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„Sehr witzig“, sagte Phil. „Kommt, lasst uns endlich zur Straße gehen und diesen seltsamen Wald hinter uns bringen.“
Eine Art Findling, so groß wie ein Koffer, lag neben dem Weg, der in die Autostraße mündete.
Während die Kinder noch dastanden, hörten sie Bremsen quietschen und sahen, dass ein Auto hielt. Es war ein alter Mercedes, der schon bessere Tage erlebt hatte. Dort, wo der Auspuff saß, qualmte weißer Rauch nach oben. Hinter dem Steuer saß ein Mann, der nicht gerade Vertrauen erweckend aussah, denn er hatte einen wilden Vollbart, der bis auf die Brust reichte, eine lange Narbe zog sich über die Stirn, und seine Augen sahen für die Kinder irgendwie stechend aus. Die Seitenfenster waren heruntergekurbelt.
„Na?“ Seine Stimme klang laut und unangenehm, und Phil sah, dass im offenen Handschuhfach ein Revolver lag.
„Wo wollt ihr denn hin?“
„Wir machen gerade einen … einen Spaziergang und wollen zur nächsten Ortschaft“, antwortete Gina.
„Aha“, brummte der Bärtige. „Und wo kommt ihr her?“
„Na, aus dem Wald da hinten“, sagte Gina und ihre Stimme zitterte ein wenig.
Der Bärtige trommelte nervös auf dem Steuerrad herum und blickte schnell hin und her.
„Los, steigt ein!“, befahl er. „Ich fahre euch zur nächsten Stadt.“
Die drei zögerten.
„Steigt ein, hab ich gesagt“, brüllte der Mann und griff nach dem Revolver. „Wenn ihr nicht sofort einsteigt, knall ich euch alle nieder!“ Das kürzte die Entscheidungsfindung erheblich ab.
Alle drängten sich nach hinten.
„Die Rothaarige soll nach vorne.“ Der Mann fuchtelte mit seiner Waffe herum, und Gina ließ sich zitternd auf dem Beifahrersitz nieder.
Er drehte an einem Knopf und fuhr langsam weiter.
„Manche Leute muss man zu ihrem Glück zwingen“, brummte er in seinen Bart. „Möchte bloß wissen, wo ihr herkommt, sonst wüsstet ihr, dass die Gänseblümchen wieder gefährlich werden, gerade jetzt um diese Zeit. Hier!“, er zeigte mit dem Revolver zu der Wiese hin, die neben der Straße lag. „Alles voll davon. Verdammte Killerblumen!“ Er schoss während der Fahrt in die Wiese und zog seine Hand wieder zurück.
„Das hätte schlimm enden können für euch, wenn ihr über die Wiesen gegangen wärt mit euren schmalen Schuhen. Seid froh, dass der alte Hieronymus euch gerettet hat. Natürlich hätte ich euch nicht wirklich erschossen.“
„Wie … wieso sind denn Gänseblümchen gefährlich?“, fragte Gina vorsichtig.
Hieronymus antwortete nicht, sondern streckte den Arm aus und winkte. Hinter ihnen quietschten Bremsen, und ein Ford zog links an ihnen vorbei. Gerade noch rechtzeitig vor dem Gegenverkehr.
„Hab ihn vorgelassen“, sagte Hieronymus. „Die Leute haben keinen Respekt mehr vor Langsamfahrern. Werden immer waghalsiger. Kein Gefühl mehr für Gefahr.“ Dann blickte er die Kinder an.
„Und was soll die blöde Frage, warum Gänseblümchen gefährlich sein sollen?“
Er seufzte und beantwortete seine Frage selber: „Seid wahrscheinlich aus einer netteren Gegend als hier, vielleicht hat die Veränderung noch nicht überall so tief eingegriffen.“ Er drückte wieder auf einen Knopf. Der Wagen wurde etwas schneller.
Bäume säumten die Straße. Dann tauchte das Ortsschild auf.
„Garbstetten“, lasen die drei verwundert. Hieß nicht eine Ortschaft in ihrer Nähe auch so ähnlich?
Wieder quietschten die Bremsen, und der Fahrer hielt. „Ich lass euch hier mal raus, muss gleich abbiegen. Also, ihr Hinterwäldler, passt auf euch auf.“ Er kramte in seiner Tasche und gab Gina eine Karte.
„Meine Adresse. Falls ihr mich mal braucht.“
Gina räusperte sich und sagte: „Vielen Dank, ähm … Hieronymus, aber trotzdem möchte ich wissen, warum Gänseblümchen nun gefährlich sind.“
Die andern auf der Rückbank blickten sich vielsagend an.
Hieronymus ließ die Hände sinken und blickte träumend nach draußen.
„Oh, ihr Glücklichen, wenn ihr‘s nicht wisst. Ich kann mich noch erinnern, dass meine Tochter Gänseblümchen im Haar gehabt hat.“
Gina zuckte zusammen, weil Hieronymus‘ Kopf auf das Lenkrad knallte. Dann hörte sie, wie er laut schluchzte. „Stellt euch das vor: Gänseblümchen im Haar!“
Er hob den Kopf, wischte sich über die Augen und sagte: „Gänseblümchen sind gemein. Sie töten hemmungslos, wo sie können. Natürlich sind nicht alle Gänseblümchen so. Das ist ja das Gemeine. Aber man weiß nie. Am besten nicht anfassen, sonst bist du erledigt. Mein Gott! Gänseblümchen im Haar!“
Er blickte wieder sinnend ins Weite, dann fuhr er fort und seine weinerliche Stimmung war verflogen. Stattdessen kam Wut hoch: „Aber daran ist nur dieser Vogel schuld. Wenn ich es könnte, ich würde seinen Kopf mit meinen bloßen Händen umdrehen, und es würde mir das größte Vergnügen bereiten …“
Die drei saßen schweigend im Auto und begriffen immer weniger. Als Hieronymus nichts mehr von sich gab und nur verzweifelt nach draußen sah, sagte Gina vorsichtig: „Also … wir steigen dann mal aus und vielen Dank fürs Mitnehmen.“
Sie öffnete leise die Tür und kletterte aus dem Auto. Die anderen taten es ihr nach. Hieronymus blickte auf, nickte den Kindern zu, tippte an seine Stirn, als trüge er eine Mütze, und fuhr weiter.
Als das Auto um die Ecke gebogen war, sagte Joker: „Mann! Das war das Schärfste, was ich je erlebt habe. Da fuchtelt dieser Hieronymus doch echt mit einem Revolver in der Luft herum und erschießt Gänseblümchen. Ich glaube, er hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.“
„Scheint mir auch so“, sagte Phil. „Diese stechenden Augen gefielen mir von Anfang an nicht.“
„Ich möchte jetzt nur eins“, erklärte Gina mit selten entschlossener Stimme: „Ich will möglichst schnell die Straße zurückgehen bis zu unserem Stein, leise durch den Wald schleichen, mich in die Kugel stürzen und auf der netten, harmlosen, gemütlichen Schonung ankommen, dann nach Hause gehen, duschen, lange schlafen und nie mehr diesen Wald besuchen.“
„Ich schließe mich meiner Vorrednerin an“, sagte Joker.
„Okay“, meinte Phil. „Ich komm auch mit, schließlich kann man euch nicht so allein durch die Gegend gehen lassen.“
Sie gingen im Sturmschritt die Straße zurück. Nach kurzer Zeit lief ihnen der Schweiß nur so herab, aber das war ihnen gleichgültig.
Sie erreichten den Stein, bogen zum Wald ab und schlichen mucksmäuschenstill den Weg entlang. Keine Nüsse flogen durch die Luft. Jokers Beobachtung musste eine Täuschung gewesen sein. Sie kamen zu dem abgebrochenen Baum, und da war auch schon ihre kleine Lichtung.
Mit großer Erleichterung sahen sie dort die Kugel liegen. Einer nach dem anderen verschwand darin.
Als sie alle wohlbehalten wieder auf dem Boden ihrer Tannenschonung saßen, sagte Phil: „So, und jetzt müssen wir mal überlegen, was das Ganze bedeuten soll.“
Joker stand auf. „Das können wir auch unterwegs bereden.“
Aber so sehr sie auch alles durchsprachen, richtig verstehen konnten sie die Ereignisse nicht.
Gina meinte: „Wahrscheinlich war ein anderer Junge in dem Wald und hat nach uns geworfen, und Joker hat zufällig ein Eichhörnchen gesehen. Und dass dieser Hieronymus nicht ganz dicht war, ist doch jedem klar gewesen, oder? Gänseblümchen als Killerblumen! So ein Quatsch!“
„Ich fand es beruhigend, dass die Ortschaft irgendwo in unserer Nähe sein muss. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor“, sagte Phil.
Sie verabredeten sich für den nächsten Nachmittag bei Gina, und Joker meinte, es sei gut, eine Nacht darüber zu schlafen.
Und so gingen Ginas Wünsche tatsächlich in Erfüllung. Sie duschte, ging früh ins Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.
Nur ihr letzter Wunsch, nie mehr den zeitlosen Wald zu besuchen, ging nicht in Erfüllung.


„So, dann gib mal die Karte her“, sagte Phil.
Er lag mit dem Rücken auf Ginas Couch und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
„Du führst dich auf, als ob du hier der Chef wärst“, giftete Gina zurück.
„Meine Güte, bist du empfindlich!“, brummte Phil und rappelte sich auf. „Sind alle Italienerinnen so?“
„Das hat damit gar nichts zu tun. Es kommt auf den Ton an. Ich bin schließlich nicht deine Sklavin.“ Sie öffnete die Tür und ging hinaus.
„Mamma mia!“, murmelte Phil.
„Komisch“, ließ sich Joker hören, der vor dem Tisch saß, schon längst die Karte studierte und auf das kurze Wortgefecht gar nicht geachtet hatte. „Es gibt hier in der Gegend eine Ortschaft, die Grabstetten heißt, aber ich meine, auf dem Ortsschild gestern stand Garbstetten.“
Phil, der aufgestanden war und sich auch über die Karte beugte, nickte. „Ja, ich bin ziemlich sicher, dass ich auch Garbstetten gelesen habe. Na, vielleicht ein Druckfehler, aber wie auch immer, das sind ungefähr fünfzehn Kilometer, die könnten wir mit unseren Rädern locker hin und zurück fahren. Und dann sehen wir ja, ob das die Ortschaft ist oder nicht.“
Die Tür ging auf, und Gina erschien mit einem Tablett, auf dem drei Gläser mit Cola und eine Schale mit Nüssen standen.
Sie stellte das Tablett ab und reichte Joker demonstrativ als erstes ein Glas.
„Danke.“
Phil, der das Manöver verfolgt hatte, griff zum nächsten Glas und überreichte es Gina mit einer kleinen Verbeugung: „Signorina?“
Unwillkürlich musste Gina lächeln und nahm die Cola in Empfang. Und wenn Gina lächelte, wurde es gleich viel heller im Raum.
„Grazie.“
Joker tippte sich wortlos an die Stirn.
„Also, dann fahren wir gleich mal hin“, schlug er vor.
„Wo fahren wir hin?“, fragte Gina.
„Wir haben diese Ortschaft von gestern gefunden, aber sie heißt nicht Garbstetten, sondern Grabstetten.“
„Klar, Grabstetten kenne ich. Das liegt doch hier in der Nähe. Ich hab mich gestern schon gewundert über den Schreibfehler. Und das auf einem Ortsschild!“
„Na ja“, meinte Joker, „vielleicht ist es ja gar nicht der Ort, wo wir gestern waren, vielleicht gibt es ja Garbstetten und Grabstetten.“
„Hm“, sagte Phil, „das können wir doch im Inhaltsverzeichnis nachprüfen.“ Er wandte sich an Gina: „Hast du zufällig einen Atlas im Haus? Und wenn ja, hättest du die Güte, ihn mir zu geben?“
„Siehst du, du kannst höflich sein, wenn du willst! Natürlich habe ich einen Atlas hier: den Schulatlas.“
Sie ging zu dem einzigen Regal in ihrem Zimmer und zog ein dickes gebundenes Buch heraus.
Phil nahm es in die Hand, legte es auf den Tisch und suchte im Inhaltsverzeichnis. „Hm. Hier gibt es kein Garbstetten.“
Joker zuckte mit den Schultern. „Dann ist es vielleicht zu klein. Los, wir werfen uns noch ein paar Nüsse in den Rachen und radeln los.“
Und das taten sie dann. Draußen herrschte ein herrliches Frühlingswetter. Ideal zum Radfahren. Phils und Jokers Räder standen schon draußen, und Gina holte ihres aus dem Keller. Dann fuhren sie los. Phil vorneweg und Gina und Joker nebeneinander.
„Warum hat eigentlich Phil vorhin so süßlich gesprochen?“, fragte Joker.
„Ach, manchmal vergreift er sich im Ton, wird rüpelhaft, und ich habe ihm klargemacht, dass ich nicht seine Sklavin bin.“
„Und wie ich dich kenne, hast du es sehr überzeugend gemacht.“
„Sicher. Aber … du warst doch im selben Raum.“
Joker blickte beim Fahren etwas betreten zur Seite. „Hab ich nicht mitbekommen, ehrlich.“
Gina schüttelte den Kopf: „Typisch Jungs.“
Sie fuhren von der Bundesstraße herunter und nahmen eine Abkürzung über einen stabilen Feldweg, der als Radweg ausgeschildert war.
Nach zwanzig Minuten, kurz vor der nächsten Ortschaft, stieß der Radweg wieder auf die Bundesstraße.
Da im Augenblick kein Auto unterwegs war, fuhren sie zu dritt nebeneinander.
„Kommt euch die Straße bekannt vor?“, fragte Phil.
Joker schüttelte den Kopf. „Nee, mir nicht.“
„Mir auch nicht“, sagte Gina.
Ein paar Minuten später erreichten sie das Ortsschild, auf dem Grabstetten stand. Schweigend fuhren sie durch den kleinen Ort. Ein Hund bellte, und ein Traktor kam aus einer Seitenstraße.
Groß war Grabstetten nicht.
„Wir fahren durch und schauen uns die Ortschaft von der anderen Seite an“, schlug Phil vor. „Vielleicht sind wir gestern von dort gekommen.“
„Den Gedanken hatte ich eben auch“, sagte Joker.
Als sie das Ortsschild auf der anderen Seite passiert hatten und nun zurückblickten, pfiff Joker durch die Zähne.
„Diesmal kommt mir die Strecke bekannt vor.“
„Mir auch“, sagte Gina und deutete auf einen Punkt in der Nähe des Ortsschilds. „Hier ungefähr sind wir gestern aus dem alten Mercedes ausgestiegen.“
„Komisch.“ Phil schüttelte den Kopf. „Ich hätte wirklich schwören können, dass gestern auf diesem Schild Garbstetten gestanden hat. Und es war doch viel heißer. Da sieht man mal, wie man sich täuschen kann.“
„Ja, aber mir geht es genauso und …“
Sie zuckten zusammen, weil hinter ihnen ein Auto hupte.
Hastig schoben sie die Räder an die Seite.
„Gut, dann fahren wir jetzt also weiter bis zu diesem großen Stein von gestern“, sagte Phil.
„Also, ich weiß auch nicht“, sagte Gina zu Phil. „Alles, was du sagst, hört sich wie ein Befehl an.“
Phil verdrehte seine Augen nach oben und stieg auf sein Rad.
Joker lächelte. „Heute bist du aber besonders kratzig zu dem armen Phil. Ich glaube, dass er das gar nicht so meint.“
„Natürlich meint er es nicht so, aber so kommt es bei mir an. Außerdem bin ich heute irgendwie … nervös. Diese seltsame Geschichte von gestern sitzt mir noch in den Knochen.“
Langsam radelten sie weiter. Der Stein war unübersehbar. Es bestand kein Zweifel: Sie waren gestern hier gewesen. Bei dem Stein führte auch ein schmaler Weg in den Wald.
„In meiner Erinnerung war der Stein kleiner“, sagte Joker und kratzte sich am Kopf.
„Was hast du gesagt?“, fragte Phil.
„In meiner Erinnerung war der Stein kleiner.“
Phil blieb davor stehen. „Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch auf. Aber das kann eigentlich nicht sein.“
„Schieben wir einfach die Räder weiter“, schlug Joker vor. „Unsere Sinne sind vielleicht etwas durcheinander, oder was meinst du, Gina? War der Stein gestern kleiner oder größer?“
„Ich finde, er sah ungefähr so aus wie gestern.“
„Na gut.“
Schweigend schoben sie die Räder durch den Wald, der jetzt im Frühling die braunen Blätter vom Herbst mit einem Teppich aus saftigem Grün und weißen Blüten überdeckte.
Sie kamen schließlich zu dem abgebrochenen Baum, tratenauf die Lichtung und erwarteten die glasartige Kugel zu sehen. Aber sie war nicht da. Sie suchten jeden Quadratmeter ab. Nichts.
„Nichts, nichts, nichts“, sagte Phil. „Inzwischen kommt es mir so vor, als ob wir alles nur geträumt haben.“
Joker stand da, nagte an der Unterlippe und schwieg.
„Also Jungs“, begann Gina. „Ich geb es zu: Alles leicht merkwürdig. Wie wäre es, wenn wir zurückradeln, unsere Schonung aufsuchen und nachschauen, ob die Kugel dort ist?“
„Ja, aber wenn sie nicht hier ist, wieso soll sie dann dort sein?“, fragte Phil.
„Keine Ahnung“, meinte Gina. „Ist nur so ein Vorschlag.“
„Gina hat recht“, sagte Joker. „Ich will jetzt auch wissen, ob das Ding von gestern noch an Ort und Stelle ist, wenn wir von zu Hause da hinfahren.“
Da auch Phil einverstanden war, schoben sie die Räder durch den Wald, kamen bei der Bundesstraße an und radelten mehr oder weniger schweigsam zurück. Aber sie hielten nicht zu Hause an, sondern fuhren weiter, bis sie vor der Schonung standen. Kurz entschlossen versteckten sie die Räder so, dass sie vom Weg aus nicht gesehen wurden, stiegen über den Zaun, gingen, so schnell das Dickicht es erlaubte, weiter und fanden die Kugel an Ort und Stelle.
„Sie ist da!“, sagten sie alle drei verwundert und starrten das seltsame Ding an.
„Verdammt, ich will es jetzt wissen!“, knurrte Phil und stürzte sich in die Kugel, die anderen beiden folgten ihm.
Sie kamen wie tags zuvor auf der Lichtung an. Diesmal schien die Sonne nicht, sondern der Himmel hatte sich mit Wolken bezogen.
Ohne sich groß zu verständigen, rannten sie durch den Wald, kamen auf die Bundesstraße, hetzten so lange weiter, bis sie das Ortsschild erreichten und blieben dann davor stehen.
Auf dem Ortsschild stand groß und breit: Garbstetten.
„Das gibt’s doch nicht!“, rief Phil und stampfte mit dem Fuß auf. „Sind wir denn alle blöd? Will uns hier jemand verarschen?“
„Gehn wir wieder zurück“, sagte Gina leise und drehte um. Die beiden Jungen schlossen sich ihr an.
Sie wurden zwar von Autos überholt, aber diesmal hielt keiner an. Als sie den Wald erreichten, fing es an zu regnen. Schnell liefen sie zu der Lichtung, ließen sich in die Kugel gleiten und trotteten zu ihren Rädern.
Merkwürdigerweise schien die Sonne wieder.
Sie blieben bei ihren Rädern stehen, und Phil sagte: „Also, ich fasse zusammen: Einmal heißt das Kaff Garbstetten, dann wieder Grabstetten. Einmal ist die Kugel auf der Lichtung, dann wieder nicht …“
„Einmal regnet es, dann wieder nicht …“, fuhr Joker fort.
„Einmal ist es Frühling, dann ist es Sommer“, sagte Gina.
„Hm“, meinte Phil und richtete sich auf. „Vielleicht ist das die Lösung. Die Kugel transportiert uns in die nahe Zukunft. Das würde bedeuten, dass der Ort Grabstetten vielleicht in den nächsten Jahren seinen Namen ändern wird in Garbstetten. Das würde vieles erklären, auch das unterschiedliche Wetter …“
„Eine Namensänderung ohne viel Sinn“, murmelte Joker und fuhr fort: „Wenn ein Ort zum Beispiel Klosett heißt, dann würde ich es verstehen, wenn man dafür den Namen … Klopphausen nehmen würde.“
Gina lachte: „Klopphausen, die Stadt der Bekloppten.“
„War doch nur ein Beispiel. Meinetwegen, der Ort heißt Arschingen, und man ändert ihn zu Arlingen. Das würde doch Sinn machen, aber Grabstetten in Garbstetten, wo liegt da der Vorteil?“
„Vielleicht wenn es … geschichtliche Gründe gibt“, überlegte Phil.
„Wie meinst du das?“
„Vielleicht haben die Forscher herausgefunden, dass der Name nicht von Graben kommt, sondern von dem Wort Garben.“
„Garben? Das Wort kenn ich nicht“, sagte Gina.
„Garben, das sind so … so Bündel. Früher hatte man den Weizen in Garben gebunden.“
„Ach so.“
Phil gähnte. „Wie auch immer. Ich muss jetzt nach Hause, morgen schreiben wir eine Englischarbeit.“
„Okay“, sagte Joker. „Morgen um vier bei mir?“
„Halb sechs wäre besser“, sagte Gina. „Ich hab vorher noch Klavierunterricht.“
„Gut. Halb sechs ist mir auch lieber. Phil?“
„Halb sechs ist gebongt.“
Sie radelten aus dem Wald und trennten sich bei der nächsten Kreuzung.
Phil fuhr auffallend langsam. Als Gina und Joker abgebogen waren, drehte er um und trat heftig in die Pedale. Bald war er wieder bei der Schonung angekommen.
Er wartete, bis zwei Spaziergänger vorbeigegangen waren, blickte unauffällig nach allen Seiten und hob sein Rad über den Zaun der Schonung, dann schob er es, so gut es ging, durch die eng stehenden kleinen Tannen, bis er bei der Kugel angekommen war.
Kurz entschlossen packte er sein Rad und ließ es in die Kugel gleiten, bis es darin verschwunden war. Dann stürzte er sich selbst durch das Kugel-Tor.
Auf der anderen Seite fand er, wie er es vermutet hatte, sein Fahrrad, das neben ihm auf dem Boden lag. Er hob es auf, untersuchte es kurz, nickte dann, stieg auf und fuhr durch den Wald bis zu dem großen Stein an der Bundesstraße.
Zwei, drei Autos kamen vorbei. Phil wartete sie ab und radelte den schon bekannten Weg, Richtung Dorf.
Er las auf dem Ortsschild Garbstetten und fuhr in das Dorf hinein.
Nach ein paar Metern stieg er aus und schob das Rad vor sich her, während er sich nach allen Seiten umsah. Schließlich lächelte er, als er eine kleine Bäckerei entdeckte, die geöffnet war.
Zwei Frauen standen vor der Theke und unterhielten sich mit der Verkäuferin. Sie traten zurück, um Phil vorzulassen.
„Guten Tag“, sagte Phil, „ich hätte gerne zwei Brötchen.“
„Welche Sorte?“
„Ein Rosinenbrötchen und ein Roggenbrötchen.“
Die Frau packte das Ganze in eine Tüte und Phil bezahlte.
Er drehte sich um, ging zur Tür und blieb dann stehen, als ob ihm etwas eingefallen wäre.
„Ach, entschuldigen Sie“, sagte er.
„Ja? Hast du was vergessen?“
„Nein, nein. Wissen Sie, ich mache gerade eine Fahrradtour und hab mich vorhin gefragt, ob der Name von dem Ort schon immer Garbstetten hieß.“
Die beiden Kundinnen blickten sich erstaunt an, und die Verkäuferin sagte: „Natürlich. So heißt der Ort schon Jahrhunderte lang. Ich glaube, früher war hier mal ein Platz, wo Garben aus der Gegend gesammelt wurden. Aber genau weiß ich das nicht. Wie sollte der Ort denn sonst geheißen haben?“
„Ach, dann habe ich wahrscheinlich auf der Karte nicht genau hingeschaut und habe Grabstetten gelesen.“
„Nein, nein“, mischte sich jetzt eine der Kundinnen ein. „Grabstetten gibt es hier nicht. Hört sich ein bisschen nach Friedhof an.“
„Na ja“, sagte Phil, „war nur eine Frage, also Tschüss.“

Während Phil den Laden verließ, hörte er noch, wie eine der Frauen sagte: „Grabstetten. Komischer Name. Übrigens, Vera, ich habe ein neues Mittel gegen Gänseblümchen entdeckt, das …“
Phil runzelte die Stirn und ging zu seinem Fahrrad. Er nahm das Rosinenbrötchen heraus und aß es im Stehen.
Dann stieg er auf das Rad und fuhr nachdenklich zurück.
Als er durch die Kugel wieder auf der Schonung angekommen war und unbemerkt sein Rad über den Zaun gehoben hatte, nahm er nicht den Weg nach Hause, sondern steuerte auf die Stadtbücherei zu.

Am nächsten Tag regnete es, und Gina und Phil kamen fast gleichzeitig zu Fuß bei Joker an.
Ohne Kommentar zogen sie ihre nassen Schuhe aus, als Joker ihnen öffnete (eine Erziehungsmaßnahme Ginas) und gingen auf Socken mit ihm eine Treppe nach oben in sein Zimmer.
Joker hatte sich redlich bemüht, ein wenig Ordnung zu schaffen, aber Gina entdeckte ein zerkrümeltes Brötchen zwischen den Polstern eines ausgedienten Sessels, und der Papierkorb unter dem Schreibtisch quoll über, sodass zwei leere Joghurtbecher auf den Boden gefallen waren. Die Bücher, Zettel und Hefte, die sonst auf dem Schreibtisch lagen, hatte Joker einfach auf den Teppich gestapelt.
„Na, Alter, wie geht’s?“, sagte Joker und haute Phil auf den Rücken.
„Geht so.“
„Geht so? Besonders munter siehst du tatsächlich nicht aus.“
„Schlecht geschlafen.“
Joker raschelte mit der Zeitung. „Also, Leute, ich weiß auch nicht. In letzter Zeit gibt es die merkwürdigsten Meldungen. Neulich war ja diese Geschichte über das Schaf, das seinen Schäfer erschossen hat, und heute … Hört euch das an. Eine irre Überschrift!“
Phil und Gina ließen sich auf das ausrangierte Sofa nieder.
„Angriff der Gummibärchen!
In einer Süßwarenfabrik gab es am Samstag einen Unfall. Ausgelöst wurde er durch eine Fehlsteuerung der Fließbänder, die Gummibärchen zu der Verpackungseinheit transportierten.
Die wohlschmeckenden bunten Tiere waren in das Getriebe geraten, hatten die Fließbänder blockiert und dabei einen riesigen Stau verursacht. Bei der Reparatur der Maschinen wurden zwei Ingenieure aus bisher noch unbekannten Gründen schwer verletzt.“
Phil verzog den Mund zu einem müden Lächeln und sagte: „Ziemlich witzig. Ich hab übrigens eine Neuigkeit. Gestern war ich …“
Er wurde unterbrochen, weil die Tür aufging und Jokers Mutter im Türrahmen stand.