mann mit seiner Erfahrung.
Vor einem knappen Jahr war er endlich vom Revierinspektor zum Gruppeninspektor befördert worden. Ohne dass ihm die Beförderung Freude bereitet hätte. Es hatte schon mit der Beförderungszeremonie begonnen. Die war gar nicht nach seinem Geschmack verlaufen. Er musste ja zugeben, dass es bei der Kremser Polizei nicht üblich war, dass bei solchen Anlässen der niederösterreichische Polizeidirektor oder zumindest ein Kremser Vizebürgermeister persönlich anwesend waren. Aber in seinem speziellen Fall wäre das schon gerechtfertigt gewesen. Welcher zukünftige Gruppeninspektor konnte schon von sich behaupten, einen so großen Beitrag nicht nur zur Aufklärung eines Mordes, sondern einer ganzen Mordserie geleistet zu haben. Gott sei Dank hatte wenigstens seine Elfriede für die Feier eine Torte gebacken. Die ließen sich natürlich alle gut munden. Sogar eine Kaffeemaschine hatte seine Frau mitgebracht, weil der Kaffee aus dem Automaten wie Abwaschwasser schmeckte. Im Torte-Essen waren alle ganz groß. Aber keiner der Kollegen erwähnte seine großartigen Ermittlungsleistungen auch nur mit einem Wort. Bei diesem einen Wort hätte er ihnen sogar einen mit Torte vollgestopften Mund nachgesehen.
Die Stimmung ihm gegenüber war auch in den folgenden Wochen und Monaten nicht besser geworden. Deshalb hatte er im Herbst den Antrag gestellt, zur Dienststelle Mautern, die im Abschnitt Wachau auch für die Strompolizei zuständig war, versetzt zu werden. Der Antrag war innerhalb von zwei Wochen bewilligt worden. Offensichtlich deshalb so schnell, weil die Kollegen in Mautern einen Mann mit seiner Erfahrung dringend brauchten. Zum Unterschied von Krems hatte der Postenkommandant von Mautern wohl keine Angst vor einem neuen Star in der Mannschaft. Natürlich war ihm die Prüfung für den Bootsführerschein nicht erspart geblieben. Für einen Mann seiner Klasse nur eine kleine Hürde, die er schon im zweiten Anlauf bewältigte.
So ein Polizeiboot war schon ein beachtliches Gerät. Ein Motor, bei dem jedes Motorrad vor Neid erblassen konnte. Pferdestärken ohne Ende. Diese Pferdestärken mit der linken Hand zu bändigen, während er mit der rechten das Fernglas hielt und den Adlerblick über den Strom gleiten ließ, das machte ihm so schnell keiner nach. Geschmeidig um die Kurve. Nur nicht zu nahe ans Ufer. Bei der ersten Boots-Prüfung war er knapper an die Ufersteine herangefahren. Der Prüfer hatte einfach die Nerven verloren.
Aber Moment einmal. Das war doch… Schlagartig bekam er eine Gänsehaut. Das musste es sein. Motor drosseln. Beidrehen. Geschmeidig beidrehen. Motor abstellen. Verdammt! Wo war das Biest jetzt? Ah, da tauchte es wieder auf. An der Längsseite des Boots war der lange Stock mit dem Enterhaken an der Spitze befestigt. Den nahm er zur Hand. Nur nicht zu weit vorbeugen. Nur nicht ins Wasser fallen. Er musste noch etwas näher heran. Zum Glück trieb dieses Ding in seine Richtung. Der Kopf sah tatsächlich eingeschlagen aus. Noch ein kleines Stück. Nein. Leiche war das keine. Es war eine ordinäre Schaufensterpuppe. Aus Holz. Mit eingerissenem Kopf und bekleidet mit einem dunkelblauen Trainingsanzug. Schöner Anzug. Er lächelte. Diese Suchaktion würde für ihn noch einen sehr befriedigenden Abschluss bringen. Sein eigener Trainingsanzug war ja doch schon sehr alt. An den Knien und an der Sitzfläche bereits mehr als fadenscheinig. Ein kurzer Blick auf die Puppe genügte, um zu erfassen, dass der Trainingsanzug so gut wie neu war. Konnte er feststellen, obwohl der Anzug klitschnass war. Da bewährte es sich wieder einmal, dass er immer gut darin gewesen war, zwei und zwei zusammenzuzählen und auch aus komplizierten Sachverhalten einfache Schlüsse zu ziehen.
Nach zwei vergeblichen Anläufen hatte er die Puppe endlich an Bord. Das Ding war sauschwer und das Wasser saukalt. Er musste darauf achten, mit dem Enterhaken nicht den Anzug aufzureißen. Aber es war die Mühe wert. Sowohl Oberteil als auch Hose waren wie neu. Noch am Boot rief er bei der Mordkommission an und berichtete, dass es sich bei dem Fund nur um eine alte Schaufensterpuppe handelte.
Ebenfalls noch am Boot entkleidete er die Puppe. Den Trainingsanzug drückte er aus, so gut es ging, und rollte ihn zu einem Bündel zusammen.
Den Hafen verließ er mit dem Bündel in der einen Hand. Mit dem anderen Arm umfasste er die Puppe und schleifte sie mehr oder weniger neben sich her. Schließlich konnte er das Ding nicht einfach am Boot oder im Polizeihafen herumliegen lassen. Leider war niemand da, der ihm zur Hand gehen konnte.
Verschwitzt kam er bei seinem roten Skoda Octavia an und verfrachtete das Ding in den Kofferraum. Später würde er die Puppe in einen Müllcontainer werfen, der in der Nähe seiner Wohnung aufgestellt war. Aber vorher würde er dem nassen Trainingsanzug noch eine schnelle Handwäsche im Waschbecken besorgen und ihn zum Trocknen aufhängen. Er konnte es kaum erwarten, seine Beute anzuprobieren. Seine Elfriede würde Augen machen.
Freitag, 16. April 19 Uhr 30
In Gföhl war sie so lange wie möglich an der Seite des Landeshauptmanns gestanden und hatte mit den Leuten geredet. Sie fand, dass sie ihn gut ergänzt hatte. Und umgekehrt. Von ihm konnte sie viel lernen. Ganz besonders mochte sie es, wenn er seine große Hand väterlich auf ihre Schulter legte und sie vorstellte: Katharina Krenn, unsere Sicherheitssprecherin. Das kam bei den Leuten gut an.
Von Gföhl war sie direkt nach Weißenkirchen gefahren. Als sie den Bahnübergang kurz vor der Ortseinfahrt überquerte, warf sie einen Blick auf die Uhr über dem Tachometer. Sie war zu früh dran. Der Beginn der Veranstaltung war für 19 Uhr 30 angesetzt. Jetzt war es 19 Uhr 30. So etwas war ihr zu Beginn ihrer politischen Karriere fast immer passiert. In letzter Zeit immer seltener. Bei der richtigen Inszenierung eines Auftritts war die Zeit ein entscheidender Faktor. Sie hatte vom Landeshauptmann gelernt, dass ein Politiker nie pünktlich sein durfte. Erstens würden die Leute sonst glauben, dass Politiker nichts zu tun hätten. Zweitens müsse unter den Wartenden eine gewisse Ungeduld oder sogar Unruhe geschürt werden, um schon das Erscheinen der Hauptperson zu einem wesentlichen Teil des nachfolgenden Erlösungsrituals zu machen. Sie wusste allerdings auch, dass es für ihn als Spitzenpolitiker eine deutlich höhere Verspätungstoleranz gab als für sie als einfache Landtagsabgeordnete. Sie beschloss daher, nur fünfzehn Minuten an der Ortseinfahrt zu parken.
Heute Abend hatte die Weißenkirchener ÖVP zu einer Veranstaltung geladen. Die Schwarzen waren in der traditionsreichen Weinbaugemeinde immer die Platzhirsche gewesen. Sie waren die einzige Partei, die es sich leisten konnte, außerhalb von Wahlzeiten Parteiveranstaltungen abzuhalten. Ursprünglich hatte der Ortsparteiobmann den Landeshauptmann höchstpersönlich wegen des politischen Referats angefragt. War aber von dessen Büro abschlägig beschieden worden. Terminkollision. Daher war sie zum Zug gekommen.
Pünktlich, mit der ihr angemessenen Verspätung, startete sie ihren Wagen und fuhr zum »Holzer«. Dieses Gasthaus war in Weißenkirchen eine Institution. Seit neun Generationen im Besitz der Familie. Sie war seit drei Jahren im Landtag und kannte daher fast alle Ortsparteiobmänner und -obfrauen ihres Wahlkreises. Auch den vor dem Lokal wartenden Weißenkirchener Obmann Hans Wiesner.
Mit einem deutlichen Handzeichen signalisierte er ihr, ihren Wagen in die geöffnete Hofeinfahrt zu lenken. Ein kleines Schild aus Stuck, ursprünglich weiß, aber nie gereinigt, prangte über der Hofeinfahrt. Mit einer in abgeblättertem Gold eingravierten Jahreszahl: 1738. Die Holzers waren nicht nur Wirtsleute, sondern auch Weinbauern. Im zweiten Beruf nicht ganz so bekannt wie im ersten. Ihre Veltliner und Rieslinge waren durchaus gut zu trinken, aber in den großen nationalen oder gar internationalen Wein-Führern waren sie nicht zu finden.
Nach einer kurzen Begrüßung mit einem zaghaften Kuss auf beide Wangen führte der Obmann sie hinein. Das Gasthaus hatte neben der Schankstube einen großen Saal. Dessen Decke war gemessen an der Größe zu niedrig, sodass der Raum etwas Bedrückendes ausstrahlte. Bis zu 120 Leute fanden hier Platz. Normalerweise wurde so viel Platz in Weißenkirchen nur in der Faschingszeit gebraucht. Beim Feuerwehrball etwa, oder beim Pfarrball. Da musste allerdings ein großer Teil der Ballbesucher in der Schankstube Platz nehmen, weil der Saal für die Kapelle und die Tanzfläche reserviert war. Den Pfarrball gab es schon lang nicht mehr. Ebenso wenig wie das Kindergschnas. Früher ein Fixpunkt im Weißenkirchener Veranstaltungskalender. Jetzt wurde der Saal in erster Linie für Hochzeiten verwendet. Bei geschickter Anordnung der Tische sah der Saal auch mit deutlich weniger Gästen ziemlich voll aus. So auch an diesem Abend.
Katharina hatte sich schon früh angewöhnt, bei ihren Auftritten die Zahl der Besucher zu schätzen. Weil sie daraus auf die organisatorische Schlagkraft der örtlichen Parteileitung schließen konnte. Aber natürlich auch, weil die Besucherzahl ein höchst brauchbares Indiz für ihre eigene Zugkraft darstellte. Zirka sechzig Personen. Gar nicht schlecht.
Dass der Publikumsandrang auch ihr zu verdanken war, bemerkte sie am deutlichen Überhang der männlichen Besucher, die auch einen stärkeren Beitrag zum insgesamt sehr freundlichen Begrüßungsapplaus leisteten als die anwesenden Damen. Das kannte sie schon von anderen Veranstaltungen. Bei der Wahl ihrer Garderobe legte sie stets Wert darauf, Frauen, die von der Natur nicht mit denselben Vorzügen ausgestattet worden waren wie sie selbst, nicht vor den Kopf zu stoßen. Deshalb schminkte sie sich bei solchen Gelegenheiten auch ausgesucht dezent. Trotzdem wusste sie, dass viele ihrer Geschlechtsgenossinnen mit ihr bei der ersten Begegnung ein Problem hatten. Sie hatte aber auch die Erfahrung gemacht, dass sie solche Vorbehalte mit ihrer Rede nach wenigen Minuten zum Schwinden bringen konnte.