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Susanna Wesley war vor allem eine Frau des Gebets. Da, wo sie täglich auf den Herrn wartete, bekam sie immer wieder neue Kraft.20
Aber leicht war das alles nicht. Sie konnte sich im Haus nirgends zum Beten zurückziehen. Wenn Susanna also Zeit mit dem Herrn verbringen wollte, zog sie sich die Schürze über den Kopf. Damit war sie in ihrem Gebetsraum und ihre Kinder wussten, dass sie nicht gestört werden durfte. Auf diese Weise schüttete sie Gott ihr Herz aus, betrauerte ihre verstorbenen Kinder, leistete Fürbitte für ihren unerträglichen Mann und betete für jedes ihrer Kinder mit Namen. Gewaltiger hätten solche einfachen, unter einer Schürze geflüsterten Gebete einer Mutter kaum erhört werden können.
Susanna Wesley ist ein Beispiel für die weltverändernde Macht des einfachen, ausdauernden Gebets. Sie merkte, dass sie berufen war, Menschen zu Jüngern zu machen – nicht in fremden Ländern, sondern unter ihrem eigenen kleinen „Volksstamm“ zu Hause. Und dieser Aufgabe widmete sie sich ohne Unterlass. Indem sie treu für diese zehn Kinder betete, wurde Susanna Wesley, eine Hausfrau mit einem schwierigen Leben in einer kleinen englischen Provinzstadt, zur Mutter von heute etwa achtzig Millionen Methodisten in über 130 Nationen.
Ein Gebet von Susanna Wesley
Hilf mir, Herr, nicht zu vergessen, dass Religion nicht auf Kirche oder Gebetskammer beschränkt bleiben und auch nicht nur in Gebet und Meditation ausgeübt werden soll, sondern dass ich überall in deiner Gegenwart bin. Möge ich deshalb stets nach sittlichen Maßstäben reden und handeln. Möge sich alles, was in meinem Leben geschieht, als nützlich und förderlich erweisen. Mögen alle Dinge mich lehren und mir Gelegenheit geben, tugendhaft zu handeln, täglich zu lernen und dir immer ähnlicher zu werden. Amen.
SCHRITT 1: RUHE
Entschleunigung und Fokus
Seid still und erkennt, dass ich Gott bin. (Psalm 46,11 L)
Um anfangen zu können, muss man aufhören. Um voranzukommen, müssen wir innehalten. Dies ist der erste Schritt zu einem tieferen Gebetsleben: Leg deine Wunschliste weg und warte. Sitz still. Schweige. Sei ganz da in Raum und Zeit, sodass sich deine abgelenkten Sinne in Gottes ewiger Gegenwart sammeln können. Schweigen und Stille bereiten Geist und Seele darauf vor, von einem Ort des größeren Friedens, des Glaubens und der Anbetung aus zu beten. Tatsächlich ist das an sich schon eine wichtige Form des Gebets.

3: Entschleunigung und Fokus
Wie man still wird vor Gott

Alle Probleme der Menschheit wurzeln in der Unfähigkeit des Menschen, schweigend allein in einem Zimmer zu sitzen. (Blaise Pascal, Pensées)1
Die menschliche Seele ist wild und scheu. Der Psalmist vergleicht sie mit einem Hirsch, der nach frischem Wasser lechzt.2 Die keltische Volkstradition stellte sie als edles und scheues Wild dar. Der Lärm des Lebens verschreckt sie, sie weigert sich, auf Kommando hervorzukommen wie manches sklavisch ergebene, gezähmte Haustier. Aber wenn wir still sind, zeigt sie sich, neugierig und quicklebendig.
Wie im Leben hat auch im Gebet alles seine Zeit, „Schweigen und Reden“ (Pred. 3,7). Wenn wir den, der im „leisen Säuseln“ spricht, besser verstehen wollen, müssen wir uns mit der Stille anfreunden.3 Wenn wir die Gegenwart dessen zu Gast haben wollen, der sagt: „Seid still und erkennt, dass ich Gott bin“, müssen wir selbst präsenter sein.4 Wir erwarten, dass er mit Donnerstimme spricht, aber meistens flüstert er. Wir erwarten, dass er in Nagelstiefeln kommt, aber er geht auf Zehenspitzen und versteckt sich in der Menge. Wir erwarten, dass er außergewöhnlich ist, aber er kommt „als unser Leben verkleidet“ zu uns.5
Man beginnt also das Beten am besten damit, dass man aufhört zu beten. Innehält. Still wird. Seine Gebetsliste aus der Hand legt und Gott seine Agenda überlässt. Genügend lange nicht mehr zu Gott spricht, um das Wunder zu erahnen, wer er wirklich ist. Dass man still ist vor dem Herrn und auf ihn wartet.6
* * *
Wenn ich, als unsere Söhne noch ziemlich klein waren, nach einer mehrtägigen Reise wieder nach Hause kam, wurde ich manchmal von ihrem Geschrei begrüßt: „Dad, hast du mir was mitgebracht?“, oder: „Dad, Danny will nicht teilen!“, oder sogar: „Dad, was gibt’s zum Abendessen?“
„Schön, dass ihr mich so vermisst habt!“, rief ich dann in Richtung Kinderzimmer. „Nimmt mich vielleicht auch mal wer in den Arm?“ Ich wollte, dass sie zuerst anerkannten, dass ich wieder da war, bevor sie mich mit Bitten bombardierten. Sie sollten mich anschauen und einfach sagen: „Willkommen zu Hause, Daddy!“
In gewisser Weise hält es Jesus auch so in den ersten Zeilen des Vaterunsers. Bevor wir mit einer langen Liste loslegen mit all dem, was wir brauchen – das tägliche Brot, Vergebung der Sünden, Befreiung vom Bösen –, sollen wir, so sagt er, innehalten, Gott liebevoll mit „Unser Vater“ und ehrerbietig mit „Geheiligt werde dein Name“ ansprechen.
Das Gebet kann leicht zu einer Fortsetzung meiner allzu häufig hektischen Lebensweise werden. Abgelenkt und getrieben komme ich in den Vorhof des Königs – ohne mich darauf einzustellen, ohne Einleitung, ohne langsamer zu werden oder meine Augen zu ihm zu erheben, um seinem Blick zu begegnen. Aber die Weisen lehren uns, dass wahres Gebet nicht so sehr etwas ist, was wir sagen oder tun; es ist etwas, was wir werden. Nicht Transaktion, sondern Beziehung. Und deshalb beginnt das Gebet damit, dass wir ihn, zu dem wir kommen, angemessen begrüßen.
Das Gleichnis vom rasenden Windhund und dem wilden Hundefresser-Stuhl
Eines sonnigen Morgens erlebte die malerische, kopfsteingepflasterte Hauptstraße von Guildford ein außergewöhnliches Spektakel: Ihre beschauliche Ruhe wurde vom lauten Jaulen eines Hundes und einem seltsamen, metallischen Scheppern jäh durchbrochen. Ein Windhund kam um die Ecke geschossen, den langen Schwanz zwischen die Beine geklemmt. Inmitten von schreienden Passanten raste er hin und her, fast verrückt vor Angst, unerbittlich verfolgt von einem dieser billigen Bistrostühle aus Chrom. Der Stuhl, der am anderen Ende der Hundeleine hing, wirkte ganz wie ein lebendiges Wesen, wie eine tänzelnde Schlange, die hinter dem entsetzten Hund herjagte, ihn anfiel und biss. Vielleicht saß der Besitzer noch im Café, wartete in aller Unschuld auf sein Frühstück und ahnte nichts von der verzweifelten Situation seines vierbeinigen Freundes. Eine Bewegung muss schuld gewesen sein, dass der Stuhl ruckte, weshalb der Hund aufsprang, weshalb der Stuhl hüpfte, weshalb der Hund losjagte, weshalb der Stuhl einen Satz machte, weshalb der Hund jaulte, weshalb die Passanten schrien, weshalb der Hund immer hektischer raste, unablässig verfolgt von diesem schauerlichen Stück Metall und all diesen schreienden Fremden, die ihn zu packen versuchten. Je schneller er rannte, desto wilder wurde der metallische Verfolger, desto höher sprang er, desto härter schlug er auf, desto lauter knallte und schepperte und klapperte er auf dem Kopfsteinpflaster. Soweit ich weiß, ist der Hund noch heute auf der Flucht.
Wir alle können leben wie dieser rasende Windhund. Von irrationalen Ängsten getrieben und orientierungslos, von ganzen Rudeln blutdürstiger Bistrostühle verfolgt, viel zu panisch, um einfach stehen zu bleiben. Und so spricht Gott mit fester Stimme in die Disharmonie des menschlichen Tuns. Der Meister gebietet dem Geschöpf: „Sitz!“ Jesus tadelte den Sturm. „Er lässt mich lagern“, wie es der berühmte Psalm ausdrückt [im Englischen in Form einer Anweisung: „He makes me lie down“, A. d. Ü.]. Und natürlich fällt es uns extrem schwer zu gehorchen. Tun wir es jedoch, dann rückt alles wieder in die richtige Perspektive, aus Schreckgespenstern werden wieder Bistrostühle.
Wie kommt es, dass so viele Leute heute das Einfache am Marathonlauf attraktiv finden, Langstreckenradsport betreiben oder angeln? Angeln ist nach wie vor das beliebteste Hobby in Großbritannien. Dass so viele Achtsamkeit, Yoga und den Kult der Entrümpelung praktizieren? (Ironischerweise sind gerade diese schlichten Dinge heute alles Multimillionen-Dollar-Geschäfte.) Warum ziehen wir uns Abend für Abend das Netflix-Angebot rein, ohne groß darüber nachzudenken, und sehen im 7-Uhr-34-Zug nach Waterloo unverwandt auf unsere Smartphones wie Mönche auf Ikonen? Wir scheinen uns immer mehr zu Aktivitäten hingezogen zu fühlen, die den ständigen Anforderungen der Welt Einhalt gebieten und uns zwingen, ein paar Ewigkeits-Momente lang die Konzentration auf eine einzige, einfache Sache zu richten. Hot-Yoga? Tetris? Ein Seeufer in strömendem Regen? Egal was – Hauptsache, es bringt diese nervtötenden Bistrostühle zur Ruhe.
Gott versteht unser tiefes Bedürfnis nach Stille, Ordnung und der Freiheit, nicht die letzte Verantwortung zu tragen, denn so hat er uns geschaffen: für ein einfaches, in Zeitabschnitte gegliedertes, friedliches Leben. Er selbst ruhte und richtete den Sabbat ein. Jeden lädt er ein, innezuhalten: „Seid still und erkennt, dass ich Gott bin.“7 Das lateinische Wort für dieses „Seid still“ lautet vacate – es ist genau das Wort, von dem unser Wort Vakanz (unbesetzter Arbeitsplatz) oder das englische Wort für Ferien, vacation, kommen. Mit anderen Worten: Gott lädt uns ein, frei zu nehmen, Urlaub zu machen, zu entspannen, Freizeit zu genießen, denn in diesem Kontext ist seine Gegenwart erfahrbar. Vielleicht könnten wir den Vers so umschreiben: „Warum nimmst du nicht einmal frei vom Gott-Spielen und lässt mich zur Abwechslung Gott sein?“
DU MUSST STILLE UND EINSAMKEIT SUCHEN, ALS HINGE DEIN LEBEN DAVON AB, DENN IN GEWISSER WEISE IST ES TATSÄCHLICH SO.
Eugene Peterson sagt, „die grundlegende Entscheidung des Lebens ist selten, wenn überhaupt je, ob man an Gott glaubt oder nicht, sondern ob man ihn anbetet oder mit ihm konkurriert“.8 Einer der Hauptunterschiede zwischen dir und Gott ist, dass Gott nicht meint, er wäre du! In den Momenten der Stille zu Beginn einer Gebetszeit liefern wir uns Gott aus, beenden unsere Konkurrenz zu ihm, verabschieden uns von unserem Messiaskomplex und hören auf, die Welt retten zu wollen. Wir geben die Erwartung auf, dass sich alles um unsere Vorlieben dreht; wir richten unsere Prioritäten wieder auf den Herrn aus und erkennen mit einem Seufzer der Erleichterung an, dass er die Zügel in der Hand hält und nicht wir. Erstaunlicherweise dreht sich die Erde ganz prima auch ohne unser Dazutun. Langsam richten sich unsere zerstreuten Gedanken mehr auf die Mitte aus. Die Bistrostühle kommen endlich zur Ruhe.
Sela
Das Wort sela erscheint 71-mal in den Psalmen, dem hebräischen Gebetbuch. Vielleicht war es eine technische Anweisung für die, die den Psalm aufsagten, oder für die Musiker, die ihn spielten, aber keiner weiß wirklich mit Sicherheit, was es ursprünglich bedeutete oder warum es da steht. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Anweisung, „innezuhalten“ und die Bedeutung der gebeteten Worte zu „wägen“.
Wann immer möglich, versuche ich zu Beginn einer Gebetszeit Sela zu praktizieren, indem ich ein paar Minuten still dasitze (oder manchmal laufe), ohne irgendetwas zu sagen oder zu tun. Das geht natürlich am besten in einer ruhigen Umgebung, aber auch in einem überfüllten Zug lässt sich Ruhe finden, ebenso am Schreibtisch in einem geräuschvollen Büro und erst recht unbeobachtet in der modernen Einsiedlerklause: einer Toilette. Vor dem Beten still innezuhalten hilft uns, unsere zerstreuten Gedanken zu sammeln und uns mit Herz und Verstand auf die Anbetung vorzubereiten.
Hast du ein Smartphone, dann stelle es jetzt am besten auf Flugmodus. So beugst du nicht nur Unterbrechungen vor, sondern übst auch dein Gehirn im Ausschalten von Ablenkungen, sodass du stärker präsent bist, wann und wo auch immer du dich im Gebet Gott zuwendest.
Vor Beginn innezuhalten klingt simpel – kaum ein eigenes Kapitel wert –, aber es ist selten einfach. Ohne Ausnahme rebelliert mein Inneres gegen Stille aller Art. Der Windhund rast. Die Versuchung, mich kopfüber auf meine Gebetsliste zu stürzen, ist fast unwiderstehlich. In der ungewohnten Stille treten tyrannische Forderungen und Ablenkungen auf wie eine Blaskapelle, die in meinem Schädel herummarschiert. Ein Augustinermönch beschreibt das einprägsam als das „innere Chaos in unserem Kopf – wie eine wilde Cocktailparty, bei der wir uns wie der verlegene Gastgeber vorkommen“.9
Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig es für dein geistliches, mentales und körperliches Wohlbefinden ist, dass du lernst, das unablässige Geschwätz der Welt täglich ein paar Minuten lang zum Schweigen zu bringen und in der Tiefe deiner Seele still zu werden. Du musst Stille und Einsamkeit suchen, als hinge dein Leben davon ab, denn in gewisser Weise ist das so. Wenn du gestresst bist, setzen deine Nebennieren das Hormon Cortisol frei, was die Fähigkeit zu klarem Denken und gesunder Entscheidungsfindung beeinträchtigt. Aber wenn du ruhig dasitzt, senkt sich der Cortisolspiegel und die Dinge werden klarer. Das herumwirbelnde Sediment des Lebens setzt sich recht schnell ab. Du wirst dir deiner eigenen Gegenwart in Raum und Zeit und auch der sanften, einnehmenden Gegenwart Gottes stärker bewusst.
Das Haus zur Ruhe bringen
Vor fünfhundert Jahren fasste der heilige Johannes vom Kreuz die Ruhe solcher Momente in einem wunderschönen Satz zusammen: „Jetzt wurde mein Haus ganz zur Ruhe gebracht.“ Die Lichter sind aus, die Türen abgeschlossen, die Straße draußen ist still geworden und alles Lebendige drinnen zu Bett gebracht. Endlich bin ich bereit, den leisen König zu empfangen. Manchmal verbringe ich meine gesamte Gebetszeit in der Stille, nachdem ich mein Haus zur Ruhe gebracht habe, und genieße einfach Gottes Gegenwart, ohne etwas zu sagen oder zu tun. Früher machte ich mir Sorgen, dass ich so ja nicht wirklich betete – dass ich irgendwie meine Zeit verschwenden würde –, aber inzwischen verstehe ich, dass dies die schönsten Erfahrungen der Gemeinschaft mit Gott sein können. „Ich bin zur Ruhe gekommen, mein Herz ist zufrieden und still. Wie ein kleines Kind in den Armen seiner Mutter, so ruhig und geborgen bin ich bei dir!“, sagt der Psalmist.10 In solchen Momenten braucht man nicht zu sprechen, ja, es wäre sogar unpassend. Die Zeit steht still und Worte verstummen. Es reicht, einfach beieinander zu sein, wie gute Freunde sich schweigend wohlfühlen, ohne die Leere mit Reden füllen zu müssen. Wie Antonius der Große es vor mehr als sechzehn Jahrhunderten sagte: „Vollkommen zu beten heißt, nicht zu wissen, dass man betet.“11
Das Gebet der Sammlung
Es gibt mehrere einfache Praktiken, die dir helfen können, in der Vorbereitung auf das Gebet deine zerstreuten Sinne zu sammeln. Vielleicht helfen dir diese vier Schritte:
1.Entspanne dich. Setze dich zu Beginn ein paar Augenblicke bequem hin, ohne etwas zu tun, vielleicht mit den Händen im Schoß, die Handflächen nach oben geöffnet. Lockere ganz bewusst jeden einzelnen angespannten Körperteil. Deine Haltung ist durchaus von Belang. Die Bibel schreibt von Knien, Händeheben, lang ausgestrecktem Liegen, sogar von Tanzen. Wenn du dich dem Herrn nahst, versuche eine Gebetshaltung zu finden, die sowohl bequem als auch bedeutungsvoll ist.
2.Atme. Atme beim Entspannen tief und langsam ein. Atme den Lebensatem des Heiligen Geistes ein und atme deine Sorgen mit leichten Seufzern aus. Eine flache und unregelmäßige Atmung ist ein häufiges Symptom von Angst und von Stress. Sie reduziert den Sauerstoffgehalt im Gehirn und verstärkt dadurch genau die Unruhe, die die flache Atmung überhaupt erst ausgelöst hat. Tiefes Atmen kehrt diese Bedingung um und hilft uns, klarer zu denken, verlangsamt den Herzschlag, senkt den Cortisolspiegel und bringt das Geschwätz in unserem Kopf zur Ruhe. Manche Menschen werden bei so etwas ein bisschen nervös. Sie fürchten Atemtechniken als ein mögliches Tor zu östlicher Mystik oder New-Age-Täuschung. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, wenn unser Fokus auf Jesus liegt. Als er seinen Jüngern nach seiner Auferstehung erschien, „hauchte er sie an und sagte: ‚Empfangt den Heiligen Geist!‘“12 Als eine der primären biblischen Metaphern für den Heiligen Geist und als eines der primären biologischen Kennzeichen des Lebens selbst gehört das Atmen von Anfang an ins Lexikon der legitimen jüdisch-christlichen Spiritualität, seit Gott Adam schuf, indem er „ihm den Lebensatem in die Nase“ blies.13 Was könnte weniger unheimlich sein, was könnte sinnvoller und universeller sein, als einfach nur gut zu atmen, um gut zu funktionieren?
3.Sprich. Wenn du ruhig dasitzt und langsam atmest, kann es auch hilfreich sein, im Atemrhythmus ein Gebetswort oder einen Satz zu wiederholen. Du könntest z. B. beim Einatmen „Vater im Himmel“ sagen und beim Ausatmen: „Geheiligt werde dein Name.“ Manche Menschen übernehmen das berühmte Jesusgebet, das auf die großen Heiligen der ägyptischen Wüste im fünften Jahrhundert zurückgeht: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, sei mir Sünder gnädig.“ Traditionen, die noch älter sind als die der Wüstenväter, befürworten die betende Wiederholung des aramäischen Wortes „Maranatha“ aus 1. Korinther 16,22, das „Komm, Herr“ oder „Der Herr ist gekommen“ bedeutet. Das Gebet der Sammlung von Franz von Assisi war ebenso einfach: „Mein Gott und mein Alles.“ Seine Anhänger wiederholen diesen Satz bis heute immer wieder, als Mittel der andächtigen Anbetung, der Meditation und der Hingabe. Ich beginne meine Gebetszeiten oft noch einfacher mit einem ganz leisen „Danke, Jesus“ oder mit Zungenreden, denn wie Paulus sagt: „Wer in unbekannten Sprachen redet, stärkt seinen persönlichen Glauben.“14 Welche Sprache und welchen Ausdruck man auch immer wählt, es geht nicht darum, allzu ernsthaft über die Worte selbst nachzudenken, sondern darum, mit ihrer Hilfe Ablenkungen zu verscheuchen und seinen Geist auf den gegenwärtigen Moment und die Gegenwart Gottes darin zu konzentrieren.
4.Wiederhole. Mach dir keine Gedanken, wenn du abgelenkt wirst – es wird sich nicht vermeiden lassen. Fang einfach wieder neu an, dich zu entspannen, zu atmen und deinen Gebetssatz zu wiederholen, bis du zur Ruhe kommst. Bald wird sich die Kompassnadel wieder eingenordet haben. Kein geistlicher Riese, der nicht auch schon einmal mit Unkonzentriertheit im Gebet zu tun gehabt hätte! Im Jahr 1621 gestand der Dichter John Donne, der auch Dekan der St. Paul’s Cathedral war: „Ich lade Gott und seine Engel zu mir ein, und wenn Gott und seine Engel da sind, beachte ich sie nicht, weil eine Fliege summt, eine Kutsche rattert, eine Tür quietscht.“15 Wirst du abgelenkt, hilft dir vielleicht die Vorstellung, dass du dich in einem Ruderboot auf einem See befindest. Eben hat dich ein Schnellboot überholt und dabei hohe Wellen geschlagen. Du wirst hin- und hergeworfen, die friedliche Stimmung ist dahin. Bleib nun aber still. Lass deine Gedanken neu zur Ruhe kommen, und bald ist der Frieden wiederhergestellt.16
Kinetische Sammlung
Gelegentlich funktioniert das alles nicht! Manchmal bin ich zu überdreht, um mich auf eine derart regungslose Weise sammeln zu können. Dann bewege ich mich, um ein wenig Adrenalin abzubauen und so zur Ruhe zu kommen. Leider erkennen nur wenige Gebetsexperten die Bedeutung von Bewegung für diejenigen unter uns, die durch Aktivität lernen und verarbeiten (und das betrifft mindestens 50 Prozent der Bevölkerung). Die meisten der klassischen Aussagen zu Gebet regen genau das Gegenteil an; sie beschreiben im Detail, wie wir körperlich zur Ruhe kommen und alle äußeren Ablenkungen ausschließen können, um uns innerlich auf Christus zu konzentrieren.
Früher machte ich mir Sorgen, mit mir könnte etwas nicht stimmen, weil ich es fast unmöglich fand, still zu sein, mein Gehirn abzuschalten und eine Weile schweigend dazusitzen, ohne abgelenkt zu werden oder einzuschlafen. In Gebetsräumen lief ich oft laut redend auf und ab. Lieber malte ich ein Bild, wie schlecht auch immer, als mir ein Bild vorzustellen. Ich wollte meistens laut beten, nicht in meinem Kopf, und mit anderen Menschen, nicht allein. Diese peinliche Unfähigkeit gab mir das Gefühl, ungeistlich zu sein: dass ich etwas so Einfaches wie stillsitzen und eine Weile mal nichts tun nicht hinbekam. Wegen dieser Unfähigkeit meinte ich, für immer ein schlechter Beter bleiben zu müssen, der ganz gewiss irgendeine höhere Stufe in der Begegnung mit Gott verpasste.
BEWEGUNG KANN BESSER ALS STILLSITZEN HELFEN, DIE GEDANKEN ZUR RUHE ZU BRINGEN, STRESS ABZUBAUEN UND EINEN KLAREN KOPF ZU BEKOMMEN.
Aber dann hörte ich von einem Lehrer, dass viele seiner Schüler Informationen kinetisch verarbeiten: indem sie aktiv etwas tun, statt passiv am Tisch zu sitzen. Ich sprach mit Sportlern, die Gott leichter begegnen konnten, wenn sie Rad fuhren oder liefen oder schwammen und nicht mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen still dasaßen, wie man es ihnen in der Sonntagsschule beigebracht hatte. Ich lernte Künstler kennen, die ihre Gebete malen, modellieren und schnitzen wollten, Tänzer, die sich bewegen mussten, und Musiker, die ihre Gebete trommeln oder rappen wollten.
Langsam verstand ich, dass Ruhe nicht unbedingt still, intellektuell, einsam oder auch nur statisch sein muss. Ruhe kann aktiv sein. Tatsächlich hat die medizinische Forschung vor Kurzem entdeckt, dass Bewegung besser als Stillsitzen helfen kann, die Gedanken zur Ruhe zu bringen, Stress abzubauen und einen klaren Kopf zu bekommen. Ich sage nicht, dass Stille unwichtig ist – sie ist lebenswichtig, wie wir gesehen haben. Aber wenn in den ersten zwanzig Minuten des Trainings der Puls steigt, wird ein Protein namens BDNF17 freigesetzt, um Gedächtnisneuronen wiederherzustellen, während zur Konzentrationssteigerung die Hirnaktivität zunimmt und Endorphine ein Gefühl von Ruhe und sogar Euphorie auslösen. Mir scheint, dass solche physiologischen Effekte ebenso sehr Gottes Gabe sein können wie jeder andere, eher konventionelle kontemplative Ansatz.
Wir wissen, dass Jesus selbst oft aktiv gebetet hat. Einmal zeichnete er im Sand.18 Im Garten Gethsemane warf er sich auf den Boden.19 Er liebte es offensichtlich zu klettern, und ich glaube einfach nicht, dass Jesus nur wegen der schönen Aussicht und etwas Ruhe so oft früh am Morgen und spät in der Nacht auf einen Berg stieg. Ich bin überzeugt, dass er beim Gehen betete, manchmal zweifellos mit Schweiß auf der Stirn, keuchend und mit klopfendem Herzen. Es ist ein außerordentlicher Gedanke, dass BDNF den Verstand Christi schärfte, während er die Höhen Galiläas durchwanderte, dass sich Endorphine mit seinem Blut mischten und die körperliche Bewegung Jesu Gemeinschaft mit seinem Vater stärkte.
* * *
In diesem Kapitel haben wir gelernt, wie wichtig es zu Beginn des Betens ist, passiv oder aktiv innezuhalten, um unsere Seele zur Ruhe kommen zu lassen und uns auf den Herrn auszurichten. Indem wir das tun, und sei es nur für ein paar Minuten jeden Tag, rücken wir wieder die ewige Gegenwart Christi in den Mittelpunkt und können so aus viel tieferem Frieden und Glauben heraus und mit viel weniger Angst und Sorge beten.
Aber natürlich kannst du jetzt überlegen: „Okay, gut, ich habe einen Gebetsort gefunden (Kapitel 1), ich nehme mir Zeit zum Beten (Kapitel 2) und ich lerne, zur Ruhe zu kommen (Kapitel 3). Aber was geschieht nun? Was sage ich denn nun, wenn ich schließlich mit dem Schöpfer des Universums allein bin?“
Es ist an der Zeit, über die Einführung in Lukas 11,1 hinauszugehen und sich in die eigentlichen Worte des Vaterunsers zu vertiefen (Lukas 11,2–4). Da befassen wir uns weniger allgemein, sondern sehr viel spezifischer damit, wie man betet. Wir kommen zum zweiten Schritt in unserem P.R.A.Y.-Prozess, „Freude“!