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Ihre langjährige Sitznachbarin erhob sich und nickte ihr zu. Josefa verabschiedete sie mit einem huldvollen und, wie sie innerlich hoffte, durchaus nachsichtigen Lächeln. Wie immer hatte die Gute die Messlieder mit einer Hingabe gesungen, die in einem krassen Gegensatz zu ihrer Fähigkeit stand, die richtigen Töne zu treffen. Josefa hatte sie deswegen auch schon mehr als ein dutzendmal angesprochen und ihr dringend empfohlen, entweder nicht mitzusingen oder sich in eine der hinteren Bankreihen, die bei der Frühmesse ohnehin alle leer waren, zu bequemen. Aber da hätte sie auch gegen eine Wand reden können. Die Sängerin war Gemeinderätin in Dürnstein. Aber, dem Herrn sei Dank, keine schwarze. Die fehlenden Sangeskünste waren für Josefa Machherndl ein weiterer Beweis für die bemitleidenswert dünne Personaldecke der Roten. Sie ermahnte sich aber immer, nicht zu streng zu sein. Wenigstens ging die Frau in die Kirche, was bei dieser Gottesleugner-Partei ein Wunder war. Ihr Religionslehrer hatte den Schülern seinerzeit erzählt, dass die Evangelischen nur einen Stehplatz im Himmel bekommen würden. Die Sozialisten sicher ebenso. Aber auch nur dann, wenn sie regelmäßig in die Kirche gingen.
Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie immer die sonntägliche Frühmesse in Dürnstein besucht. Als Kind gemeinsam mit ihren Eltern. Damals hatte es ja einen guten Grund dafür gegeben. Weil man vor dem Empfang der heiligen Kommunion, was bei den Machherndls zum sonntäglichen Pflichtprogramm gehörte, nüchtern sein musste.
Diese sonntägliche Routine hatte sie bis heute beibehalten. Sowohl die Frühmesse als auch die Nüchternheit. Obwohl es heutzutage erlaubt war, vor der Kommunion zu frühstücken. Die Menschen taten das ohne die geringsten Gewissensbisse. Ihrer Meinung nach war das einer der Gründe, warum es mit der Kirche bergab ging. »Ein Glaube ohne Selbstdisziplin ist nichts wert.« Das hatte ihr und ihren Mitschülern vor mehr als fünfzig Jahren ihr damaliger Religionslehrer immer wieder gesagt. Nicht nur gesagt hatte es der Herr Monsignore, sondern richtig eingebläut hatte er es ihnen. Wenn es sein musste, mit einer Ohrfeige. Je älter sie wurde, umso überzeugter war sie von der Richtigkeit seines Grundsatzes. Für seine strenge Hand würde sie ewig dankbar sein.
In Erinnerung an den hochverehrten Herrn Monsignore hatte sie vor dem heutigen Kirchgang nicht nur auf ein Frühstück, sondern auch auf das morgendliche Gläschen Schnaps verzichtet. Den Gusto auf den Schnaps Sonntag Früh niederzuringen, fiel ihr immer schwerer. Aber Gott, der Herr, liebte eben seine Kinder nicht nur, er prüfte sie auch.
Ihre heutige Unaufmerksamkeit in der Messe hatte allerdings nichts mit ihrem Gusto zu tun. Daran war einzig und allein das gestrige Telefonat mit der Chefin der Mordkommission schuld. Diese kurze Auseinandersetzung hatte ihr schon die Nacht versaut. Zum zweiten Mal hintereinander kaum Schlaf. Eine Schaufensterpuppe. Lächerlich. Ja, die Strompolizei hatte wohl zufällig eine Schaufensterpuppe in der Donau entdeckt. Aber deswegen die Suche abzubrechen, das war schon ein starkes Stück. Von Frau Lenhart hatte sie bis gestern recht viel gehalten. Wahrscheinlich stand Frau Lenhart unter dem unheilvollen Einfluss ihres Stellvertreters, diesem ungepflegten Ungetüm, den sie selbst längst und ohne falsche Sentimentalitäten in die Pension verabschiedet hätte. Naja, mit der Polizei ging es eben auch bergab. Zuerst die Kirche und jetzt auch die Polizei. Wo würde das alles noch hinführen? Irgendwie musste es doch möglich sein gegenzusteuern.
Da nun fast alle Menschen die Kirche verlassen hatten, stand sie ebenfalls auf. Beim Ausgang der Kirche gab sie dem Pfarrer, der zu den weichen Vertretern seiner Zunft zählte und somit Teil des Problems war, nur schweigend die Hand. Sie war nicht in der Stimmung, gute Miene zu machen, mit ihm wie sonst üblich ein paar Worte zu wechseln und seine Predigt zu loben. Sie musste etwas anderes tun, etwas wirklich Effektives, um einem Sitzplatz im Himmel näher zu kommen. In der ersten Reihe selbstverständlich.
Der barocke Innenhof des Stifts begann sich bereits mit staunenden Touristen zu füllen. Warum gingen diese Leute nicht in die Messe? Stattdessen warteten sie hier und konnten es offensichtlich kaum noch erwarten, die Kirche zu stürmen. Auch an Tagen, an denen ihre Stimmung besser war, hatte sie für diese Leute nur einen abfälligen Blick übrig. Sie war wirklich in schlechter Stimmung und wollte nur ganz schnell weg von hier. Zu ihrem Rad, das sie beim Rathaus vorschriftsmäßig an einen offiziellen Fahrradständer angekettet hatte.
Als sie den steilen, mit jahrhundertealten Kopfsteinen gepflasterten Weg von der Kirche zum Rathaus hinaufging, kam ihr ein Mann entgegen. Den kannte sie doch. In Weißenkirchen zuhause, wenn sie sich richtig erinnerte. Der war doch Redakteur beim Niederösterreichischen Tagblatt. In diesem Augenblick durchfuhr sie die Eingebung wie ein Blitz. »Dank sei Gott dem Herrn!« entfuhr es ihr laut. Diese Begegnung konnte nur der Allmächtige höchstpersönlich eingefädelt haben. Die Polizei würde sich noch wundern.
Sonntag, 18. April 9 Uhr 03
Felix Frisch war in seinem Element. Eine Leiche. Und das an einem Sonntag, an dem es normalerweise für einen Strompolizisten noch weniger Höhepunkte gab als an Wochentagen. Wahrscheinlich, weil die Leute an einem Sonntag doch friedlicher waren. Nicht so eine lächerliche Schaufensterpuppe, sondern eine richtige Leiche. Obwohl er sie noch gar nicht gesehen hatte, war er sich seiner Sache sicher. Ein Kapitän eines Schiffs war ja quasi ein Kollege. Ein Mann in Uniform. Der würde eine Schaufensterpuppe sehr wohl von einem toten Menschen unterscheiden können. Gestern schon ein Glückstag für ihn und heute schon wieder. Er hoffte natürlich, dass es kein Selbstmord war. Einen Selbstmörder oder gar eine Selbstmörderin aus dem Strom fischen zu müssen, würde nur lästigen Bürokratiekram bedeuten. Ohne Aussicht darauf, weiter oben in der Polizeihierarchie positiv aufzufallen.
Er bedauerte nur, dass er seinen heutigen Kollegen nicht wieder nach Hause schicken konnte. Einen Revierinspektor, der wohl noch lange auf seinen dritten Stern würde warten müssen. So faul und uninteressiert wie er war. Und ihm gegenüber ohne den geringsten Respekt. War ihm wohl den Rang neidig.
Beim Einsteigen in das Polizeiboot beschloss er, dem Kollegen das Steuer zu überlassen. Wenn der das Boot steuern musste, würde es ihm schwererfallen, gleichzeitig die Donau abzusuchen. Denn die Leiche zu entdecken, war sein Vorrecht als Ranghöherer. Würde sich im Bericht sicher gut machen. Eine furchtbar zugerichtete und übel verstümmelte Leiche, entdeckt von Gruppeninspektor Felix Frisch. Hoffentlich eine Frauenleiche. Machte einfach mehr her, wie er mit seinen mehr als fünfundzwanzig Jahren Polizeierfahrung wusste. Vielleicht würde er damit sogar in die Zeitung kommen.
Kaum hatten sein Kollege und er den Behörden-Hafen verlassen, brachte er auch schon sein Fernglas in Anschlag. Der Kapitän hatte die Leiche knapp vor der Mauterner Brücke gesichtet. Zeitpunkt des Anrufs: 8 Uhr 54. Vor zehn Minuten. Blitzschnell schätzte er die Strömungsgeschwindigkeit ein. Die Leiche musste schon hier vorbeigetrieben sein. Also flussabwärts. »Richtung Hollenburg. Volle Kraft voraus!« dröhnte er wie der Kapitän eines großen Kriegsschiffs im Fernsehen. Ob ein solches Kommando auch auf der Donau auf einem doch ziemlich kleinen Boot üblich war?
Sein Kollege ließ sich den Befehl jedenfalls nicht zweimal sagen. Daher war er sicher, instinktiv das Richtige getan zu haben. Was ihn auch gar nicht verblüffte. Der richtige Riecher hatte ihn ja bis jetzt immer begleitet. Musste sogar seine Elfriede zugeben. Und die war schließlich seine schärfste Kritikerin.
Wie ein Falke suchte er die Wasseroberfläche mit dem Fernglas ab. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er etwas treiben sah, das seinen Verdacht erregte. Ungefähr hundert Meter vom linken Ufer entfernt. Das hätte sein Kollege sicher übersehen, weil der nur stur geradeaus in Fahrtrichtung blickte. Nicht einmal sein Fernglas hatte der vor seinen Augen. Dem fehlte es eindeutig an Motivation.
Wenigstens gehorchte der Kollege seinem Befehl und schwenkte mit einem Manöver scharf nach links. So scharf, dass Felix Frisch fast den Halt verloren hätte. Der Gruppeninspektor war überzeugt, dass jeder andere Polizist an seiner Stelle kopfüber in die Donau gestürzt wäre. Dafür hätte er den rangniedrigeren Steuermann gleich zur Rede stellen müssen. Er wollte aber noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen. Schließlich gab es jetzt Wichtigeres zu tun.
Nachdem sein Kollege das Manöver vollendet hatte, reduzierte er die Geschwindigkeit. Offensichtlich sah er jetzt auch, was Felix Frisch schon vor einer Ewigkeit erspäht hatte. »Eindeutig ein Mann!« rief ihm der Kollege zu.
Felix Frisch hoffte bis zuletzt. Aber das Fernglas ließ dann doch keinen Zweifel mehr. Doch keine Frauenleiche. Enttäuschend.
Der Kollege stellte den Motor ab und ließ das Boot auf die Leiche zugleiten. Geschmeidig, wie Felix zugeben musste.
»Vollständig bekleidet. Das deutet auf einen Selbstmörder hin«, meinte der Kollege.
Eine weitere Enttäuschung. Felix verlor schlagartig jegliches Interesse an der Leiche. Mehr noch. Seit gestern wusste er, wie schwer es war, etwas Menschengroßes an Bord zu heben. Und eine echte Leiche war womöglich noch schwerer als eine Holzpuppe. Wozu sollten sie sich die Mühe machen, wenn sie nicht einmal zuständig waren. Der skeptische Blick des Kollegen verriet, dass der sich dasselbe dachte. Also nickte Felix ihm zu: »Da werden wir wohl die Feuerwehr verständigen müssen. Wir kriegen die Leiche sowieso nie ins Boot.« Er nahm sein Handy.
Da beugte sich sein Kollege nach vorne. »Du, wart einmal. Schau. Der Kopf.«
»Uuuuh«, entfuhr es Felix. Instinktiv zog er den Kopf ein, als er den eingeschlagenen Schädel sah.
Die Leiche trieb jetzt längsseits.
Um ein Haar hätte er sein Handy fallen lassen. So elektrisiert war er. Waschechter, astreiner Mord. Das sah er aufgrund seiner Erfahrung sofort. Was er da vor sich hatte, war ein Fall wie maßgeschneidert für ihn. Aber noch etwas hatte er da vor sich: einen schönen dunkelblauen Adidas-Trainingsanzug.
»Verstehe gar nicht, wieso der Tote nicht untergegangen ist«, murmelte der Kollege, griff zur Hakenstange und hängte sie beim Trainingsanzug über der Brust ein.
So ein grobschlächtiger Kerl. Der Anzug war hin.
»Heben wir ihn rauf oder ziehen wir ihn am Haken in den Hafen?«
Felix erfasste die Situation sofort und ging zum Steuer. »Heben ist chancenlos. Wir ziehen ihn.« Genauer gesagt würde der Kollege den Haken halten und beim Ziehen der Leiche schwitzen. Er hingegen würde das Boot steuern. Geschmeidig natürlich. Schließlich sollte der Kollege nicht ins Wasser fallen. Beim Anfahren verlor er dennoch beinahe den Halt. Felix grinste in sich hinein. Rache war süß.
Aber jetzt musste er nachdenken. Die Sache mit dem Trainingsanzug war doch irgendwie eigenartig. Die Holzpuppe gestern hatte haargenau den gleichen Anzug angehabt. Jeder normale Polizeibeamte würde das sicher für reinen Zufall halten. Aber er war ja kein normaler Polizist.
Heute beim Frühstück hatte er den Anzug schon getragen. Seine Elfriede hätte beinahe durch die Zähne gepfiffen, als er damit ins Esszimmer getreten war. Im nächsten Moment hatte sie allerdings die Stirn gerunzelt, die Arme in die Hüften gestemmt und gefragt, was der Anzug gekostet hatte.
Da hatte er gelacht und gesagt: »So wenig, dass du es nicht glauben würdest.« Mehr hatte er ihr nicht verraten. Allerdings hatte sie ihn erst in Ruhe gelassen, als er ihr geschworen hatte, dass dieser Luxusanzug kein Loch in ihr knappes Haushaltsbudget reißen würde.
Nun stellte sich die Frage: Sollte er seinen neuen Trainingsanzug als mögliches Beweismittel der Mordkommission überlassen? Auch wenn es möglicherweise reiner Zufall war und er die Kollegen damit auf eine falsche Fährte brachte? Auch wenn niemand dabeigewesen war, als er den Anzug genommen hatte? Auch wenn die Puppe genauso gut zwischen der Sichtung vor Dürnstein und seinem Eingreifen vor Mautern irgendwo hätte angespült werden können, sodass jemand anderer den Anzug hätte nehmen können? Auch wenn der Anzug von ihm und vom Donauwasser gründlich gewaschen worden war, sodass sich sicher keine Spuren mehr darauf fanden? Nein, nein und nochmal nein. Der Anzug war viel zu kostbar. Als unnützes Beweisstück würde er ja doch nur irgendwo in einem Keller der Polizeidirektion in St. Pölten verrotten. Er musste den Anzug unbedingt vor einem solchen Schicksal bewahren. Allerdings würde dabei die ganze Cleverness eines Felix Frisch gefragt sein.
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