- -
- 100%
- +
Das führte im Vorkriegsjahrzehnt immer wieder zu Spannungen und Querelen; dass die Union 1617 um ganze vier Jahre verlängert wurde, kann man als Auflösungsbeschluss mit abfedernder Gnadenfrist interpretieren. Als im Mai 1618 zwei Räte und ein Sekretär in den Burggraben des Prager Hradschin fallen (vgl. Kap. 2.1.2), wirft das erneut das alte, nie gelöste Grundsatzproblem dieses längst im Niedergang begriffenen Bündnisses auf: Soll es furchtsam die Stabilität des Reiches hegen oder aber risikofreudig darauf aus sein, den als unbefriedigend empfundenen Status quo aufzubrechen? Wir werden sehen, dass sich der pfälzische Direktor der Union an die Spitze der böhmischen Aufstandsbewegung stellt. Er lässt sich von den Sezessionisten zum neuen Böhmenkönig wählen. Viele andere Mitglieder der Union stufen das böhmische Projekt ihres Direktors als Hazardspiel ein, weshalb sie ihn nur lau unterstützen – was der Pfälzer wiederum als Verrat an der evangelischen Sache wertet. Das evangelische Lager war eben zerklüftet, reichsweit und sogar unter dem Dach der Union. Das sollten wir uns merken, weil es für den Böhmisch-Pfälzischen Krieg noch wichtig werden wird.
Konservativer Charakter der Liga
Blieben der Union eine ganze Reihe (auch und gerade großer) evangelischer Territorien fern, hat die Liga das katholische Deutschland sehr weitgehend umfasst. Sie hatte es einerseits leichter als jene Union, die ja auf Innovation drängen musste, ohne dass ein Konsens über deren Ausmaß geherrscht hätte – genügten Detailkorrekturen am Reichsgebäude, stand ein Totalumbau an? Bundeszweck der Liga war es, den überwiegend katholischen Charakter des Reiches zu konservieren.
Der Katholizismus war im Reichsverband strukturell bevorzugt: katholischer Kaiser, deshalb katholischer Reichshofrat; katholischer Reichstagsdirektor, in den beiden maßgeblichen Reichstagskurien zuverlässig Mehrheiten für katholische Positionen. (Um kurz zu erläutern: Die Geschäftsführung am Reichstag oblag ja, in seiner Eigenschaft als Erzkanzler des Reiches, dem katholischen Kurfürsten von Mainz; im konfessionell ausgewogenen Kurfürstenrat votierte Kursachsen „politice Bäpstisch“, den Fürstenrat prägte schon wegen der vielen Fürstbischöfe eine deutliche katholische Majorität.) Da das Hebelwerk der Reichsinstitutionen, so man es nur einigermaßen ungestört funktionieren ließ, regelmäßig dem Katholizismus in die Hände gearbeitet [<<39] hat, brauchten die Ligastände lediglich auf den Status quo zu pochen und von den Protestanten einzufordern, dass sie sich „gehorsam“ in die nun einmal gegebenen Strukturen einfügten.
Wer einfach den Status quo zu wahren sucht, braucht sich gemeinhin weniger Gedanken konzeptioneller Art zu machen als der, der auf Innovation drängt. Und doch litt auch die Liga alsbald unter erheblichen internen Spannungen. Es liegt am traditionell schwierigen Verhältnis zwischen den beiden führenden katholischen Dynastien, Wittelsbach und Habsburg.
Spannungen zwischen Wittelsbach und Habsburg
Die Wittelsbacher fuhren seit Langem gut mit einem Kurs wohl kalkulierter, freundlicher Distanz zu Habsburg. Man hielt in allen konfessionspolitischen Fragen zur Kaiserdynastie, profilierte sich aber zugleich als Bollwerk „teutscher Libertät“. „Teutsche Libertät“ – diese in damaligen Akten überaus häufige Parole besagt, wörtlich in heutiges Deutsch übertragen: „deutsche Freiheit“ (lat. libertas = Freiheit). Mit unserem modernen Freiheitsbegriff hat der Slogan aber wenig gemein, „Libertät“ meinte nicht individuelle Selbstverwirklichung jedes einzelnen Bewohners Mitteleuropas, meinte politische Spielräume für die Reichsstände, ist insofern meistens mit „Föderalismus“ treffender übersetzt als mit „Freiheit“. Wer „Wahrung der teutschen Libertät“ rief, meinte damit, modern ausgedrückt: „Kaiser und Reich sollen lediglich für ein unumgängliches Mindestmaß an Koordination sorgen, Deutschlands Fürsten und Grafen so wenig wie möglich vereinnahmen und gängeln.“
So also sahen das die gleichsam im Vorhof des riesigen Habsburgerreiches liegenden Münchner. Sie brauchten die Kaiserdynastie als Garanten der überwiegenden Katholizität des Reiches, aber diese Dynastie durfte nicht erdrückend mächtig werden. Deshalb drängten sich dem Bayernherzog diese Fragen auf: War die anstehende Allianz ein bayerisch dominierter, sozusagen kaiserfreier Schutzbund für den Süden und Westen des Reiches oder Mosaiksteinchen im ambitionierten Szenario einer europaweiten, letztlich von Madrid dominierten „Habsburger-Liga“? War sie ein Schutzbund nicht nur für den Katholizismus, sondern auch für die teutsche Libertät – oder, im Gegenteil, Vehikel zur Stärkung der monarchischen Gehalte in der Mischverfassung des Reiches? War die katholische Liga wittelsbachisch, war sie habsburgisch – und wie katholisch war sie überhaupt? [<<40]
Zunächst war sie sehr katholisch und sehr bayerisch. Die Bundesverfassung vom 10. Juli 1609 definiert die Liga als Bündnis zur Forcierung der katholischen Auffassung von Recht und Gesetz, proklamiert als Bundeszweck die „erhaltung der wahren catholischen religion“ – ein Sieg der bayerischen Vorstellungen. Bundesdirektoren waren der Kurfürst von Mainz (Inhaber des rheinischen Direktorats) und der Herzog von Bayern (Inhaber des oberländischen Direktorats); Maximilian als dem „Hauptbundesobristen“ kam im Kriegsfall die militärische Leitung zu – und faktisch auch in Friedenszeiten die politische, denn der Kaiser blieb vor der Türe, womit der Bayernherzog der starke Mann war.
Das änderte sich 1613. Zum einen bekam die Liga nun ein drittes Direktorium. Bekleidet hat es der habsburgische Erzherzog Maximilian, der von Innsbruck aus Tirol und Vorderösterreich regierte. Sodann wurde aus der „defensio catholica“ die „christliche defension“. Die Liga wurde nicht mehr als Bündnis der Katholiken definiert, sondern als Bund der Kaisertreuen – mit kaiserlicher Approbation der Direktorialbeschlüsse, ohne allgemeinen Bundesobristen: keine Ablösung der bayerischen Vorherrschaft im Bündnis durch die ebenso eindeutige Habsburgs, aber doch die kräftige Reduzierung Bayerns auf den Status einer lediglich regional vorherrschenden Mittelmacht. Maximilian ‚gehörte‘ sozusagen nur noch ein Drittel. Er sah sich mit der Bundesnotel vom 23. Oktober 1613 auf seine fränkische und einen Teil der schwäbischen Klientel zurückgeworfen. Ein Münchner Gutachten vermutet als Motiv für die Verfassungsänderungen vom Oktober 1613, man habe Bayern unterstellt, dass es „in effectu die oberhand in Teütschland … sueche“. Tatsächlich tat das aus Münchner Sicht Habsburg.
Die Liga zerfällt
Die „Defension“ von 1613 wurde nie wirklich mit Leben erfüllt. München ging auf Obstruktionskurs, ja, nachdem es dem Innsbrucker Erzherzog Maximilian im Lauf des Jahres 1615 endlich gelungen war, aus dem neu eingerichteten dritten Direktorat mehr als einen (wenig ehrenvollen) Ehrentitel zu machen, nämlich eine respektable oberdeutsche Klientel um sich zu scharen – da erklärte der Bayernherzog kurzerhand seinen Rücktritt vom oberländischen Direktorium. Als 1618 in Prag einige Mitglieder der kaiserlichen Statthalterregierung in den Burggraben purzelten, bestand die Liga nur noch auf dem Papier. [<<41]
Wir können zurückblicken: Grundproblem der Liga in der Vorkriegszeit war die Frage nach der dominierenden Vormacht; ein gleichberechtigtes Miteinander von Wittelsbach und Habsburg, das war angesichts des komplizierten, spannungsvollen Verhältnisses zwischen den beiden Dynastien kaum zu bewerkstelligen. 1609 siegten die bayerischen Vorstellungen – zwei Direktorate, ein bayerisches und, in dessen Schlepptau (da ohne größeres, mächtiges Mitgliedsterritorium), ein rheinisches; forciert katholischer Charakter. 1613 setzten sich die habsburgischen Vorstellungen durch: Das konfessionelle Schutzbündnis wird zum Bund der Kaisertreuen umdefiniert, mit drei Direktoraten – zu den alten ein neues habsburgisches für den Innsbrucker Erzherzog. Die Folge: Desintegration, die seitherige Leitmacht Bayern zieht sich gewissermaßen in den Schmollwinkel zurück. Die Liga hat faktisch nicht mehr existiert – ehe die Ereignisse in Böhmen seit 1618 eine vorübergehende Interessenidentität zwischen Habsburg und Wittelsbach schaffen und somit die Liga revitalisieren werden.
Die einzige interkonfessionelle Gemeinsamkeit: Gefühl der Bedrohung
Aller internen Schwächen beider Allianzen unerachtet hat ihre bloße Existenz den lädierten Reichsverband natürlich zusätzlich strapaziert. Unter dem einen Dach des Reiches standen sich nun zwei Konfessionsbündnisse (weil Bündnisse zur Wahrung konfessioneller Besitzstände) gegenüber – zunächst lediglich politisch, nach 1618 militärisch. Nur in einem waren sich beide Lager von Anfang an einig: in der Bedrohungsanalyse. Der Widerpart war in wenig skrupulöser Offensive, selbst stand man mit dem Rücken an der Wand. Sogar die beiden Bundessatzungen zeigen es: Die Unierten schlossen sich zusammen zur Abwehr drohender „thetlichkeiten“, „wieder … unbefugten gewallt“. Es drohten „feindtliche thetliche handtlungen“, weil der Widerpart darauf aus war, „in dem gelibten Vatterlandt eine Unruhe nach der andern antzurichten, die friedliebende und gehorsame Stendte des Reichs zu uberziehen, und zubekriegen“ und so die „verfassung des Reichs in einen haufen zuewerfen“. Man vereinbarte sogar, wie nach „außgang des Kriegs“, der also offenbar absehbar war, mit erobertem Gebiet verfahren würde. Die Ligasatzung beginnt mit der Feststellung, dass „sich die leiff gantz sorgsamb und gefärlich erzaigen“, beschwört feindliche „Thatthandlungen“, es drohten die „Catholische Stennde des Reichs, von den unrüebigen“, also von unruhigen Leuten, „vergewaltigt, und uberzogen“ zu werden, ja, es [<<42] war die „ausreittung der alten wahren allein seelig machenden Religion … beneben undertrückhung aller gleichmessiger billicheiten, recht und Reichssatzungen zuegewartten“.
Ein pfälzischer Spitzendiplomat beschwor die als prekär empfundene Situation des deutschen Protestantismus im frühen 17. Jahrhundert im Brief an einen Kollegen (also nicht etwa in propagandistischer Absicht für Mit- und Nachwelt) einmal so: Die Katholiken haben „une generale et universelle intention, à exercer notre patience et à nous ruiner“, sie sind „par tout le monde presque coniuré à notre ruine“ – eine fast weltweite Verschwörung zum Zwecke der Vernichtung des Protestantismus also. Auf der anderen Seite charakterisierte der Erzkanzler des Reiches, der Erzbischof von Mainz, die reichspolitische Lage intern folgendermaßen: „Der Teufell feyert nit, seine instrumenta schlaffen nit, alle liste unnd gedichte gehen dahin wie im Römischen Reich Teutscher Nation die kayserliche Authoritet … vernichtiget, die catholische religion außgerottet, die geistliche Chur-, Fürsten und Stendte undertruckt unnd allein Calvini geist und dem zu gethane herrn alles eignen gefallens regieren und dirigieren möchten.“ Es hatten „ohngehorsamb, ohntrew, betrug und list uber hand genomen, [so] dass sich weder auf tewere wort, vertrösten und versprechen, noch auch brief und sigel, ja den schwur und aid selbsten ichtwas zu verlassen“. Die Evangelischen versuchten, halb Europa, ja, „Türcken und Tartarn“ zur „underdrückung“ des katholischen Glaubens zu mobilisieren – musste man sich denn von ihnen „vertrücken und verschlingen lassen“? Nicht nur in gedruckten konfessionellen Polemiken sind die Übergänge von der Vorkriegszeit in die Kriegsjahre hinein fließend.
1.3.4 Letztlich vergebliche Versuche, die Sprachlosigkeit zu überwinden
Gelehrte und publizistische Bemühungen
Seit 1608 stand Mitteleuropa im Vorhof eines von vielen erwarteten, befürchteten Konfessionskriegs. Nicht, dass Deutschlands Eliten damals gedanken- und sorglos in ihr Verderben gerannt wären! Nach gemeinsamen kulturellen Werten fahndend, wurden manche bei der Sprache fündig: 1617 wird die erste von bald zahlreichen deutschen Sprachgesellschaften, die „Fruchtbringende Gesellschaft“, gegründet. [<<43] Nicht alle Publizisten spien den üblichen konfessionellen Geifer aus; der eine und andere ließ sich von Süd- und Westeuropa anregen, wo schon etwas länger eine frühe politologische Literatur reüssierte, die in betont kühler, nüchterner Diktion die Eigengesetzlichkeiten politischer Ordnungsstiftung abzustecken suchte. Ihren eigenen Sachzwängen gehorchende Politik wurde mit der „ratio status“ (der Staatsräson) auf den Begriff gebracht. Ausgerechnet in der Vorkriegszeit begann der Terminus auch in Ratsprotokolle einzusickern, erreichte er also den mitteleuropäischen Politikbetrieb.
Das Projekt eines „Kompositionstags“
Ein interessantes Projekt politischer Praktiker war der „Kompositionstag“. Der Begriff „composition“ (lat. componere = zusammenbringen, vereinigen) hat in diesen Zusammenhängen nichts mit Tonkunst zu tun. Ein „composition tag“ sollte ausgleichsbereite Vertreter beider Konfessionen an einen Verhandlungstisch bringen. In konstruktiver Atmosphäre, ohne Abstimmungen und Majorisierungsversuche, sollten sie sich auf einen Rettungsplan für das zerschlissene Reich verständigen. Wir würden heute von einem „runden Tisch“ und von gruppendynamischen Effekten sprechen. Aufgebracht haben die Idee einige Unionshöfe, so insbesondere der in Stuttgart unter dem württembergischen Herzog Johann Friedrich. Und das war, unter den damaligen Umständen, auch schon ein Grund für das Scheitern des zukunftsweisenden Projekts. Fast alle Ligahöfe lehnten es entschieden ab.
Aus katholischer Warte sah die Sache so aus: Das Reichsoberhaupt ist katholisch, die „Nummer zwei“ des Reiches, der Erzkanzler, auch. Damit ist der kaiserliche Reichshofrat katholisch und der Direktor jenes Reichstags, in dessen maßgeblichen Kurien katholische Positionen jederzeit die Majorität besitzen. Warum sollen wir diese im politischen System strukturell angelegten Vorteile preisgeben, wo wir doch unsere Ansichten von Reich, Recht und Gesetz auf dem Rechtsweg und durch Stimmenmajorität jederzeit geltend machen können? Die Protestanten hatten endlich botmäßig zu werden, sich Richterspruch und katholischen Majoritäten zu fügen. Alles andere war dreister „Ungehorsam“, wie der zentrale Begriff des katholischen Reichsdiskurses lautete. Protestanten waren eben „ungehorsam“.
Die Kommunikationskreise sind großflächig gestört
Die desintegrativen Kräfte ließen sich nicht mehr bändigen. Vom alltäglichen Zusammenleben, beispielsweise in bikonfessionellen Kommunen, über das Versickern der Face-to-Face-Kommunikation der [<<44] Entscheidungsträger bis hin zu einer hitzigen Kampfpublizistik, in der die Gelehrten ihren andersgläubigen Kollegen verbal die Scheiterhaufen aufrichteten: Die Kommunikationskreise waren nachhaltig und großflächig gestört.
Es ist bezeichnend, in welcher Atmosphäre die „Säulen des Reiches“ (wie die Kurfürsten genannt wurden und sich auch selbst zu apostrophieren beliebten) zusammenkamen, als der Tod des Kaisers im Sommer 1619 doch wieder einmal eine ständische Versammlung, nämlich einen Kurfürstentag erzwang: Beide Lager ergingen sich in bizarren Rüstungsszenarien wie Angstfantasien, fürchteten eine deutsche Bartholomäusnacht. Vor Ort ließ sich „ein sehr großes mißtrauen vermerkhen“, die verängstigten geistlichen Kurfürsten dachten ernsthaft über einen vorzeitigen Abzug nach. Als das kurmainzische Begrüßungskomitee für den Kandidaten, König Ferdinand, durchnässt unter dem Sachsenhausener Stadttor Zuflucht suchte, hieß es, die katholischen Kurfürsten wollten sich der Tore „bemächtigen“ – Alarm, Tumulte, von den Frankfurtern in Dienst genommene Unionstruppen marschierten auf, „daruber die Burgerschafft zusamb geloffen“. Man versperrte die Tore, zog Ketten über die Straßen, da ein katholischer Okkupationsversuch drohe; es gab Schießereien, Messerstechereien, denen ein Angehöriger der kurkölnischen Delegation zum Opfer fiel. Das alles ist heute nicht mehr bekannt, mag auch für sich genommen ganz unwichtig sein, illustriert aber die aufgeheizte Stimmung im Reich in jenen Monaten, da sich die regionalen böhmischen Querelen zum mitteleuropäischen Krieg ausweiteten.
Der Konsens über das politische Verfahren schwindet
Um nun vom Stimmungsbericht wieder auf abstraktere Analyse zurückzuschwenken: Im Widerstreit der divergierenden Lesarten des Texts von 1555 schwand nicht nur die gemeinsame Schnittmenge zweier Auffassungen von Reich, Recht und Gesetz dahin – auch der Konsens über die Abarbeitung solcher Dissense im politischen Verfahren hat sich, zunächst kaum merklich, dann aber zusehends und mit gravierenden Auswirkungen verflüchtigt. Drangen Protestanten im Vorkriegsjahrzehnt auf die „Komposition“, pochten Katholiken auf die Entscheidungskompetenzen von Reichstagsmehrheit, Reichshofrat und Kaisertum. Die nach dem Verständnis der damaligen Zeit zentralen Fragen wollten Katholiken majorisieren, wollten die Protestanten frei aushandeln. (Die Nachkriegsordnung wird dann [<<45] der protestantischen Auffassung Tribut zollen – was für eine Seite zu den „essentials“ gehört, ist am Reichstag frei auszuhandeln: darauf läuft die „itio in partes“ des Westfälischen Friedens von 1648 hinaus, vgl. Kap. 5.5.3).
Vereinfachend und schematisierend kann man im letzten Vorkriegsjahrzehnt (wenn wir von den „politice Bäpstischen“ Dresdnern und ihrem Anhang hier jetzt einmal absehen) drei verfassungspolitische Positionen im Reichsverband ausmachen – kann man nämlich erstens beobachten, dass die Katholiken ihre strukturell im politischen System angelegten Vorteile zunehmend, anstatt den Konsens zu suchen, auszuspielen gedachten; dass, zweitens, die Mehrzahl der Auhausener gewisse, diese Vorteile kompensierende Sicherungen (insbesondere gegen ihre notorische Majorisierung) wünschten, also Detailkorrekturen, die aus ihrer Warte sogar systemstabilisierend gewirkt hätten; während die evangelische „Aktionspartei“ (Moriz Ritter) um die Heidelberger, drittens, gegen systemsprengende Konzepte nicht gänzlich immun, insbesondere aber für das Kalkül anfällig war, das ganze Räderwerk der Reichsverfassung stillzulegen, damit es nicht mehr den Katholiken in die Hände spielen konnte.
Ohne handlungsfähige politische Organe, ohne Grundkonsens und ohne Grundvertrauen in die politischen Partner war der Reichsverband nicht mehr steuerbar. Es bedurfte nur noch des sprichwörtlichen Funkens, der die brisante Mischung zum Explodieren brachte.
1.3.5 Kriegsgefahr hier und dort
Im Frühsommer 1610 schien es so weit gekommen, stand Europa an der Schwelle zu einem großen Krieg. Die evangelische Union verband mittlerweile eine Militärallianz mit Frankreich, und viel spricht dafür, dass König Heinrich IV. damals die „rupture générale“ in die Wege zu leiten suchte, auf einen groß angelegten europäischen Krieg gegen das Haus Habsburg aus war.
Traditionelle Rivalität Habsburg-Frankreich
Die Dauerrivalität zwischen dem Haus Habsburg und Frankreichs Königen war eine Grundstruktur der frühneuzeitlichen europäischen Staatenwelt bis zum „Renversement des alliances“ von 1756. Es hat mit historischen Erfahrungen zu tun, war gewissermaßen Tradition seit dem Streit um die Erbmasse des zerfallenden spätmittelalterlichen [<<46] Burgund und den Kämpfen um die Hegemonie über die Apenninhalbinsel an der Schwelle zur Neuzeit sowie den vier Kriegen, die allein Kaiser Karl V. zwischen 1521 und 1544 mit der französischen Krone ausfocht. Einen fünften ‚vererbte‘ Karl seinem Sohn Philipp II., 1559 beendete ihn der Frieden von Câteau-Cambrésis. Wenig später versank Frankreich in den Wirren der „Hugenottenkriege“ (1562–1598); der mit Abstand längste, achte Hugenottenkrieg entwickelte sich immer mehr von einem innerfranzösischen zum Krieg zwischen Frankreich und Spanien. Und kaum hatte Heinrich IV. das Land endlich konsolidiert, kam das herkömmliche französische Unbehagen über die Stellung des Hauses Habsburg sowieso wieder auf die politische Agenda.
Einerseits also hatte sich da eine dynastische Rivalität zur Traditionslinie verfestigt. Sie basierte aber auch auf geostrategischen Gegebenheiten. Das französische Staatsgebiet grenzte fast überall an Meer – oder aber an Habsburg: Im Süden wie im Norden an von Madrid aus regierte Länder der spanischen Habsburger; das westlich gelegene Alte Reich aber hatte fast schon gewohnheitsmäßig Kaiser aus der (schwächeren) österreichischen Linie des Hauses Habsburg. Man fühlte sich eingekreist, dadurch bedroht, war deshalb daran interessiert, das übermächtig scheinende Habsburg zu schwächen – wir müssen an diese Traditionslinie französischer Außenpolitik wieder anknüpfen, wenn wir fragen, warum der Dreißigjährige Krieg mit den kaiserlichen Triumphen der niedersächsisch-dänischen Kriegsphase, also 1629/30, nicht zu Ende war; und werden noch weiter unten erneut darauf zurückkommen, wenn sich Frankreich 1635 unmittelbar ins Kriegsgeschehen einklinkt.
Nun aber wieder ins Jahr 1610! Der zum Katholizismus konvertierte französische König Heinrich fand einen Ansatzpunkt, um in seine Kriegsplanungen ausgerechnet Deutschlands Protestanten zu verwickeln. Diese bangten damals um das Schicksal der konfessionell noch nicht festgelegten niederrheinischen Herzogtümer Jülich und Kleve.
Ein brisanter Erbfolgestreit am Niederrhein
Um was handelt es sich da, worum ging es? Zunächst einmal um ein Länderkonglomerat, das nur die Dynastie zusammenhielt: drei Herzogtümer (Jülich, Kleve, Berg) und zwei Grafschaften (Mark, Ravensberg). Warum war, und das seit Langem, Streit abzusehen? Weil Johann Wilhelm, nominell seit 1592 Herr über die vereinigten [<<47] niederrheinischen Herzogtümer, kinderlos war und das auch bleiben würde – er galt als geistig umnachtet, debil: Lange Jahre war da ein brisanter Erbfall abzusehen, alle möglichen Prätendenten konnten in den Archiven schürfen lassen und ihre Ansprüche begründen. Warum aber war der absehbare Erbstreit so brisant? Nun, zum einen waren die niederrheinischen Herzogtümer konfessionell gemischt – ein um 1600 schon selten gewordener Sachverhalt. Die Konfessionenkarte war hier noch gesprenkelt, die fraglichen Territorien waren, um es in der korrekten Fachterminologie auszudrücken, noch nicht „konfessionalisiert“. Als eines der letzten noch nicht definitiv zwischen den Religionsparteien ‚verteilten‘ Gebiete waren die niederrheinischen Herzogtümer schon reichsintern einiger Aufmerksamkeit sicher.
Aber sie ‚genossen‘ auch höchste internationale Aufmerksamkeit. Denn die benachbarten niederländischen Nordprovinzen um Holland und Seeland hatten sich seit 1568 jahrzehntelang Sezessionskämpfe mit der Madrider Zentrale und ihrer Brüsseler Statthalterregierung geliefert – zwar war dann 1609 ein zwölfjähriger Waffenstillstand zustande gekommen, traditionell verfeindet waren und blieben Spanien und seine separatistisch eingestellten Nordprovinzen allemal. (Wir werden diesem Konfliktherd noch wiederholt begegnen; tatsächlich werden die Kampftätigkeiten zwischen Madrid und Den Haag 1621 weitergehen, und zumal in seiner Spätphase wird sich der deutsche Dreißigjährige immer wieder mit dem niederländischen Achtzigjährigen Krieg verknäueln; die westfälischen Friedensverhandlungen werden beide Kriege beenden, und in ihrem Kontext, in Kapitel 5.6, wird dieses Studienbüchlein denn auch resümierend auf den Achtzigjährigen Krieg seit 1568 zurückblicken.) Natürlich wünschten sich die separatistischen niederländischen Nordprovinzen im Osten einen protestantischen Nachbarn, die habsburgtreuen südlicheren Provinzen – ungefähr das, was wir heute als Belgien kennen – aber einen katholischen. Habsburg wollte seine Position am Niederrhein ausbauen und der ewige Rivale Habsburgs in Europa, Frankreich, suchte dies zu verhindern. Die geostrategischen Gegebenheiten verliehen dem vorhersehbaren Erbstreit europäisches Gewicht.
Die Union lässt sich in den niederrheinischen Konflikt hineinziehen
Akut wurde das niederrheinische Erbfolgeproblem im März 1609. Zwei der vielen Prätendenten, die evangelischen Herrscher über das Kurfürstentum Brandenburg und über die Pfalzgrafschaft Neuburg, [<<48] suchten rasch vollendete Tatsachen zu schaffen, entsandten ihre Erbanwärter an der Spitze von Truppen ins strittige Gebiet, das sie militärisch okkupierten. In den damaligen Akten firmieren sie als die „Possedierenden“: als diejenigen, die – man ergänze: unabhängig von der strittigen Rechtslage – nun einmal faktisch im Besitz der Erbmasse waren (lat. possessio = Besitz, Besitznahme). Im Dortmunder Vertrag einigten sie sich auf die gemeinsame Regierung des Landes. Der Kaiser hingegen proklamierte, die strittigen Gebiete fielen vorläufig unter seine provisorische Verwaltung, so lange, bis der Reichshofrat entschieden habe, wer erbberechtigt sei; zum vorläufigen Administrator ernannte er den habsburgischen Erzherzog Leopold. Der rüstete zu, zog schließlich mit Truppenmacht an den Niederrhein. Dort engagierte sich mittlerweile auch die Union immer offener – so hatte Christian von Anhalt, die Graue Eminenz des Heidelberger Kurhofes, den Oberbefehl über die Truppen der „Possedierenden“ übernommen, und 1610 sandte die Union zweimal Truppen ins Elsass, um Leopolds Werbungen dort zu stören: eindeutig offensive Operationen auf bundesfremdem Gebiet, ein gefährlicher Präzedenzfall, gewagt, weil man sich französischer Rückendeckung sicher wähnte.






