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»Nein, nein!« Frau Hagemeister machte eine abwehrende Geste. »Ich verstehe das. Sie finden mich in der Küche.« Ohne viel Federlesen verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Aber es war Barbara Riedbiester nicht entgangen, dass sie beleidigt war.
Zur Gruppe vor dem Haus hatte sich Dr. Joachim Geldschläger vom Rechtsmedizinischen Institut gesellt, der mit wichtiger Miene die Ergebnisse seiner Leichenschau referierte. Geldschläger war seit zwei Jahren Privatdozent, und Uplegger teilte Riedbiesters Meinung, dass er seitdem die Nase so hoch trage, es müsse in die Nasenlöcher hineinregnen. In Hinsicht auf ihre Behauptung, ein Privatdozent sei eigentlich kein richtiger Dozent, war er jedoch anderer Meinung.
Weitgehende Übereinstimmung bestand zwischen ihnen hingegen in Bezug auf den jungen Staatsanwalt Michael Bormann, der auch am Ort des Geschehens aufgetaucht war und sich an Kommissariatsleiter Gunnar Wendel geradezu anschmiegte: Bormann war ein Karrierist. Barbara fand, dass bereits seine Haartolle, die Schweinsäuglein und der fette Hals den rücksichtslosen Aufsteiger verrieten, Uplegger war nicht so radikal und vermochte auch keine Schweinsäuglein zu entdecken. Außerdem hielt er, auch hierin von seiner Kollegin abweichend, nicht alle Staatsanwälte für Karrieristen.
»Zunächst deuten zahlreiche Hämatome am Körper beider Personen auf Prellungen hin«, sagte Dr. Geldschläger. »Ich erlaube mir zu vermuten, dass sie die Treppe zum Keller hinuntergestoßen wurden – zumindest wäre es eine Möglichkeit. Dann wurden sie von den Tätern übel zugerichtet.«
»Wie viele Täter mindestens?«, wollte Wendel wissen.
»Mindestens zwei. Eher drei bis vier. Wenn es nur zwei waren, müssen sie sehr kräftig sein. – Weiter im Text: Sie wurden geschlagen. Die Täter haben einen Gegenstand benutzt, den sie im Haus vorgefunden haben. Das Ehepaar scheint ja Kunst gesammelt zu haben …« Der Privatdozent räusperte sich. »Das Schlaginstrument, wenn ich es so nennen darf, lag keine 80 Zentimeter von der weiblichen Leiche entfernt und hatte Blutanhaftungen. Es handelt sich um eine Skulptur.« Er räusperte sich abermals und zog einen Zettel aus der Jackentasche. »Eine 90 Zentimeter messende massive Bronzeskulptur mit dem Titel ›Diaphragmatisches Rumpfstück‹ von John Hengst-Brueback aus Ahrenshoop.« Nun seufzte er.
»Wie war noch mal der Titel?«, fragte KDD-Mann Krüger nicht ohne Süffisanz.
Geldschläger kam um eine Antwort herum, weil Staatsanwalt Bormann Krüger ins Wort fiel und wissen wollte, ob sich Dr. Geldschläger mit einheimischer Kunst auskenne.
»Nein«, entgegnete der Gerichtsmediziner pikiert. »Das stand alles auf der Bodenplatte der Skulptur. – Wollen wir jetzt eine Kunstdebatte führen oder darf ich fortfahren?«
»Bitte fortfahren!«, sagte Gunnar Wendel.
»Um das Ehepaar zu quälen, haben die Täter den Hals einer Weinflasche der Marke … tja …« Geldschläger blickte etwas unschlüssig auf seinen Zettel. »Schlah…tina? Also es schreibt sich am Anfang mit so einem Z mit einem umgekehrten Dach drauf …«
»Ein Hatschek«, platzte Uplegger heraus und hätte sich sofort auf die Lippen beißen mögen, denn Geldschläger konnte seit seinem universitären Aufstieg keine Menschen ertragen, die etwas wussten, was er nicht kannte.
»Meinetwegen so etwas«, sagte er aufgebracht. »Hatschek oder wie auch immer. Es scheint jedenfalls ein jugoslawischer Wein zu sein. – Jajaja, Herr Kollege, ich weiß: Jugoslawien gibt es nicht mehr. – Die Täter haben den Hals der Flasche abgeschlagen und den Geschädigten damit tiefe Ritzwunden beigebracht. Zu diesem Zweck haben sie beiden zunächst den Oberkörper entblößt. Die Details erfahren Sie aus meinem Bericht nach der Obduktion.«
»Der erste Eindruck war also richtig«, bemerkte Ann-Kathrin Hölzel.
»Welcher erste Eindruck?«
»Dass sie gefoltert wurden.«
»Kann man so sagen«, meinte Dr. Geldschläger und steckte seinen Zettel ein.
Annalena Meissner, die 54 Jahre alt war und im Labor des Instituts für Ostseefischerei arbeitete, war zutiefst verstört und wurde während des Gesprächs immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt. Barbara hatte ihr zugesichert, diese Erstbefragung diene nur einem ersten Eindruck und würde daher vielleicht eine Viertel-, höchstens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen; erst an einem der folgenden Tage müsse sie zu einer Vernehmung in der Ulmenstraße erscheinen.
Meissner hatte den Schlüssel zum Haus erhalten, um die Pflanzen zu gießen, aber auch, um den Briefkasten zu leeren, die Post auf der Flurgarderobe zu deponieren und allgemein nach dem Rechten zu schauen. Einmal in der Woche sollte sie den Rasen sprengen und sich auch um die Gartenpflanzen kümmern. Das war sozusagen ein Liebesdienst um Gotteslohn, allerdings brachten ihr die Klaas’sens immer einen Karton sehr guten Weins und ein riesiges Stück luftgetrockneten Schinken aus Istrien mit. Auch kümmerten sie sich um ihre Wohnung, wenn Annalena Urlaub machte. Allerdings gab es in dieser Hinsicht einen auffälligen Unterschied: Das Ehepaar verbrachte oft ein Vierteljahr an der Adria, während Meissner nie länger als drei Wochen verreiste.
»Und sie fahren immer nach Kroatien?«, erkundigte sich Barbara.
»Seit Jahren. Dorothee … sie hat damals noch im Kulturhistorischen Museum gearbeitet, bevor sie sich dann selbstständig machte.«
»Was macht sie denn beruflich?«
»Sie arbeitet als Kunsthistorikerin, Kunsthändlerin und Kuratorin. Freiberuflich. Wenn Sie Zeitung lesen, müssen Sie ihren Namen eigentlich kennen, denn gerade in der letzten Zeit war sie viel in der Presse. Sogar im Fernsehen. Im Nordmagazin habe ich sie mindestens zweimal gesehen.« Annalena Meissner kamen die Tränen und sie nestelte ein frisches Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche, mit dem sie sich über die Augen fuhr. »Zum 55. Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Rostock und Rijeka hat sie die Ausstellung in der Kunsthalle organisiert. Oder kuratiert, so heißt das wohl.«
Barbara wusste augenblicklich, wovon die Frau sprach, obwohl sie die Ausstellung nicht gesehen hatte und auch keinen Grund sah, diesen Mangel zu beheben. In der Ostsee-Zeitung hatte man Bilder gezeigt, auf deren Anblick sie gern verzichtete. »Der Titel ist ›Rostock 55 Rijeka‹, nicht wahr?«
Annalena Meissner nickte. »Es gibt auch eine Parallelausstellung in Rijeka. Die heißt ›Rijeka 55 Rostock‹. Dorothee präsentiert …« – ein kurzes Aufstöhnen – »Dorothee hat dort Künstler aus Mecklenburg-Vorpommern präsentiert. Und hier bei uns natürlich Künstler aus Rijeka. Wobei, es geht ja um eine Partnerschaft … also es hängen immer Werke von Gästen und Einheimischen zusammen in den Ausstellungen.«
»Verstehe. Ich muss Sie leider bitten, mir so genau wie möglich zu beschreiben, was heute Abend passiert ist. Aber zuvor möchte ich noch wissen, woher Sie Frau Klaas und natürlich auch ihren Mann kennen.«
Meissner nickte und wischte sich noch einmal über das Gesicht. »Wissen Sie, ich habe meine ganze Kindheit und Jugend in Reutershagen verbracht. Wir haben in der Kuphalstraße gewohnt, also direkt am Schwanenteich. Wie weit mag es zur Kunsthalle gewesen sein? Fünf-, sechshundert Meter? Aber, ich muss es zugeben, meine Eltern hatten einen sehr eingeschränkten Horizont. Obwohl mein Vater Ingenieur war und meine Mutter Ökonomie studiert hatte.«
Eigentlich war jetzt nicht die Zeit für Annalena Meissners Lebensgeschichte, doch Barbara schwieg in der Hoffnung, etwas Relevantes zu erfahren.
»Mein Vater hat auf der Neptunwerft gearbeitet, allerdings nicht für die Werft selbst, sondern für die dortige Außenstelle der Schiffswerft Rechlin. Sie haben Rettungsboote entworfen, Rettungsmittel für die Seefahrt überhaupt. Meine Mutter war im VEB Schiffselektronik, zuletzt war sie Abteilungsleiterin. Beides gehörte ja zum Kombinat Schiffbau und … Verzeihung, ich will nicht abschweifen.« Meissner klaubte ein weiteres Papiertaschentuch aus der Tasche, behielt es aber nur in der Hand. »Sie sind studierte Menschen … beide leben noch, im PflegeWohnPark Kühlungsborn … Ja, studierte Leute, aber ihre Interessen beschränkten sich auf Wohnung, Garten, Datsche und Lada. Dieses Auto, Sie wissen sicher? Und nach der Wende? Nur noch Reisen! ›Wir müssen ja was nachholen‹, haben sie gesagt und sind jedes Jahr an die spanischen Mittelmeerküsten gefahren, an Orte, an denen man Deutsch spricht. Sie wissen weniger über Spanien als ich, die ich nur einmal für eine Woche in Sevilla gewesen bin.«
Nun war sie doch wieder abgeschweift, was Barbara mit einem Zusammenziehen der Brauen quittierte.
Meissner begriff sofort. »Kurz und gut, ich bin nie in der Kunsthalle gewesen. Aber dann … Es ist Jahre her … Ich habe eine Bekannte, wir waren früher an der Heinrich-Schütz-Schule, und sie arbeitete damals im Rathaus. Unter diesem Oberbürgermeister, wissen Sie, für den sich Kultur auf Windjammerparaden, Bier und Bockwurst reduzierte. So hat das jedenfalls Dorothee ausgedrückt. Da wollte wohl die Stadtverwaltung aus der Kunsthalle ein Autohaus machen. Und da endlich habe ich mir gesagt: Das geht nicht! So kann man mit einer Kultureinrichtung nicht umgehen! Als gäbe es nicht genug Autohäuser. Warum werfen wir die Rostocker Filetstücke immer nur schmierigen Typen in den Rachen? Nee! Und ich bin Mitglied im Förderverein ›Freunde der Kunsthalle‹ geworden. Keinen Tag habe ich diesen Schritt bedauert.«
»Und dort …«, fragte die nun doch etwas enervierte Barbara, »dort haben Sie Frau Klaas kennengelernt?«
»Ja. Und später auch ihn. Also den Mann. Michael. Er ist inzwischen auch Mitglied.«
Der Chef der Spurensicherung, Manfred Pentzien, bat zu Tisch. So nannte er es, wenn er ausgewählten Mitarbeitern der Mordkommission gestattete, einen Tatort näher in Augenschein zu nehmen. Bisher war das Haus der Familie Klaas allein sein Reich gewesen, nun war er bereit, sein Herrschaftswissen zu teilen.
Es war Uplegger, der den Chef Gunnar Wendel ins Haus begleitete. Zunächst betraten sie einen Flur, der mit den üblichen Möbeln zum Aufbewahren von Garderobe und Schuhen aussah wie die meisten Flure der Welt. Ungewöhnlich war die weiße Wandgarderobe, die aus einzelnen braunen Sticks bestand, die man vorklappen konnte, um Kleidungsstücke aufzuhängen. Im Kontrast zu diesem modernen Stück stand das barocke Tischchen, dessen Schublade herausgerissen worden war. Der Inhalt lag auf dem Boden zerstreut und bestand aus mehreren Schlüsselbunden, einem Paar roter Lederhandschuhe für Damen, ein paar Quittungen und Werbebriefen. Über dem Tischchen hingen zwei Stiche, die ältere Ansichten der See- und Hansestadt Rostock zeigten. Im Schuhregal, das auch neueren Datums war, standen die Schuhe so ordentlich aufgereiht, als erwarte man jederzeit die Stubenrevision eines Oberfeldwebels. Im Schirmständer befanden sich keine Schirme, sondern drei Paar Fußballschuhe unterschiedlicher Größe, doch auf jeden Fall für ein Kind bestimmt. Die Schuhe hatten einiges durchgemacht, von dem Kind wusste Uplegger noch nichts.
»Hatten sie Kinder?«, erkundigte er sich. Seine Frage war an beide Chefs gerichtet.
»Mindestens eins, denn die Mansarde ist eindeutig ein Kinderzimmer«, erwiderte Pentzien. »Ein Jungenzimmer, wenn es politisch korrekt ist, es so zu nennen. Ohne Gendersternchen und so. Hansa-Plakate an den Wänden, ein Hansa-Wimpel steht im Regal und ein Hansa-Schal hängt am Fensterknauf.«
»Es könnte ja auch ein Mädchen sein, das sich für Fußball interessiert«, meinte Uplegger.
»Mädchen haben mehr Bücher«, behauptete Pentzien.
»Sie haben drei Kinder«, ließ Gunnar Wendel verlauten. »Eine Tochter, zwei Söhne. Der älteste Sohn und die Tochter sind meines Wissens schon aus dem Haus. Es muss das Zimmer des Jüngsten sein.«
»Voilà!« Pentzien stieß eine Tür auf und wies in einen Raum, der hell erleuchtet war, weil seine Leute alle Lampen eingeschaltet hatten. Seine Geste gemahnte an einen Immobilienmakler.
Was Uplegger neben der unbeschreiblichen Unordnung und neben der jungen Frau im weißen Overall als Erstes auffiel, waren die teuren Möbel im Bauhausstil. Zweifellos handelte es sich um Repliken, aber auch diese waren teuer. Da Upleggers verstorbene Ehefrau als Designerin ihr Geld verdient hatte, kannte er sich ein wenig aus und erkannte das nougatfarbene Sofa und die beiden dazu passenden Sessel als Werke von Le Corbusier. Für die drei Stücke hatte man bestimmt mehrere Tausender hinblättern müssen. Im Übrigen war das große, zum Garten hin gelegene Zimmer minimalistisch eingerichtet, vermutlich damit die drei Gemälde an den weißen Wänden den Raumeindruck bestimmen konnten. Doch alles, was es sonst noch gab, hatte zumindest einmal an der Wand des Bauhauses gelehnt – der Esstisch mit den sechs Armlehnstühlen, die niedrigen kommodenartigen Schränke, die beiden schlanken Bücherregale. Auf einer der Kommoden stand ein großer Flachbildfernseher, daneben ein Hi-Fi-Tower von Bose. ›Von wem auch sonst‹, dachte Uplegger und ein leises Neidgefühl krampfte sein Herz zusammen. So einen Tower hätte auch er gern sein Eigen genannt.
Die gut verpackte junge Kollegin von Manfred Pentzien hatte nur kurz aufgeschaut und sich dann wieder der Sicherung von Fingerspuren gewidmet. Dass sie jung war, verriet allein ihr Gesicht, vor allem der jugendlich frische Teint. Pentzien, der nicht müde wurde, sich darüber zu beklagen, dass alle Schutz- und Kriminalpolizisten der Welt an Tatorten mehr Spuren verursachten als sicherten, hatte seine Kapuze in den Nacken geschoben und verteilte Haare und Schuppen.
Die Gemälde sagten Uplegger zunächst nichts. Es waren eher zeitgenössische Werke, jedenfalls durften sie alle nach 1945 entstanden sein, vermutlich sogar vor gar nicht langer Zeit. Ein ziemlich großer Schinken, der zwischen dem Eckfenster und der Gartentür hing, zeigte auf eine pastose weiße Leinwand aufgetragene, extrem breite schwarze Pinselstriche, was an Franz Kline gemahnte, aber beim Nähertreten entdeckte Uplegger die Signatur P. Fischer. Ein in schreienden Acrylfarben gehaltenes, der Farbfeldmalerei ähnelndes Werk, das an der Wand neben dem Bildschirm angebracht war, war von H.P. signiert, und das dritte Gemälde im Bunde enthielt auf cremefarbenem Grund einen breiten orangefarbenen Querstrich, auf dem schwarze Buchstaben tanzten und das Wort ETERNITY bildeten. Der Stil erinnerte Uplegger an etwas. Die Signatur überzeugte ihn vollends: Penelope Pastor. Die Künstlerin aus Schwaan kannte er. Wenn er Barbara davon berichtete, würde sie aufschreien, denn für sie war die Pastor ein dunkelrotes Tuch.
»Habt ihr schon Anhaltspunkte dafür, was die Täter gesucht haben könnten?«, fragte der Mann ohne Eigenschaften.
»Raubgut, würde ich meinen«, sagte Pentzien. »In einem der Arbeitszimmer – dem des Mannes wohl – gibt es einen Wandtresor. Die Tür war zwar zu, aber nicht abgeschlossen. Einer meiner Leute hat sie einfach aufgezogen, und siehe da: Der Safe ist leer.«
Inzwischen war der neue Tag angebrochen. Das Gespräch mit Annalena Meissner hatte nun doch länger gedauert als beabsichtigt, aber das hatte nicht an der Kommissarin gelegen, sondern an der unerwarteten Mitteilungsfreude der Zeugin. Barbara hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber Liselotte Hagemeister, aber sie hatte dafür ein erstes Bild von den Geschädigten, das recht umfassend war. Sie wusste nun, dass Dorothee Klaas vor ungefähr sechs Jahren die Galerie Art’s Art am Alten Markt erworben und damit vor der Pleite bewahrt hatte. Spezialisiert hatte sie sich auf norddeutsche Künstler und auf das östliche Europa, schließlich war man in Stettin ebenso schnell wie in Berlin. Dank ihrer und ihres Mannes Begeisterung für Kroatien vertrat sie auch kroatische Künstler und welche aus anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawien, vor allem aus Slowenien.
Annalena Meissner hatte das Haus verlassen und sich auf den Heimweg gemacht, Barbara Riedbiester hatte sich bei ihrer ehemaligen Lehrerin Hagemeister entschuldigt. Sie waren gleich in der gemütlichen Küche geblieben, die alte Frau hatte Tee gekocht, und nun saßen sie an dem rustikalen Küchentisch. Durch das Fenster konnte man in den Nachbargarten blicken, wo noch immer Kriminaltechniker und Schutzpolizisten im Licht der Strahler nach Spuren suchten.
Frau Hagemeister blickte immer mal wieder hinaus und seufzte. »Es muss um das Jahr 2000 gewesen sein, also vor ungefähr 20, 21 Jahren, da hat das Ehepaar Klaas das Haus gekauft. Vorher hat ein hoher SED-Funktionär darin gewohnt, der ist dann 1999 gestorben. Er wollte unbedingt noch den Jahrtausendwechsel erleben … Aber der Mensch kann ja viel wollen, wenn das Schicksal anders entschieden hat. In seinem Fall hieß das Schicksal schlicht und ergreifend Altersschwäche. Er war Jahrgang 1901!« Frau Hagemeister nahm einen Schluck Tee, dann fuhr sie fort: »Ich war ganz froh, dass junge Leute eingezogen sind. Obwohl ich ja damals selbst noch keine vertrocknete alte Schachtel war. Mein Mann war nicht so begeistert. Kurz und gut: Sie zogen ein. Die Eltern und die beiden Kinder Johannes und Miriam. Der Große dürfte acht oder neun gewesen sein, die Schwester vier oder fünf. Frau Klaas hat sich damals in der Nachbarschaft vorgestellt und jedem eine kleine Pralinenschachtel gebracht, auf gutes Zusammenleben und gegenseitige Hilfe. Das wäre heute unvorstellbar.«
»Warum?«, erkundigte sich Barbara.
»Erfolg und Geld haben aus zwei liebenswürdigen Menschen zwei arrogante Ekel gemacht«, antwortete Frau Hagemeister. »Sie betrachten alle Menschen von oben herab. Sie würden nie etwas in der Nachbarschaft borgen, weil sie sich alles kaufen können. Das ist ihre Botschaft. Gegen zwei Familien haben sie wegen Lärmbelästigung geklagt. Einmal gegen Leute vorn in der Parkstraße, weil ihre Kinder zu laut im Garten spielen. In dieser Sache haben sie verloren. Anders beim Hund.«
Barbara runzelte die Stirn. »Welcher Hund?«
»Die Kruses, die zwei Häuser weiter in Richtung Laurembergstraße wohnen, haben einen großen Hund … Labrador?« Frau Hagemeister zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht die geringste Ahnung von Hunden. Aber so absurd es klingen mag: Eine Richterin am Amtsgericht hat Bellzeiten verordnet. Vormittags und nachmittags je eine halbe Stunde, und ab 22 Uhr ist generell Schluss. Dorothee und Michael Klaas sind vermutlich die unbeliebtesten Bewohner der Schliemannstraße zwischen Liskow-, Park- und Laurembergstraße. Das hat sogar auf ihre Kinder abgefärbt. Sie hatten zwar Freunde, aber nicht aus der Umgebung.«
Das Arbeitszimmer im ersten Stock machte einen aufgeräumten Eindruck, was zu dem Umstand, dass die Täter das ganze Haus durchsucht haben sollten, nicht recht zu passen schien. Jonas Uplegger registrierte es, sagte aber noch nichts dazu. Das Zimmer war eindeutig das des getöteten Mannes, der als Architekt gearbeitet und gemeinsam mit seinem Sohn Johannes das Architekturbüro Klaas & Klaas betrieben hatte. Allein die Aufschriften der Aktenordner verrieten es: Da war von einem Bauvorhaben Stadtvillen Froschgraben die Rede oder vom Projekt TOI-Rand 1. Planungsstadium Entwürfe unrein, aber noch beweiskräftiger waren die Ordner und Mappen mit den Aufklebern Klaas & Klaas GbR. Auch die Bücher in einem niedrigen, aber breiten Regal sprachen Bände: »Brandschutz«, »Musterbuch Isolierung«, »Fachkunde Holztechnik«, »Türen- und Fensterbau«. Auf dem ziemlich aufgeräumten Schreibtisch am Fenster, aus dem man einen Blick auf die Schliemannstraße und ein gegenüberliegendes Haus hatte, standen mehrere Bände einer juristischen Schriftenreihe: »Öffentliches Baurecht Band I: Bauordnungsrecht«, »Öffentliches Baurecht Band II: Bauordnungsrecht, Nachbarschutz, Rechtsschutz« sowie »Kreditsicherungsrecht« und »Umweltrecht«, vermutlich alles Dinge, die ein Architekt zu berücksichtigen hatte.
Neben dem Schreibtisch, den Aktenregalen und niedrigen Schränken fanden sich in dem nicht sehr großen Raum eine Couch, auf der mehrere zerwühlte Decken lagen, davor ein runder Glastisch und zwei Stühle aus namenloser Herstellung. Auf diese Weise war eine kleine Sitzecke improvisiert worden, außerdem sah es danach aus, als hätte Michael Klaas in Arbeitspausen ein Nickerchen gemacht. Oder gelesen, denn auf dem Glastisch lag ein Buch. Das große Titelbild zeigte in den Himmel ragende Betontürme, womöglich zwei Silos. Darüber stand in schlichter zweireihiger Schrift: TOWARD A CONCRETE UTOPIA: ARCHITECTURE IN YUGOSLAVIA 1948–1980. Rechts unten war bescheiden ein Signet angebracht: MoMA. Uplegger hatte eine Ahnung, was es bedeutete. Er hatte bereits vor dem Betreten des Hauses Handschuhe übergestreift und konnte sich daher erlauben, das Buch aufzuschlagen. Tatsächlich, so verriet der Klappentext, handelte es sich um das Museum of Modern Art in New York.
In einer dem Fenster und damit auch dem Schreibtisch gegenüberliegenden Ecke stand ein offener Waffenschrank mit Platz für fünf Gewehre und einem Fach für Munition. Uplegger deutete dorthin.
Manfred Pentzien verstand die Geste. »Zur Untersuchung beschlagnahmt«, sagte er knapp.
»Wie viele Waffen hatte er?«, fragte Wendel.
»Fünf, die mutmaßliche Tatwaffe eingeschlossen. Mehr hätten in den Schrank ja auch nicht gepasst.«
»Alles Jagdwaffen?«
»Alles Jagdwaffen«, bestätigte Pentzien. »Also Gewehre. Waidmesser und dergleichen haben wir bisher nicht gefunden, aber wir stehen ja auch erst am Anfang.«
Die Wände in dem Arbeitszimmer waren ebenfalls mit Kunstwerken geschmückt, die allerdings kleiner ausfielen als im Wohnbereich, was sicher mit der Raumgröße zu tun hatte. Dominierend war jedoch ein sehr sorgfältig gezeichneter Plan für ein Wohngebiet, der an der Wand links vom Schreibtisch hing: Wer an dem Schreibtisch saß, musste nur ein wenig den Kopf wenden, um ihn zu sehen. Auf dem Plan gab es ein Schriftfeld, darauf befand sich der Firmenaufkleber sowie die Beschreibung: Projekt TOI-Rand 1. Planungsstadium Reinentwurf 17 IV 21. Jemand hatte den Plan mit rotem und schwarzem Filzstift so heftig durchgestrichen, dass er an einer Stelle einen Riss von mindestens zehn Zentimetern Länge aufwies.
Uplegger warf nur einen kurzen Blick auf die gerahmten Zeichnungen, Ölskizzen und Aquarelle, die keineswegs alle abstrakt waren, eher im Gegenteil. Nur bei einer Ölstudie verweilte er etwas länger. Dargestellt war ein Fischerdorf, jedenfalls nahm Uplegger das an; allem Anschein nach ein mediterranes. Es gab eine Signatur: V. Bukovac 09. Der Name sagte dem Kommissar überhaupt nichts. Allerdings hielt er ihn für südosteuropäisch, für kroatisch oder serbisch oder dergleichen. Er wollte ihn schon googeln, hielt es aber dann doch nicht für wichtig genug angesichts der Umstände, unter denen er sich hier befand.
Viel wichtiger war im Moment der Tresor. Es handelte sich nach der fachkundigen Auskunft ihres Begleiters um einen Wandtresor der Firma Eisenbach mit einem elektronischen Zahlenschloss und doppelwandiger Tür. Sehr groß war er nicht, aber wichtige Unterlagen oder kostbaren Schmuck konnte man schon in ihm aufbewahren. Der Tresor war in die Wand eingemauert, die das Arbeits- vom Nachbarzimmer schied, das nach Auskunft von Manfred Pentzien das Schlafzimmer des Ehepaares war. Anders als in allen Filmen, in denen Wandtresore vorkamen, hatte man ihn nicht hinter einem Bild verborgen, sondern er war für jedermann sichtbar. Vielleicht ließ das darauf schließen, dass Michael Klaas’ Arbeitszimmer für Besucher tabu gewesen war. Wie angekündigt war der Safe leer.
»Was mich irritiert, ist die Ordnung«, sagte Uplegger. »Es sieht aus, als wäre dieser Raum nicht durchsucht worden.«
»Das haben wir natürlich auch registriert«, meinte Pentzien. »Ich kann nicht definitiv sagen, dass die Täter nicht im Schreibtisch gewühlt haben, denn darin sah es aus wie bei Hempels unterm Sofa. Könnte natürlich auch die schöpferische Unordnung des Herrn Architekten gewesen sein.«
»Sind denn alle anderen Räume durchwühlt worden?«, fragte Uplegger noch einmal nach.
»Alle, sogar die Schränke in Bad und Küche. Nun ist dieses Zimmer das letzte im Obergeschoss nach Schlaf- und Kinderzimmer. Will sagen, nachdem die Täter den Tresor entdeckt und die Zahlenkombination aus den Geschädigten herausgeschnitten hatten«, Pentzien hüstelte, »haben sie vielleicht die Schätze gefunden, auf die sie scharf waren. Warum hätten sie dann noch weitersuchen sollen?«
»Klingt logisch.«
»Ihnen, Kollege Uplegger, dürfte aus langjähriger Zusammenarbeit bekannt sein, dass ich nie etwas sage, das nicht logisch ist.« Das hörte sich zwar überheblich an, war aber eher selbstironisch gemeint, denn Pentzien grinste von Ohr zu Ohr.