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Kurz darauf fragt William explizit nach dem Status der Sklaven:
Will. – Sage mir Bruder, haͤltst du deine Sklaven für Menschen? […]
John. Ich behandle sie wie Menschen. […]
Will. (spoͤttisch) Wuͤrklich?
John. Ich gebe ihnen zu essen und zu trinken.
Will. Das giebst du deinen Hunden auch.
John. Sie sind auch nicht viel besser als Hunde. Glaube mir, Bruder, es ist eine eigene Race zur Sklaverey gebohren. (NS 33–34)
Johns Behauptung ist zynisch; er entmenschlicht seine Sklaven – auch sprachlich. John und der Meisterknecht, dem als Schwarzer in Diensten der Weißen die problematische Rolle des grausamen Sadisten zukommt, verwenden immer wieder Tiermetaphern und -vergleiche. Diese gewaltsame sprachliche TheriomorphisierungTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung der Sklaven, die ihrer Behandlung durch die Sprechenden entspricht, durchzieht das Stück. Auch die Sklaven selbst vergleichen sich mit Nutz- oder Haustieren.5
John reduziert das Menschsein und die Menschenwürde zu rein physiologischen, mechanistischen Begriffen: Die (gerade noch arbeitsfähigen) Sklaven sind, was ihre Körperfunktionen betrifft, Menschen. Tatsächlich verschwimmt dann die Grenze zu den zumindest physiologisch ähnlich beschaffenen Nutz- und Haustieren – was John wie selbstverständlich bestätigt. Seine Argumentation ist jedoch zutiefst inkonsequent: Einerseits stellt er zynisch die menschliche IdentitätIdentität der Sklaven fest, wenn es um ihren Unterhalt geht. Andererseits betont er die Differenz zwischen Sklaven und europäischstämmigen Menschen, um die Sklaverei an sich und die entwürdigendeEntwürdigung Behandlung der Sklaven zu rechtfertigen.6 Denn Afrikaner stellen laut John eine eigene „Race“ dar, die sich von jener der europäischen Kolonialherren wesenhaft unterscheidet und deren Mitglieder keineswegs als Selbstzweck, sondern als Mittel zu einem bestimmten Zweck – „zur Sklaverey“ – zu betrachten seien. Die Regieanweisung („spoͤttisch“) gibt nicht nur die unmittelbare Reaktion der innerfiktionalen Figur William vor, sondern deutet auch an, wie die Rezipienten auf John reagieren sollen: ablehnend. Dieser moraldidaktische Impetus wird in der sehr konstruiert wirkenden Szene überdeutlich. Auf teilweise stichwortartige Fragen Johns7 folgen jeweils mehr oder weniger ausführliche Widerlegungen Williams. Johns anaphorisches „Aber“ (vgl. NS 35–36), mit dem er seine Argumente und Fragen einleitet, wirkt lächerlich, macht aber die Funktion des Wortwechsels klar: Es geht um die Kreation einer schroffen (auch rhetorischen) Opposition, deren Positionen implizit eindeutig bewertet werden. Das didaktische Prinzip These – Antithese oder argumentatio – refutatio, das scheinbar allgemeine Vorurteile oder mögliche Einwände des Rezipienten vorwegnimmt und verbalisiert, wirkt in seiner Holzschnittartigkeit zwar plump, lässt die dem Stück zugrundeliegende Intention jedoch umso schärfer hervortreten.
In Johns Zynismus mischen sich unverhohlen rassistische Vorurteile und eine pseudotheologische Begründung: GottGott habe die Afrikaner als Nachfahren des Brudermörders Kain (und nicht nach seinem EbenbildGottebenbildlichkeit) geschaffen, deshalb seien sie „schwarz“, „spitzbuͤbisch, boshaft und dumm“ (NS 34).8 Diese pauschal zugeschriebenen Eigenschaften negiert William nicht (!), begründet sie aber nicht aus dem Wesen der Sklaven, sondern stellt sie als Folge der EntwürdigungEntwürdigung durch die weißen ‚Besitzer‘ dar: „O ihr habt Alles gethan, um diese Ungluͤcklichen herabzuwuͤrdigen, und dann beklagt ihr euch noch, daß sie dumm und boshaft sind“ (NS 34).
Danach nimmt der Dialog Bezug auf einen Aspekt des Menschenwürdebegriffs, der gerade im Kontext des Sklavenhandels bedeutsam ist. Zunächst stellt William – geradezu naturrechtlich, aber an der sozialen Realität vorbei – fest, dass auch Schwarze frei geboren werden. Johns Legitimierungsstrategie ist perfide: Er rekurriert auf Schlagworte des Menschenwürdediskurses, um sein Menschenbild zu verteidigen. So wirft er ein, dass, wenn ein Sklave sein natürliches Recht auf SelbstbestimmungSelbstbestimmung wahrnimmt und sich und seine FreiheitFreiheit verkauft, der ‚Käufer‘ nicht zu kritisieren sei. William versucht ihn – seinerseits mit einschlägiger Wortwahl – zu widerlegen:
Will. Die Freyheit des Menschen hat keinen Preiß.
John. Desto schlimmer fuͤr ihn, wenn er mir ein kostbares DingObjekt, Objektifizierung, Ding, Verdinglichung, DinghaftigkeitDing, Verdinglichung, Dinghaftigkeit (s. Objekt, Objektifizierung) wohlfeil verkauft. […]
Will. Verkaufen? Das darf er nicht, weil er nicht Alles darf, was ein ungerechter Herr als Sklave von ihm fordern koͤnnte. Er gehoͤrt seinem ersten Herrn, GottGott! Der ihn nie frey ließ. Der Mensch kann sein Leben verkaufen, wie der Soldat, aber nicht den Mißbrauch seines Lebens, wie der Sklave. (NS 35)
Eindeutig auf kantischeKant, Immanuel Terminologie bezieht sich die Rede vom „Preiß“. Bei Kant ist es jedoch nicht die FreiheitFreiheit des Menschen, sondern der Mensch selbst, „als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen VernunftVernunft“, der „über allen Preis erhaben“ ist – und genau deshalb „Würde“ besitzt.9 Aufgrund dieser Würde verdient er AchtungAchtung; diese darf er auch selbst nicht kompromittieren. Seine „Würde verleugnen“ würde er u.a., wenn er sich „knechtisch“ machte und so die Pflicht der SelbstachtungSelbstachtung verletzte.10 Wenn der Mensch „die höchste Selbstschätzung als Gefühl seines inneren Werts (valor), nach welchem er für keinen Preis (pretium) feil ist“, missachtet, verstößt er gegen die ihm durch seine „unverlierbare Würde (dignitas interna)“ auferlegte Pflicht der Selbstachtung. Zur Illustration dieses Gedankens zitiert Kant einen Bibelvers (I Kor 7,23): „Werdet nicht der Menschen Knechte.“11 Der Sklave wird so zu einem negativen Paradigma des kantischen Menschenwürdebegriffs.
In Johns Argumentation wird der sich selbst entwürdigendeEntwürdigung Mensch, der freiwillig und selbstbestimmt seine eigene Würde missachtet, durch eigenes Verschulden zum TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung. Da er, mit KantKant, Immanuel gesprochen, „einen gemeinen Wert (pretium vulgare)“ oder „einen äußeren Wert seiner Brauchbarkeit (pretium usus)“ erhält,12 zur Ware verkommt und – paradoxerweise – durch einen personalen Akt auf seine Personalität verzichtet,13 darf er ohne Bedenken und ohne Gewissensbisse wie ein Tier behandelt werden. Genau das bestreitet William: Sich selbst zu verkaufen verbietet in seinen Augen nicht primär die SelbstachtungSelbstachtung, auch nicht unbedingt die Menschenwürde, sondern das Gebot GottesGott. „Ihr seid teuer erkauft“, heißt es unmittelbar vor der von Kant zitierten Passage im ersten Korintherbrief – nur Christi Knecht soll der Mensch sein. Auf diese metaphorische Knechtschaft spielt auch William an: „GottGott“ ist der metaphorische ‚Besitzer‘ („gehoͤrt“) des Menschen. Zwar könne ein Mensch, so William, sein Leben verkaufen (wie der Soldat oder Söldner), den „Mißbrauch“ desselben aber nicht.
Diese Unterscheidung bleibt zunächst unklar, denn auch den Einsatz eines Soldaten in einem KriegKrieg kann man als Missbrauch, als HerabwürdigungEntwürdigung zum Mittel zu einem bestimmten Zweck (z.B. dem Sieg in der Schlacht) deuten. William zielt aber hier auf etwas anderes ab: auf die Unmöglichkeit, sich durch einen Verkauf oder eine unmenschliche Behandlung seiner Menschheit und somit seiner Würde berauben zu lassen. Ein Indiz dafür ist das benutzte Modalverb: Er spricht nicht davon, dass der Mensch seine FreiheitFreiheit oder den „Mißbrauch seines Lebens“ nicht verkaufen darf, sondern davon, dass er es nicht kann. Der Mensch besitzt also eine (von KantKant, Immanuel so bezeichnete) „unverlierbare Würde“.14 Eine menschenunwürdige Behandlung ist niemals zu rechtfertigen, auch nicht durch Johns Gedankenkonstrukte. Der Dialog greift aber auch ein immer noch aktuelles begriffliches Problem der Menschenwürde auf: Sie wird einerseits verstanden als unveräußerliches Wesensmerkmal, andererseits als Anspruch gegenüber anderen, der missachtet oder verletzt werden kann.15
William weist in der Folge noch weitere Argumente seines Bruders zurück.16 Sklavenhalter laden in seinen Augen unweigerlich Schuld auf sich. Auch die Missionierung von Andersgläubigen lässt er als Rechtfertigung nicht gelten: „Wenn die Religion Verbrechen heiligt, hinweg mit ihr auf ewig!“ (NS 37).
Innerfiktional profiliert dieser Dialog John und William als Protagonisten und Antagonisten, deren unterschiedliche Positionen das dramatische Geschehen um die Sklaven überhaupt erst ermöglichen. Außerfiktional betrachtet, markiert die Konfrontation zum einen die Frage nach der Definition des Menschseins und der Begründung der Menschenwürde als Leitmotiv der Rezeption, zum anderen etabliert sie den begrifflichen Bewertungsrahmen für die im Drama vorgeführten Figuren. Dem Rezipienten wurde – zunächst sprachlich-argumentativ und unter Rückgriff auf naturrechtliche, theologische, aber auch moralphilosophische Argumente – bewiesen, dass die Sklaven Menschen sind, die es in ihrer Würde zu achten gilt. Der Sklaverei wurde dialogisch ihre ideologische Grundlage entzogen.
Das Ende der Szene problematisiert die vermeintlich klare Aussage jedoch in zweifacher Hinsicht: Zum einen bemerkt John mit bissigem Spott, dass auch Williams Vermögen das Resultat von Sklavenausbeutung ist, „und es behagt dir wohl, nicht wahr?“ (NS 37). Zum anderen verhöhnt er William für sein Vertrauen in die eigene Überzeugungskraft: „Afterphilosophie“ seien seine Ausführungen, „eitel Declamation von hohen Schulen mitgebracht“ (NS 37). Nachdrücklich verweist John auf die Diskrepanz von Theorie und Praxis, von Ideal und Wirklichkeit – ein Vorwurf, den man auch gegenüber den hochtrabenden klassisch-idealistischen Programmen vorbringen könnte. In Bezug auf das konkrete Drama lenken sie jedoch den Fokus auf jene künstlerischenKunst, Künstler Mittel, die über das reine Artikulieren von bestimmten Ansichten hinausgehen: auf die spezifische Leistung der Literatur, die die Menschenwürde mit ihren Mitteln konstituiert.
III.3. Die literarische Konstitution von Menschenwürde
KotzebuesKotzebue, August von Stück ist kein Ideendrama. Es ist allerdings auch keine bloße Effekthascherei; vielmehr zieht der Dramatiker bei der Gestaltung seiner Sklavenfiguren unterschiedliche Register, um ihre Menschenwürde im dramatischen Spiel entstehen zu lassen und als Faktum im Rezeptionsvorgang zu transportieren. Kotzebue kreiert ein Zusammenspiel von mentalitätsgeschichtlichen und literaturhistorischen Aspekten, innerfiktionalen Elementen und intertextuellen Verweisen, um, aus der außerfiktionalen Perspektive betrachtet, eine anthropologische Gleichheit zwischen Figuren und Rezipienten herzustellen.
In seinem Vorbericht bekennt der Verfasser, dass er, „waͤhrend er dieses Schauspiel schrieb, tausend Thraͤnen vergossen“ habe, und schließt daran die Hoffnung, des Zuschauers Tränen möchten sich mit seinen „mischen“ (NS 4). Dies ist aus produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive aufschlussreich: Bewusst schreibt sich der Dichter in eine bestimmte Tradition ein – den Gefühlskult der Empfindsamkeit, das weinerliche Lustspiel, das Rührstück, die radikale Affektbetonung des Sturm und Drang1 – und erwartet ein Publikum, das diese Rezeptionshaltung kennt und kultiviert. Mit der Gestaltung von Handlung und Figuren aktiviert er ein (möglicherweise diffuses, aber doch vorauszusetzendes) Wissen über Theaterkonventionen und Literaturgeschichte und kann so mit bestimmten Effekten kalkulieren.
Bereits die ersten beiden expositorischen Szenen, die bezeichnenderweise die beiden Sklavinnen Ada und Lilli in den Blick nehmen, sollen ein bestimmtes Bild der schwarzen Sklaven evozieren. Die beiden Frauenfiguren werden nicht als exotische oder tierähnliche Fremde gezeichnet; Ada, die weibliche Hauptfigur des Stücks, ist eine Reflektierende, aber mehr noch Fühlende, Liebende. Ihr „Leiden“ (NS 15) ist kein primär physisches, sondern ein emotionales: Getrennt von ihrem Geliebten, wird sie von John sexuellSexualität, Sex bedrängt. Gedanken und Gefühle artikuliert sie ausgiebig – in genau jener Sprache, die man auch von einer weiblichen Figur europäischen Hintergrunds in einem Stück auf einer deutschen Bühne in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erwarten würde.2 Die Prosa ihrer Rede ist wohlklingend, gefühlsbetont, von Interjektionen („Weh mir!“, „Ach!“; NS 10–13), Parallelismen und Anaphern (NS 11) gekennzeichnet, vor allem aber durchaus poetisch und bildreich.3 Die Reden der Sklavenfiguren durchziehen zudem Schlagworte des bürgerlichen Verhaltens-, Werte- und Befindlichkeitskanons: Immer wieder ist von Treue, TugendTugend, Liebe, Hoffnung, Unschuld u.Ä. die Rede.4 Besonders auffällig sind in dieser Hinsicht zwei Leitmotive: das Herz5 und das Weinen.
Alle Hauptfiguren sprechen zu irgendeinem Zeitpunkt, meist wiederholt, von ihrem Herzen. Vielsagend sind dabei die Bedeutungsunterschiede: Während für die Sklaven – und William! – das Herz eine Metapher für die eigene Emotionalität, den Schmerz, den Instinkt oder eine auf das gesamte IndividuumIndividuum, die Person, das Ich verweisende Synekdoche darstellt, verspottet John den Gebrauch des Worts. Charakteristisch ist Szene I,3. William ist schockiert über Johns menschenverachtendes Sklavenbild:
William. Meine Lippen schweigen, aber mein Herz widerspricht laut.
John. Das Herz! das Herz! Leerer Schnickschnack […] Das Herz ist ein Klumpen Fleisch, weiter nichts. Es gehorcht dem Willen eben so gut als Arme und Beine. (NS 18)
Kurz darauf versucht Ada, sich gegen Johns Zudringlichkeiten zu wehren:
John. Du scherzest mein Kind.
Ada. Scherzt man auch mit thraͤnenden Augen und blutendem Herzen?
John. Da haben wirs! da ist das Herz schon wieder. Eine verdammte Redensart! Ich wette, dein Herz blutet nicht um einen Tropfen mehr als vorher. (NS 19–20)
John ridikulisiert den metaphorischen Rekurs auf das Herz, indem er ihn als gefühlsduseliges Gerede brandmarkt und ihm ein wörtliches, mechanistisches Verständnis gegenüber stellt. Statt im Herzen den Ursprung von Empathiefähigkeit und Menschlichkeit zu sehen, reduziert er es, seinem Bild des Sklaven entsprechend, auf das rein Körperlich-Materielle.6 KotzebueKotzebue, August von profiliert so die Figur John – vor der Folie der empfindsamen Affektbejahung – zum eigentlichen ‚Unmenschen‘.7 Dies bedeutet im Umkehrschluss: Jene, die sich auf ihr Herz berufen können, sind würdige Menschen.
Ähnliches gilt für das Weinen. Im Drama weinen viele, Ada, Lilli, Truro, Ayos8 – also die schwarzen Sklaven – und William. Als eine Sklavin die erschütternde Geschichte erzählt, wie sie ihr eigenes Kind umgebracht hat,9 reagiert William zunächst „zerknirscht“: „Mein Herz will mir springen!“ Truro wischt sich eine Träne aus den Augen, William „verhuͤllt sein Gesicht“ und weint. Einer der Sklaven kommentiert diese Reaktion aufgeregt: „[…] wahrhaftig es sind Thraͤnen. […] Sieh da, ein Weißer, der auch ein Mensch ist“ (NS 60–61). Die wirkästhetische Logik dieser Szene ist bemerkenswert: Indem William beweist, dass er des „MitleidenMitleid[s]“ (NS 60) fähig ist – die Vokabel wird im Text explizit genannt10 –, wird er – in den Augen der Sklaven! – erst zum Menschen. Dem Rezipienten wird mehr als deutlich signalisiert, dass das Beweinen und Mitleiden die moralisch angebrachte Reaktion ist. Wie bei LessingLessing, Gotthold Ephraim hat das Mitleid hier einen reziproken Effekt: Jene, die angesichts des geschilderten und dargestellten Leids weinen – wie William, aber auch der Dichter und, so die in der Vorrede geäußerte Hoffnung, die Zuschauer –, sind Menschen. Dadurch, dass die Sklaven und ihr Schicksal beweint werden, werden sie als gleichwertige, mitleidswürdige Menschen wahrgenommen. Die Menschlichkeit der Sklaven, mithin ihre Würde, wird demnach nicht nur innerfiktional, indem sie selbst als emotionsfähige Figuren gezeigt werden, sondern auch im ästhetischen Moment, im Rezeptionsvorgang, konstituiert. Lessings Maxime, dass der mitleidigste Mensch der beste Mensch sei, hat auch hier volle Gültigkeit.
Dieses Prinzip wird nun durch mehrere Faktoren verstärkt. Zum einen enthält das Drama eine Vielzahl von epischen Elementen, kurze ‚Binnenerzählungen‘, in denen Sklavenfiguren ihre persönliche Biographie rekonstruieren oder Einblick in den Sklavenalltag geben, meist gespickt mit grauenhaften, abstoßenden Details.11 Als ‚historische‘ Anekdoten liefern diese Passagen Faktenwissen über die bestürzende Situation der Sklaven. Durch das Erzählen behaupten sich die entwürdigtenEntwürdigung, zu Arbeitstieren degradierten Sklaven zudem als Personen, die ihre eigene Leidensgeschichte nicht nur reflektieren, sondern auch sprachmächtig und rhetorisch versiert verbalisieren können. Schließlich – und das ist vielleicht der entscheidende Effekt – verleihen sie dem abstrakten Faktum der menschenwürdeverletzenden Qualität der Sklaverei auf der Bühne einen verkörperten Ausdruck. Indem die Geschichten auf der Bühne von einer Figur erzählt werden, erhalten sie einen KörperKörper – und werden so zur Projektionsfläche für das MitleidMitleid der Zuschauer. Diese Rezeptionshaltung wird, und dies ist der zweite Faktor, im Text auf recht offensichtliche Art und Weise gesteuert. Innerfiktionaler Adressat der Erzählungen ist in den meisten Fällen die Figur William; in seinen „mitleidig[en]“ (NS 44) Reaktionen – verbal in seiner Rede oder gestisch in Regieanweisungen – ist die erwartete Reaktion des Rezipienten vorweggenommen und vorgegeben.12
Zum dritten erfährt die Figurenzeichnung im Verlauf des Stücks eine merkliche Entwicklung. Wurden die Sklaven, besonders Ada, als empfindsame Menschen eingeführt, wird diese Empfindsamkeit gegen Ende hin zu extremem Pathos gesteigert. Bereits die Wiedervereinigungsszenen im zweiten Akt zwischen Vater (Ayos) und Sohn (Zameo) bzw. Mann (Zameo) und Frau (Ada) waren von affektiver Erregung geprägt;13 der Höhepunkt ist jedoch der tragische Schluss des Stückes. John hat gedroht, Adas Ehemann Zameo zu töten, sollte sie sich ihm nicht hingeben. Ada ist verzweifelt, zaudert, sucht nach einem Ausweg, bittet ihre Freundin Lilli um ein Messer, überlegt sogar, John nachzugeben. Schließlich überredet sie ihren geliebten Zameo, sie umzubringen, um sie nicht zur „Buhlerin eines Unmenschen [zu] erniedrigen“ (NS 133), was sie zu einer Art Liebesbeweis, aber auch zu einem Akt des MitleidsMitleid (!) (vgl. NS 130) hochstilisiert. Merklich verändern sich im dritten, finalen Akt ihre Sprache und Gestik. In manchen Passagen redet sie nur noch in exclamationes, Aposiopesen, rhetorischen Fragen, unterbrochen von Interjektionen, Geminationen und etlichen Pausen – graphisch markiert durch eine Vielzahl von Ausrufezeichen und Gedankenstrichen.14 Gehäufte Regieanweisungen beschreiben Gesten der Verzweiflung und schnelle Bewegungen auf der Bühne.15 Gleich zweimal fällt sie sogar in Ohnmacht.16 KotzebueKotzebue, August von inszeniert Adas extreme Emotionslage mit großem dramaturgischem Aufwand. Die Figur selbst kommentiert die eigene Gemütslage: „[S]ieh mich an! sieh wie jede Nerve zittert, fuͤhle meine Wange wie sie gluͤht, meine Brust wie sie klopft; kann ich meinem Puls gebieten?“ (NS 107). Ada verkörpert zu diesem Zeitpunkt keineswegs das klassische Ideal der ‚stillen Größe‘, der ‚Ruhe im Leiden‘ oder der SchillerschenSchiller, Friedrich ‚Würde des Ausdrucks‘ – was die Figur trotzdem nicht delegitimiert. Ihre fehlende Affektkontrolle ist, vor dem Hintergrund des im Stück entwickelten Menschenbildes und der Definition von Emotionalität und Empathiefähigkeit als Grundlage der Menschenwürde, zwar extrem, aber in sich stimmig und konsequent.
Daher wirkt es zunächst merkwürdig, wenn sich Ada in der Folge zweimal selbst als „ruhig“ beschreibt (NS 110, 121). Verständlich wird dies erst mit Blick auf ihren Tod. Dieser ist ein Zitat; KotzebueKotzebue, August von gestaltet Ada als Nachfolgerin Emilia Galottis. Ihr Tod, so Ada, sei das einzige „Mittel, meine Unschuld zu retten“ (NS 123). Gegenüber Zameo präzisiert sie:
Ada. Ich habe dir ewige Treue geschworen, ich habe meinen Schwur gehalten, aber wer steht mir für die Zukunft? wer schuͤtzt mich vor GewaltGewalt? wer vor den sanfteren Regungen des MitleidsMitleid, wenn die Gefaͤhrten unsers Elends um mich her knieen, und mit blutigen Thraͤnen das Opfer meiner Unschuld heischen? – Wessen Arm soll ich auffodern, wenn der deinige mich zuruͤckstoͤßt? […] (NS 129)17
Aufschlussreich ist genau der Punkt, an dem Ada von Emilia abweicht: Sie hat keine Angst vor der eigenen SexualitätSexualität, Sex, vor den Wallungen des eigenen Blutes, die ihre Unschuld kompromittieren könnten, sondern vor den „Regungen des MitleidsMitleid“ für ihre Leidensgenossen. Da sie diese nicht verbannen kann, ohne ihre eigene Würde zu gefährden, will sie sterben. Ihr Todeswunsch, wenn auch pathetisch formuliert, ist keine Kurzschlussreaktion, keine Affekthandlung, sondern wird im Stück mehrfach vorweggenommen. In diesem Sinne ist Ada „ruhig“; sie ist „Herr[in] [ihres] Schicksals“ (NS 110). Ihr Tod ist die autonomeAutonomie Entscheidung einer zwar leidenschaftlichen, aber doch der Reflexion fähigen Figur.
*
Doch KotzebueKotzebue, August von gestaltet die Sklavenfiguren nicht nur als dem Rezipienten emotional-affektiv gleiche Menschen. In einem Dialog über die Qualen ihrer Existenz führen die Sklaven die anatomisch-physiologische Gleichheit zwischen Europäern und Afrikanern als Beweis für die Unrechtmäßigkeit von Ausbeutung und EntwürdigungEntwürdigung an:
Truro. So geht man mit uns um, weil wir schwarz sind.
Lilli. Und doch war die Muttermilch, welche wir gesogen, auch weiß.
Ada. Und unser Blut ist auch warm und roth. (NS 48)
Hatte John im Rededuell mit William die Menschlichkeit der Sklaven auf basale physiologische Prozesse reduziert und auch das Berufen aufs Herz entmetaphorisiert, so drehen die Sklaven diese Denkfigur hier um. Die Farbmotivik verbindet sich mit der Opposition innen vs. außen: Äußerlich sind die Sklaven anders, innerlich nicht. Gerade das Körperlich-Kreatürliche untermauert die grundsätzliche IdentitätIdentität aller Menschen und den Anspruch auf AchtungAchtung ihrer Würde.
Schließlich betont KotzebueKotzebue, August von die moralische Gleichheit, wenn nicht sogar Überlegenheit, der Sklaven, die er bereits im Vorbericht mit „zwey wahre[n] Anecdoten“ zu belegen versucht (vgl. NS 4–6). Im Stück soll der Zuschauer zum einen Adas Treue und TugendhaftigkeitTugend bewundern, zum anderen die spontane, vorreflexive MoralitätMoral, Moralität des Zameo. Kurz nachdem ihn der Meisterknecht misshandelt hat, rettet er diesen vor einem tödlichen Schlangenbiss; eine Belohnung lehnt er ab. William preist den „edle[n] Juͤngling“ (NS 83): „Mensch! ich glaubte immer, GottGott habe aus Einem Stoffe uns geformt; ich irrte mich, er schuf euch besser!“ (NS 84).18 Die Benennung oder „Anrufung“19 Zameos als „Mensch“, die, als Sprechakt gedeutet, diesen durch Sprache als solchen konstituiert, ist ein direkter Verweis auf die Apostrophierung des Meisterknechts als „Unmensch“ (NS 81; vgl. NS 110). Dies weist auf die Ambiguität der Apostrophen und der Metaphern hin, die sich auf die Sklaven und ihre Herren beziehen. Während die Sklaven in der sprachlichen Benennung durch ihre Peiniger, aber auch in der Versprachlichung ihrer eigenen Erfahrungen immer wieder in die Nähe von Tieren gerückt werden, passiert ganz Ähnliches mit den Sklavenhaltern. Ada nennt John spielerisch „Affe“ (NS 21); den Meisterknecht fleht sie an: „Tyger! du hast ein menschlich Antlitz! Erbarme dich!“ (NS 102). Diese Klimax ist signifikant: Spricht Ada dem Meisterknecht zunächst jede Menschlichkeit ab, indem sie ihn theriomorphisiertTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung, weist sie sodann auf sein „menschlich Antlitz“ hin, eine Formulierung, die ihn mit ihren religiösen Konnotationen daran erinnern soll, dass er als würdiges EbenbildGottebenbildlichkeit Gottes geschaffen wurde. Ihr abschließender Appell ist die Forderung, sich der menschlichen Würde würdig zu erweisen – indem er MitleidMitleid zeigt.
Den Rezipienten fordert dieses Oszillieren zwischen Mensch und Un-/Nicht-Mensch sowohl in Bezug auf die Sklaven als auch auf die Sklavenhalter nachdrücklich zur Beurteilung der Frage auf, wer hier eigentlich keine Würde hat: der EntwürdigteEntwürdigung oder der Entwürdigende, den das Erniedrigen Anderer zum amoralischen TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung degradiert.20 Das Oszillieren zeigt sich auch in der Figurenkonstellation: Im Drama stehen sich nicht die weißen Kolonialherren auf der einen und die schwarzen Sklaven auf der anderen Seite entgegen. Vielmehr steht der schwarze Meisterknecht dem weißen Sklavenhalter John in Bezug auf Menschenverachtung, Sadismus und Brutalität in nichts nach; William hingegen solidarisiert sich mit den Sklaven und wird von diesen akzeptiert und geschätzt. Menschlichkeit und Menschenwürde haben demnach nichts mit Herkunft, „Race“ oder äußerlichen Merkmalen zu tun.