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Frau Hagemeister öffnete das Fenster. »Guten Abend!«
»’n Abend!« Die Besucherin deutete auf den Van. »Wie ist denn das zu verstehen? Sie wollten doch am Montag fahren!«
»Ich verstehe es auch nicht und habe schon die Polizei gerufen«, entgegnete Liselotte Hagemeister. »Aber die …« Sie breitete die Arme zu einer hilflosen Geste aus.
»Ich habe einen Schlüssel.« Die Besucherin hielt ihn wie eine Trophäe in die Höhe. »Ich soll die Blumen gießen.«
»Warten Sie!« Frau Hagemeister wurde ganz aufgeregt. »Wer weiß, was Sie im Haus erwartet. Ich begleite Sie!« Äußerst flink, wenn man ihre schweren und schwachen Beine berücksichtigte, war sie in Straßenschuhe geschlüpft und hatte das Haus verlassen; sie bewohnte kein Einfamilienhaus wie Klaas’sens, sondern eine Reihenhaushälfte. Wenig später hatte sie die Frau erreicht.
»Das ist doch sehr seltsam«, sagte diese. »Aber ich habe mich schon gewundert, weil Doro … also Frau Klaas ruft mich immer an, wenn sie ihr Ziel erreicht haben. Bisher kam nichts.« Sie schaute auf den Schlüssel, dann zu Frau Hagemeister. »Wollen wir wirklich? Ich habe so ein ungutes Gefühl.«
»Ich auch. Übrigens, mein Name ist Hagemeister. Liselotte Hagemeister.«
»Ja, natürlich … Annalena Meissner.« Sie atmete tief durch.
»Sollte etwas Schlimmes geschehen sein, müssen wir doch helfen«, meinte Liselotte, die ihre Neugierde kaum zähmen konnte, sie aber nicht zu deutlich zeigen wollte. Sollte jemals wieder ein Mittwochskränzchen stattfinden, würde sie eine Menge zu erzählen haben.
»Sie haben recht.« Kurzentschlossen trat Meissner an die Tür des Hauses. Sie war mit zwei Schlössern gesichert, und anscheinend musste sie jedes Mal erst den richtigen Schlüssel finden. Es dauerte eine Weile, dann konnte sie die Tür aufsperren. Sie trat mit einem Schritt über die Schwelle, tastete nach dem Schalter und machte Licht.
Der recht kurze Flur war mit rötlichen Terrakottafliesen ausgelegt und sparsam möbliert. Drei Türen gingen von ihm ab, eine Treppe aus hellem Holz führte ins Obergeschoss, wobei sie eine halbe Drehung vollführte. Es gab eine Garderobe, an der ein paar Damenjacken und eine wattierte grünliche Joppe hingen, wie sie Jäger trugen. Frau Hagemeister hatte schon mehrmals beobachtet, wie Herr Klaas ein paar Jagdgewehre in seinem Wagen verstaut hatte und dann für mehrere Tage weggefahren war. Außer der Garderobe befanden sich im Flur ein Schirmständer, ein Schuhregal sowie ein antikes Tischchen. Die Schublade war herausgerissen, der Inhalt lag auf den Fliesen verstreut, und auch die Lade hatte man auf den Boden geworfen. Durch die erste Tür links drang ein eigenartiger, etwas muffiger und gleichzeitig süßlicher, aber irgendwie auch strenger Geruch.
»Mein Gott!«, flüsterte Annalena Meissner. Sie machte ein paar Schritte und öffnete die Tür, die sich dem Eingang gegenüber befand. Sofort prallte sie zurück.
Liselotte Hagemeister schaute an ihr vorbei in ein außerordentlich großes Wohnzimmer. Die Möbel nahm sie nur aus den Augenwinkeln wahr, denn ihre Aufmerksamkeit wurde von den auf den Dielen und den Teppichen liegenden Gegenständen gefesselt. Wie Kraut und Rüben lagen sie, darunter etliche Ordner, Mappen und lose Papiere. Wie sie vermutet hatte: ein Einbruch! Aber wo waren die Bewohner? Hatte man sie vielleicht entführt?
»Was … was …?« Mehr brachte Meissner nicht heraus.
Frau Hagemeister zückte ihr Smartphone, das sie vorsorglich eingesteckt hatte und mit dem sie gern vor ihren alten Kolleginnen angab, die sich beide vor der modernen Technik fürchteten. Sie aber liebte dieses Spielzeug und war sogar bei WhatsApp, obwohl sie nur einen Menschen hatte, mit dem sie Botschaften – Messages! – tauschte: ihren Fensterputzer. Ihre Freundinnen hatte sie noch nicht überzeugen können, und mit ihren Nachbarn wollte sie keinen solchen Kontakt.
Liselotte Hagemeister rief keinesfalls beim Revier an, dessen Nummer auf der Karte stand. Nein, sie wählte die 110.
Und es geschah ein Wunder. Die beiden Frauen hatten auf Anweisung des Mannes, mit dem sie telefoniert hatte, das Haus verlassen. Meissner ging es so schlecht, Liselotte Hagemeister hatte sie zu sich in die Wohnung gebracht, ihr einen Platz in einem der bequemen Sessel angeboten und eine Karaffe mit Wasser vor ihr auf den Tisch gestellt. Dann war sie wieder hinausgegangen.
Sechs Minuten waren seit ihrem Anruf vergangen, als ein ziviles Fahrzeug mit Blaulicht vorfuhr, das erlosch, nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war. Zwei Kriminalbeamte stiegen aus. Sie waren keineswegs hübsch, aber die 87-Jährige spürte sofort, dass diese Männer wussten, was sie zu tun hatten.
»Frau Hagemeister?«, fragte der eine.
Sie nickte.
»Mein Name ist Krüger. Wir sind vom Kriminaldauerdienst. Bitte zeigen Sie uns, was Sie entdeckt haben!«
Barbara Riedbiesters neueste Errungenschaft war ein karmesinroter Seidenkimono. Früher wäre ihr nicht einmal im Traum eingefallen, sich so etwas zu kaufen, und sie hatte zunächst gezögert; ihr alter DDR-Frotteebademantel war zwar schon fadenscheinig und inzwischen auch um einiges zu weit, aber ihr hatte er gereicht, schon weil niemand sah, wie sie zu Hause herumlief. Claudia hatte sie überzeugt. Sie selbst würde sich doch sehen, hatte sie gesagt. Die Anschaffung lag nun schon fast ein halbes Jahr zurück, aber erst, als es in der vergangenen Woche ein paar heiße Tage gegeben hatte, da hatte Barbara ihn zum ersten Mal angezogen. Mittlerweile begeisterte sie sich für das Stück, das so unendlich leicht zu tragen war und bei furchtbar hohen Temperaturen eine Verbesserung der Lebensqualität bedeutete. Auf der Lebensqualität und ihrer Verbesserung war die Psychologin Grünberg ständig herumgeritten. Dauerbrenner waren zwei Fragen gewesen: »Frau Riedbiester, warum tun Sie sich nicht einfach mal was Gutes?« und »Warum machen Sie am nächsten Wochenende nicht etwas Schönes?« Barbara hatte gar nicht gewusst, was ihr guttat oder was sie schön fand. Nun ja, schon als Schülerin hatte sie sich für Literatur und Geschichte, für das Theater und auch etwas für Kunst interessiert, und sie las ja auch viel, aber eine Ausstellung hatte sie aus freien Stücken lange nicht besucht, nicht mehr seit dem Abitur. War das vielleicht etwas Gutes? Sie hatte es mit dem Museum der Künstlerkolonie Schwaan versucht und war nach der Rückkehr in ein Restaurant gegangen, hatte, denn es war in der Adventszeit gewesen, Entenkeule mit Klößen und Grünkohl bestellt, hatte danach, vollkommen verbrecherisch, ein Tiramisu gegessen, einen Espresso getrunken und war vollkommen glücklich gewesen – weniger wegen der Kunstwerke als wegen des guten Essens. So hatte ihr Ausflug in die Welt des Genusses begonnen: mit Landschaftsmalerei, Entenkeule und Grünkohl. Wenn sie daran dachte, musste sie lachen. Inzwischen gehörte mehr zum Wohlgefühl dazu, etwa die Blechkiste, mit der sie sich durch den Stau gequält hatte: der 3er BMW der 7. Generation in der unübertrefflichen Metallicfarbe Sunset Orange. Auch zu diesem Gefährt hatte sie die beste Freundin überredet. Barbara fuhr im Dienst mitunter BMW, aber sie hätte es nie für notwendig befunden, privat mit so einem Wagen herumzukutschieren. Claudia, die ihren Führerschein versoffen hatte, hatte natürlich auch an sich selbst gedacht, und seit dem Kauf des Wagens machten sie immer einmal eine Spritztour im Sunset Orange.
Barbara nahm die Teekanne – Tee! Auch vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen! – und ging von der Küche durch den langen Flur ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen die Ordner, die sie mitgenommen hatte, und daneben das Schulterhalfter mit der SFP9. Bis vor einem Jahr hatte Barbara noch eine P6 von SIG Sauer gehabt, eine Modellvariante aus der SIG-Serie P220, die bei der Polizei Mecklenburg-Vorpommerns auch noch im Einsatz war, aber nicht mehr neu vergeben und nach und nach durch die Selbstladepistole von Heckler & Koch ersetzt wurde. Sie lag dort, wo sie eigentlich nicht liegen durfte. Es war Vorschrift, dass Polizeibeamte im Dienst eine Waffe trugen, und die morgige Fahrt nach Biendorf war ein dienstlicher Einsatz. Die Pistole mit nach Hause zu nehmen, war nur in Ausnahmefällen und auf Weisung des Dienststellenleiters gestattet, die Hauptkommissarin hätte sie also in ihr Waffenfach einschließen und am kommenden Morgen in der Ulmenstraße abholen müssen. Dazu hatte sie nicht die geringste Lust, also verstieß sie einmal mehr gegen die Dienstvorschrift. Bisher war es eigenartiger Weise noch niemandem aufgefallen, obwohl sich doch jeder Kollege fragen musste, wie es möglich war, dass sie mit einer Waffe unterwegs sein konnte, die sie gar nicht abgeholt hatte.
Schmunzelnd schlug Barbara Riedbiester den ersten Ordner der Hauptakte auf. So richtig motiviert war sie nicht und hätte viel lieber in dem Buch geschmökert, dass ihr Uplegger empfohlen hatte. Genauer gesagt, hatte er eine Empfehlung seiner Kerstin weitergeleitet. Auch die Ostsee-Zeitung hatte es gelobt. »Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft«, so lautete der Titel, und ein aus Rostock stammender Soziologe hatte es verfasst.
Barbara würde es später lesen, an einem freien Tag. Der Biendorfer Waldmord hatte Vorrang. ›Am 18. Juli 2007 hatte die Krankenschwester …‹ Ihr Telefon intonierte die ersten Takte von »Lady Greensleeves«, ihr Klingelton seit Anno Krug. Wahrscheinlich rief Claudia an, um etwas fürs nächste Wochenende zu verabreden. Gutgelaunt zog sie ihr iPhone unter der Akte hervor. Als sie die Nummer des Anrufers erkannte, verdüsterte sich ihre Miene. Der Feierabend, der ohnehin kein richtiger geworden wäre, war vorbei.
Jonas Uplegger war von Kerstins geradezu überbordendem Appetit überrascht worden: Sie hatte nicht nur eine scharfe mexikanische Suppe und ein 400-Gramm-T-Bone-Steak haben wollen, sondern verlangte sogar noch ein Dessert, während er sich mit Spareribs begnügt hatte. Eigentlich war er nicht geizig, aber er sah eine Rechnung auf sich zukommen, die einen Betrag um die 70 Euro ausweisen würde, und das fand er dann doch happig; das »Viehfutter«, das er eigentlich fürs Abendessen vorgesehen hatte, war nur mit 9,23 Euro zu Buche geschlagen.
Er schmunzelte. Barbara Riedbiester, die im Kommissariat immer noch Dampframme genannt wurde, obwohl sie in beachtlichem Umfang abgespeckt hatte, würde vermutlich sagen: »Kollege Uplegger, auch bei Ihnen klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung eklatant auseinander. Sie halten sich für freigebig. Andere finden Sie geizig.« Wahrscheinlich hätte sie damit recht. Seine Selbstwahrnehmung stammte aus der Vorzeit. Er war wohl wirklich immer sparsamer geworden, oder eben immer geiziger. Und hatte jetzt sogar einen Vorwand: Er müsse sparen für das Kind.
Noch etwas anderes stimmte, nämlich dass man mit zunehmendem Alter eigentümliche Wesenszüge annahm. Im nächsten Jahr würde er 52 werden, aber es zeigten sich schon erste Anzeichen einer Marotte: Jeden Abend bilanzierte er den Inhalt seines Portemonnaies. Während seine Kollegin vor einiger Zeit begonnen hatte, Geld beinahe suchthaft auszugeben, war er dazu übergegangen, bei jeder größeren Anschaffung eine Pro-und-Kontra-Liste aufzustellen. Er war ohne Zweifel auf dem Weg zum Geizhals und beschloss aus therapeutischen Gründen, noch so viel zu bestellen, dass die Rechnung wenigstens 100 Euro betragen würde. »Möchtest du noch etwas?«, erkundigte er sich.
Kerstin schüttelte heftig den Kopf. »Ich platze gleich«, sagte sie.
Er nahm ihre Hände. »Das kannst du mir nicht antun!«
»Aber hier ist der beste Ort dafür. Es gibt Personal, das saubermacht.«
»Ach«, seufzte Uplegger, der die Anspielung genau verstand. Seine zweite Marotte war ein Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel, der auch immer schlimmer wurde. Neuerdings legte er das Druckerpapier auf Kante, was Barbara veranlasst hatte, einen Satz mit dem Wort »Zwangsstörung« vor sich hin zu murmeln.
Sein Mobiltelefon gab den grässlichen Rufton der Werkseinstellung von sich – von seiner Kollegin als »jenseits der Beschreibbarkeit« qualifiziert. Er hatte ihn nur deshalb nicht geändert, weil sie sich über den Lärm ärgerte. Ohne auf das Display zu schauen, nahm er den Anruf entgegen.
Keine fünf Minuten später hatte er gezahlt.
Zweites Kapitel
In der Nacht von Mittwoch, 23. Juni, zu Donnerstag, 24. Juni
Der Große Bahnhof in der ruhigen, um nicht zu sagen weltabgeschiedenen Schliemannstraße hatte einen Publikumsauflauf verursacht. Hauptkommissarin Riedbiester, die zunächst im Sunset Orange zur Polizeiinspektion gefahren war und dann den Katzensprung in die Schliemannstraße mit Uplegger in einem Dienstwagen zurückgelegt hatte, schätzte die Zahl der Schaulustigen, die von Blaulicht und Sirenengeheul angezogen worden waren, auf etwa 30, darunter etliche Kinder. Viele hielten ihr Smartphone in die Höhe, um das Ereignis für die Nachwelt festzuhalten und für die Mitwelt zu posten. Das Lichtspiel der beleuchteten Displays erinnerte an ein Popkonzert.
Dieser Teil des Hansaviertels war eigentlich so etwas wie eine feinere Gegend, aber Sensationslust war dem Menschen eigen, unabhängig von Einkommen und Bildungsgrad. Dem Publikum wurde aber auch einiges geboten, wobei das Aufregendste sicher die beiden silber-blauen Kastenwagen mit der Aufschrift Kriminaltechnik und die Außerirdischen in ihren Kontaminationsschutzanzügen waren, die, in weiße Overalls gehüllt und mit blauen Plastikpuschen an den Füßen, ihre Pistolen vorschriftsmäßig an dunklen Gürteln trugen und Koffer in ein Einfamilienhaus schleppten. Das war Fernsehen live. Weniger Beachtung fand hingegen ein etwas abseits abgestelltes Fahrzeug, das zwar die Farben der Polizeifahrzeuge trug, jedoch mit Gerichtsmedizin beschriftet war, eine Institution, die neben Neugierde auch Schauder und sogar Ekel erregte. Die beiden Leichenträger standen neben ihrem noch geschlossenen Fahrzeug, hatten ihre Mund-Nasen-Bedeckung bis zum Hals herabgezogen und rauchten. Barbara kannte keinen Mitarbeiter der unteren Ebene des Rechtsmedizinischen Instituts, der nicht am Glimmstängel hing, und die Fahrer und Träger sahen allesamt wie – gewesene oder aktive – Alkoholiker aus. Das galt im Übrigen auch für manche Ärzte, die den Fachbereich Forensische Alkohologie ziemlich weit auslegten.
Uplegger lenkte den Mercedes vor dem Absperrband an den Straßenrand. Es wimmelte von Kollegen in Uniform, die den Ort sicherten oder einfach nur herumstanden, während andere im Licht greller Strahler auf dem Grundstück unterwegs waren und es Quadratzentimeter für Quadratzentimeter nach Spuren absuchten – so sollte es jedenfalls sein, aber mitunter war das graue Theorie. Barbara und Uplegger hatten schon so manche unqualifizierte Tatortaufnahme erlebt, bei der beispielsweise der Zentimeter sehr großzügig ausgelegt worden war und in den Dezi-, wenn nicht gar in den Meterbereich ragte. Und leider gab es auch immer wieder Kriminaltechniker, die Spuren nicht sicherten, sondern zerstörten, etwa weil sie einen Kater hatten oder keine Lust.
Von der Mordkommission war zunächst niemand zu sehen. Das änderte sich jedoch, nachdem Barbara und Uplegger ausgestiegen und ein paar Schritte näher an die Grundstückszufahrt getreten waren: Dort versammelte sich die Blüte der Rostocker Kriminalistik, wie die Kommissarin gern sagte, nicht ganz ohne ironischen Unterton. Die Kollegen bildeten einen regelrechten Pulk, niemand beachtete die AHA-Regeln. Den Mittelpunkt bildete Gunnar Wendel, der Chef, dem vor vielen Jahren der unpassende und ungerechte Spitzname »Der Mann ohne Eigenschaften« verpasst worden war, der nun an ihm klebte wie Pech. Wendel war auf dem Absprung in die Pension und würde sich am Jahresende für immer auf seine »Ranch« in Lübberstorf bei Neukloster zurückziehen. Er hatte vor, dort, in dem eigens ausgebauten Bauernhaus, seinen glücklichen Lebensabend zu verbringen, was ihm keiner verdenken konnte – nur eben: Lübberstorf. Dort gab es um die 200 Einwohner, drei denkmalgeschützte Bauernhäuser und ein paar Ferienwohnungen sowie zwei Magistralen mit den originellen Namen Haupt- und Dorfstraße. Allerdings war der Neuklostersee nicht weit, und der Chef freute sich schon auf Angelpartien im Morgennebel. Barbara Riedbiester bezweifelte, dass er den Ruhestand ertragen würde.
Links vom ihm stand, ein Klemmbrett unterm Arm, sein Stellvertreter Breithaupt, der auch einen Spitznamen hatte: Kofferträger. Dass Wendel den Dienst beenden würde, stand schon eine Weile fest, und natürlich befasste man sich im Kommissariat, wenn nicht in der gesamten Kriminalpolizei, mit der Frage seines Nachfolgers. »Oder seiner Nachfolgerin«, wie Ann-Kathrin Hölzel nicht müde wurde zu betonen. Hölzel, seit drei Monaten Oberkommissarin, hatte den Platz rechts neben dem Chef inne und sprach etwas in ein Diktiergerät. Peter Breithaupt als zweiter Mann des Kommissariats hatte in gewisser Weise einen Anspruch auf den Posten, aber er war ein Mann von geringen Ambitionen und sicher nicht mehr auf einen Karrieresprung erpicht: Er würde in drei Jahren in Pension gehen. Wahrscheinlich würde man jemanden von außerhalb holen, vielleicht einen dieser gutausgebildeten Digital-Autisten der jungen Generation. Hölzel meinte zwar gelegentlich, Barbara Riedbiester solle es machen, aber sie würde den Teufel tun. Außerdem würden weder der Chef der Kripo noch der Polizeipräsident je auf die Idee kommen, Hauptkommissarin Riedbiester könne die Mordkommission leiten. Das Einzige, was toll war an diesem Job, das war die Kohle: Mit diesem Geld könnte sie aus Sunset Orange eine Rakete machen, die arabische Clanbrüder vor Neid erblassen ließe.
Etwas abseits, die Arme vor der Brust verschränkt und in ein Gespräch mit Krüger vom KDD vertieft, stand die Neue. Ramona Brinkhart war aus Niedersachsen nach Mecklenburg gekommen: Sie war in einem Barbara vollkommen unbekannten Nordseebad namens Dangast zur Welt gekommen, hatte bis vor anderthalb Jahren bei der Zentralen Kriminalinspektion der Polizeidirektion Oldenburg gearbeitet, wollte aber unbedingt wieder in eine Stadt am Meer, also hatte sie sich um eine polizeiintern ausgeschriebene Stelle bei der Rostocker Kriminalpolizeiinspektion beworben. Sie hatte, oh Wunder, eine Wohnung in Warnemünde bezogen, in der Fritz-Reuter-Straße, war also so nahe am Meer wie in ihrer Kindheit und anscheinend wirklich glücklich. Natürlich gab es einen Wermutstropfen. Ihr Mann, ein Straßenbauingenieur, hatte noch keinen Job in Rostock oder Umgebung gefunden, und so pendelten die Eheleute an den Wochenenden zwischen Oldenburg und Warnemünde hin und her.
Barbara und Uplegger näherten sich der kleinen Gruppe, und die Kommissarin bat den Chef, sie kurz und knapp auf den Stand der Dinge zu bringen. Es war ein Ehepaar getötet worden, das wusste sie schon, ein Ehepaar namens Klaas. Und es war eindeutig ein Tötungsverbrechen. So war es schon vom KDD eingeschätzt worden, und das hatte sich inzwischen als korrekt erwiesen.
Gunnar Wendel deutete auf Breithaupt, der einen Blick aufs Klemmbrett warf, obwohl er die wichtigsten Umstände sicher im Kopf hatte.
»Dorothee und Michael Klaas, sie 53 und er 51, also zirka zwei Jahre jünger.«
Das hatte Barbara auch sofort ausrechnen können, aber sie schwieg.
»Sie sind im Keller ihres Wohnhauses getötet worden. Beide mit einem Kopfschuss. Ein paar Sofakissen wurden als Schalldämpfer benutzt. Sieht wie eine Hinrichtung aus.«
Ann-Kathrin Hölzel ergänzte: »Auf dem Boden neben den Geschädigten wurde eine Jagdflinte gefunden, die als mögliche Tatwaffe in Betracht kommt.«
»Eine Beretta Bockdoppelflinte, Modell 686«, sagte Wendel. »So ein Ding kostet mehr als 2000 Euro.«
»Kein Pappenstiel«, bemerkte Barbara.
»Die größte Besonderheit der Tat ist allerdings der Umstand, dass die Eheleute Klaas gefoltert wurden«, sagte Ann-Kathrin Hölzel.
Uplegger riss die Augen auf: »Was wurden sie?«
»Gefoltert.«
»Beide weisen Folterspuren auf«, sagte Krüger vom KDD, der sich gemeinsam mit Ramona Brinkhart zu der Gruppe gesellt hatte. »Sie wurden geschlagen. Außerdem wurden ihnen tiefe Ritzwunden zugefügt, wahrscheinlich mit einer zerschlagenen Weinflasche. Eine solche lag neben dem Mann.«
»Puh«, machte Barbara. »Wo sind die Auffindungszeugen?«
Die zwei Auffindungszeuginnen hatten sich in die Reihenhaushälfte zurückgezogen, die an das Grundstück der Familie Klaas grenzte. Als sich Hauptkommissarin Riedbiester zu ihnen auf den Weg machte, kannte sie ihre Namen; es handelte sich um eine sehr betagte Frau namens Hagemeister, die Besitzerin der Haushälfte, sowie eine gewisse Annalena Meissner, eine Frau mittleren Alters und nach eigenen Angaben die beste Freundin der geschädigten Dorothee Klaas. An der 1. Erweiterten Oberschule, die von Barbara in grauer Vorzeit besucht worden war und an der sie ein mäßiges Abitur hingeschustert hatte, hatte es damals eine Lehrerin namens Hagemeister gegeben, die Deutsch, Russisch und Latein unterrichtet hatte. Barbara hatte sie zwei Jahre in Deutsch gehabt und in der 11. sowie der 12. Klasse in Latein, ein sogenanntes wahlobligatorisches Fach, dass nur die Schüler ernstgenommen hatten, die Medizin studieren wollten. Nur an eine Grausamkeit der lateinischen Grammatik konnte sich Barbara noch erinnern, an den berühmt-berüchtigten Accusativus cum infinitivo, den nur Masochisten liebevoll AcI abkürzten. Aber diese Frau Hagemeister musste längst tot sein.
Barbara betätigte die Türglocke neben dem Namensschild. Es dauerte keine zwei Minuten, dann wurde die Tür geöffnet. Eine etwas gebeugte, grauhaarige Frau in einem dunkelblauen Hauskleid schaute sie mit sehr ernstem Gesichtsausdruck an.
Sie war es. Barbara erkannte sie sofort, trotz des fortgeschrittenen Alters. Das war ihre ehemalige Lehrerin.
Und auch sie schien Barbara zu erkennen. Davon sprach etwas in ihrem Mienenspiel, eine kaum merkliche Bewegung der Brauen, ein Fragezeichen im Blick.
»Frau Hagemeister!«, rief Barbara und verbarg die Überraschung nicht.
»Sie waren meine Schülerin«, konstatierte die Angesprochene mit einer leichten Unsicherheit in der Stimme. »Ach … Barbara? Sie heißen Barbara?«
Barbara nickte. »Sie haben ein gutes Gedächtnis, Frau Hagemeister!«
»Vor allem in Bezug auf lange Zurückliegendes. Aber so ist das im Alter. Sie sind wohl bei der Kriminalpolizei gelandet?«
»Gelandet? Das ist ein schönes Wort dafür«, erwiderte Barbara mit einem flüchtigen Lächeln. »Leider habe ich wenig Zeit für einen Plausch …«
»Ich verstehe. Bitte, kommen Sie herein!«
Die Kommissarin trat ein. Nachdem Liselotte Hagemeister die Tür geschlossen hatte, stellte Barbara sofort fest, dass es nicht nach alter Frau roch. Vielleicht wurde jenes charakteristische Aroma von den vermutlich indischen Wohlgerüchen überlagert, die durch eine halbgeöffnete Tür in die kleine Diele strömten.
Frau Hagemeister schob diese Tür weiter auf und lud ihren Gast mit einer Handbewegung zum Nähertreten ein.
Der Raum, den Barbara vor der Gastgeberin betrat, war unzweifelhaft das Wohnzimmer. Sie nahm die Einrichtung ganz schnell auf Kriminalistenart, also in Uhrzeigerrichtung wahr: links eine Schrankwand aus DDR-Produktion, vis-à-vis eine Fensterfront mit Tür zur Terrasse, rechts deckenhohe Bücherregale, im Zentrum eine Sitzgarnitur, die aus vier um einen Glastisch herum gruppierten Sesseln im Bauhausstil bestand, in einem dieser Sessel eine totenbleiche Frau. Sie hatte rotgeweinte Augen und hielt ein Taschentuch auf dem Schoß. Barbara schätzte sie auf Anfang 50.
»Guten A… guten Morgen«, grüßte sie. »Mein Name ist Riedbiester. Kriminalpolizei.«
»Ach, ja, Riedbiester«, flüsterte Frau Hagemeister in ihrem Rücken.
»Sie sind Frau Meissner?«
Die Frau machte Anstalten aufzustehen, sie war aber vom Schock zu sehr geschwächt und ließ sich wieder in den Sessel sinken.
»Annalena Meissner«, bestätigte sie leise. Erneut rannen Tränen. »Ich bin eine Freundin von Dorothee.«
Barbara nickte. Auf dem Glastisch standen ein paar farbige Teelichter, die den Duft verbreiteten, den sie inzwischen ein wenig übelerregend fand.
»Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte Frau Hagemeister. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
»Nein, vielen Dank!« Barbara nahm in einem der Sessel gegenüber der Freundin Platz. Frau Hagemeister schickte sich an, einen dritten Sessel zu okkupieren, doch die Hauptkommissarin sah sie mit aufgesetzt bedauernder Miene an. »Es ist natürlich sehr unhöflich von mir, aber ich muss mit jeder von Ihnen getrennt sprechen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Sie sich gegenseitig beeinflussen. Nicht absichtlich, natürlich. Aber ich kann mit Frau Meissner …«