Detektiv Dagoberts Taten und Abenteuer

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»Ich glaube, daß Sie sich da in eine fixe Idee verrannt haben.«
»Möglich; aber das ist ja nicht von Belang. Gehen wir weiter. Hier oben am Kaminsims lag der Zigarrenrest.«
»Zu welchen Schlüssen führte Sie der?«
»Es war mir zunächst angenehm, feststellen zu können, daß die Sorte stimmte. Die weiteren Schlüsse ergaben sich von selbst. Erlauben Sie jetzt, daß ich noch einmal auf Ihren Diener zurückkomme. Ich erwähne da etwas beinahe zum Schluß, wovon ich ausgegangen bin und womit ich eigentlich angefangen habe. Nicht ohne Grund hatte ich ihn jetzt hereinzitiert. Sie sollten sich ihn noch einmal ansehen. Also der Mensch ist blond, und sein Gesicht ist, wie sich das für einen ordentlichen Diener gehört, der auch bei Tisch serviert, glatt rasiert. Er hat ferner, wie es sich eigentlich für einen ordentlichen Diener nicht gehört und wie Sie sich überzeugen konnten, als er uns so freundlich angrinste, recht schadhafte Zähne. Endlich konnten Sie sehen, daß seine Statur eine ziemlich kleine ist. Er ist noch etwas kleiner als ich, und wir haben doch festgestellt, daß der unbekannte Täter einen schwarzen Bart trägt, sehr gute Zähne hat und einen Kopf größer ist als ich.«
»Das haben wir durchaus noch nicht festgestellt!«
»Dann wollen wir es gleich besorgen. Die Spitze der Zigarre war nicht mit einem Messer abgeschnitten, sondern prompt und glatt abgebissen worden. Dazu gehören gute Zähne. Darüber wären wir also im klaren. Nun muß noch seine ungewöhnliche Körperlänge bewiesen werden. Nichts einfacher als das. Reproduzieren wir einmal die Situation, meine Gnädige –, eigentlich gar nicht nötig. Denn sie ist schon hergestellt. Sie auf Ihrem bevorzugten Platze –, ich in respektvoller Entfernung, aber doch gerade noch nahe genug für unsere Konversation, Ihnen gegenüberstehend, an den Kamin gelehnt. Die Aussicht, die ich da beinahe aus der Vogelperspektive genieße, ist eine entzückende. Sie brauchen nicht zu drohen, Frau Violet –, eine entzückende. Auch ich würde ohne besonderen Grund meinen glücklichen Beobachterposten nicht verlassen. Wenn ich aber eine Zigarre wegzulegen hätte, so müßte ich mich zum Rauchtische begeben, auf dem die Aschenbecher stehen. Denn ich könnte nicht auf den Sims hinauflangen, mir wäre er zu hoch! Da hätte ich nun die Personenbeschreibung begründet. Stimmt sie, meine Gnädigste?«
»Sie stimmt,« gab Frau Violet lachend zu. »Ich mache Ihnen mein Kompliment, Herr Dagobert. Sie sind ein fürchterlicher Mensch, und ich sehe schon, es wird doch am besten sein, wenn ich selber gleich ein umfassendes Geständnis ablege, sonst glauben Sie am Ende noch Gott weiß was!«
»Keine Geständnisse! Ich lehne sie ab. Geständnisse können – ich spreche natürlich ganz akademisch – können auch falsch sein. Es sind auf Grund von falschen Geständnissen schon Justizmorde verübt worden, und nichts vermag mich mehr aufzuregen, als der Gedanke an einen Justizmord. Zudem – ich brauche das Geständnis nicht; es kann mir nichts mehr nützen. Ich bin hier nur Untersuchungsrichter und habe kein Urteil zu schöpfen. Meine Aufgabe war, den Tatbestand aufzuklären und die Täterschaft zu erweisen. Ob dann bei der Schlußverhandlung gestanden oder geleugnet wird, das geht mich nichts an.«
»Gut, also hören wir weiter!«
»Ich mußte also weiter kombinieren. Der hochgewachsene junge Mann mit dem schönen Bart und den guten Zähnen hat seine Zigarre hier in Ihrer Gegenwart geraucht und Ihnen dabei Gesellschaft geleistet. Er hat mit Ihnen geplaudert, wie ich jetzt mit Ihnen plaudere. Ein besonderes Geheimnis konnte nicht dahinter stecken.«
»Gott sei Dank, daß Sie mir das wenigstens nicht zutrauen, Dagobert!«
»Konnte nicht dahinter stecken. Wir kennen uns nun schon lange genug – Sie sind eine kluge Frau. Sie wissen, was auf dem Spiele steht, und Sie machen keine Dummheiten.«
»Ich danke für das ehrende Vertrauen!«
»Mein Vertrauen ist auch felsenfest, nicht minder mein Respekt. Aber es ist nicht nur das. Ich habe offene Augen und gute Ohren. Ich selbst hätte irgendeinmal etwas bemerken, oder irgendein Gerede hätte auch zu mir dringen müssen. Nichts von alledem. Sie haben da einen Besuch empfangen, der weiter nicht auffallen konnte, sonst wäre er schon aufgefallen. Warum fiel er nicht auf? Weil Sie ihn oft empfangen. Es mußte also ein ganz harmloser Besuch sein. Ein Umstand konnte allerdings stutzig machen. Aus den hingeworfenen Äußerungen Ihres Mannes konnte ich mir so ungefähr herausnehmen, daß die Zigarren gewöhnlich am Dienstagabend verschwanden, zu der Zeit also, wo er im Klub war. Was ich nicht wußte, was Sie aber angaben, ist, daß am Dienstag Ihr Diener das Theater zu besuchen pflegt.«
»Hoffentlich ziehen Sie aus diesem Umstand nicht auch Ihre Schlüsse!«
»Ich denke nicht dran. Tatsache scheint mir, daß der junge Mann ziemlich häufig im Hause vorspricht, daß er aber gerade am Dienstag etwas länger verweilt und die Hausfrau unterhält.«
»Das ist richtig, aber ich kann versichern, daß die Unterhaltungen ganz harmloser Natur sind.«
»Daran habe ich niemals gezweifelt, zumal der junge Mann – wie soll ich sagen? – ein wenig unter Ihrem Stande ist.«
»Wie haben Sie das nun wieder herausgebracht, Dagobert?«
»Es erklärt sich von selbst, gnädige Frau. Freund Grumbach hat nicht eine oder zwei Zigarren vermißt, sondern gleich sechs oder sieben. Sie erinnern sich; nach seiner Angabe hatten aus der obersten Schicht am Tage vorher zwei Zigarren gefehlt. Die hat Grumbach jedenfalls selber herausgenommen und sich dabei halb unwillkürlich das Bild eingeprägt, das das Innere des Kistchens darbot. Einen Tag später schien es ihm, als fehlten acht oder neun Stück. Also Abgang von sechs oder sieben Stück. Man raucht aber nicht sechs oder sieben schwere Zigarren während eines Plauderstündchens mit der Hausfrau, man raucht eine, wenn's hoch kommt zwei. Der Vorgang war nun der, daß die Hausfrau den jungen Mann beim Abschied ermutigt hat, sich noch einige Zigarren einzustecken.«
»Auch das ist richtig. Aber daraus folgt doch noch nicht, daß ich mich, wie Sie sich auszudrücken belieben, unter meinem Stande unterhalten hätte.«
»Ich bitte um Verzeihung, meine Gnädigste. Einem gesellschaftlich vollwertigen Besuch empfiehlt die Hausfrau vielleicht, sich auf den Weg eine Zigarre mitzunehmen –, eine! Natürlich ohne Betonung. Eine Handvoll zu geben oder – zu nehmen, das deutet schon auf einen gewissen gesellschaftlichen Abstand.«
»Sie sind wirklich der reine Kriminalkommissär, Dagobert!«
»Auf einen Abstand und doch auch auf eine gewisse Sympathie.«
»Es ist auch ein ganz netter, liebenswürdiger junger Mann. Haben Sie sonst noch etwas herausgebracht?«
»O, noch eine ganze Masse! Ich legte mir die Frage vor: Was kann das für ein junger Mann sein, der so oft, vielleicht täglich, ins Haus kommt, ohne daß es irgendwie auffiele? Die Antwort darauf war nicht schwer. Es konnte nur ein Beamter aus dem Bureau Ihres Mannes sein, wohl einer, der die Aufgabe hat, jeden Tag am Abend dem Chef die Kassaschlüssel oder den Tagesrapport zu überbringen.«
»Er bringt allerdings nach Geschäftsschluß die tägliche Abrechnung nach Haus. Mein Mann hat sich das so eingerichtet.«
»Woran er sehr recht getan hat. Das weiß ich übrigens nun auch. Denn ich war inzwischen bei Ihrem Direktor.«
»Nein, was Sie nicht alles treiben, wenn Sie eine Spur verfolgen!«
»Man fängt entweder nicht an, meine Gnädigste, oder man fängt an, dann aber muß man auch bis ans Ende gehen, sonst hätte es keinen Sinn.«
»Und was haben Sie bei dem Direktor ausgerichtet?«
»Alles, was ich wünschen konnte.«
»Lassen Sie hören, Dagobert!«
»Ich sagte ihm, daß ich gekommen sei, einen jungen Mann zu protegieren –, er solle mich nur dem Chef nicht verraten. Der Direktor lächelte. Er wisse ganz gut, daß, wenn ich vom Chef etwas wolle, es von vornherein bewilligt sei. Wohl möglich, gab ich zu, es wäre mir aber lieber, ihn nicht direkt um den Freundschaftsdienst zu bitten. Der Direktor begriff oder tat, als begriffe er, und stellte sich mir zur Verfügung.«
Um was handelt es sich? fragte er.
Sie haben da einen jungen Mann im Kontor, erwiderte ich, – na, wie heißt er doch nur? Ich habe so ein scheußliches Namensgedächtnis! Tut übrigens nichts; werde schon draufkommen. Also ein auffallend großer junger Mann mit liebenswürdigen Manieren – sonst hätte er Ihnen nicht gefallen, meine Gnädigste –, mit einem schönen schwarzen Bart und guten Zähnen. Abends bringt er gewöhnlich dem Chef –
Ach, das ist ja unser Sekretär Sommer! unterbrach mich der Direktor.
Sommer, natürlich Sommer! Daß mir der Name entfallen konnte! Sehen Sie, lieber Direktor, Sommer ist ja ein ganz begabter Mensch, aber er ist in der Kanzlei, bei der Korrespondenz nicht am richtigen Platze. Es fehlt die letzte Genauigkeit und Exaktheit bei der Arbeit. Dagegen müßte er sich vortrefflich verwenden lassen für den Verkehr mit den Parteien. Ich weiß, daß Sie schon geraume Zeit nach einer geeigneten Persönlichkeit suchen zur Leitung der Verkaufsfiliale in Graz. Wäre das nichts für Sommer?
Der Direktor schlug sich mit der Hand auf die Stirne.
Donnerwetter, das ist eine Idee! Da suchen wir uns die Augen aus dem Kopfe und haben den Mann in nächster Nähe! Natürlich ist Sommer wie geschaffen dafür! Sie üben da nicht Protektion an ihm, sondern erweisen uns einen Dienst mit Ihrem Vorschlag. Er geht nach Graz. Die Sache ist abgemacht.
»Sie sehen, meine Gnädigste, ich war glücklich genug, ein wenig Vorsehung spielen zu können.«
»Aber Dagobert, wie konnten Sie die Behauptung riskieren, daß der junge Mensch nicht fürs Bureau tauge?«
»Da war nichts riskiert dabei. Ich verließ mich auf mein bißchen Psychologie. Der richtige Bureaumensch ist immer mehr oder minder – bis zu einem gewissen Grade – Pedant. Er wird es durch seine Beschäftigung, die unausgesetzte minuziöse Genauigkeit erfordert. Ein Pedant ist unser Freund nicht. Der richtige Bureaumensch beißt die Spitzen der Zigarren nicht mit den Zähnen herunter, sondern er schneidet sie säuberlich ab mit dem Federmesser oder mit einer besonderen Maschinerie, die er sicher bei sich trägt, wenn er Zigarrenraucher ist. Und noch etwas tut der richtige Bureaumensch nicht. Er legt Zigarrenstummel nicht auf Marmorkamine. Er bemüht sich vielmehr zum Aschenbecher und deponiert den Rest dort, immer bestrebt, darauf zu achten, daß nicht etwas von der Asche daneben gehe. Unser sorgloser junger Freund, der es mit einem Zigarrenstummel nicht so genau nimmt, wird es wahrscheinlich auch mit der Bureauarbeit nicht gar zu genau nehmen. Er hat's nicht in sich!«
»Und daraus haben Sie dann gleich geschlossen, daß er der richtige Mann für den Parteienverkehr ist?«
»Nicht nur daraus, sondern auch aus der Bevorzugung, die Sie ihm haben zuteil werden lassen, meine Gnädigste. Er muß ein sehr angenehmes Mundwerk haben, wird wohl auch ein kleiner Schwerenöter sein. Das alles ist ganz vortrefflich, wenn man mit der Kundschaft in persönliche Berührung zu treten hat.«
»Eines müssen Sie mir noch aufklären, Dagobert. Sie haben sich bemüht, den jungen Mann wegzubringen, weil Sie um meine Tugend besorgt waren?«
»Aber, Frau Violet! Sie wissen doch, welches Vertrauen ich in Sie setze! Da ich aber wußte, daß die abgängigen Zigarren durch Ihre Hände gegangen waren, und Sie daraus Ihrem Manne gegenüber ein Geheimnis machten, mußte der Raucher notwendigerweise verschwinden. Das mußte sein!«
»Ein Geheimnis! Da steckt ja die Ungeschicklichkeit von mir. Ich hatte es meinem Manne nicht gleich gesagt; hatte nicht daran gedacht, und als er dann eine Affäre daraus machte, da wäre es so merkwürdig herausgekommen. Es wäre mir peinlich gewesen.«
»Geradeso habe ich es aufgefaßt, gnädige Frau ... Für mich dürfte übrigens der Wagen vorgefahren sein. Sollte der junge Mann noch kommen, sich zu verabschieden, dann bieten Sie ihm zur Abwechslung eine Zigarre von einer anderen Sorte an, und dann wird diese wichtige Affäre für alle Zeit erledigt sein.«
Der Falschspieler
Andreas Grumbach hatte eigentlich immer ein recht zurückgezogenes Leben geführt. Seine Ehe mit der Schauspielerin Moorlank hatte sich, entgegen der ursprünglichen Annahme der abratenden Freunde, zu einer durchaus ungetrübten und glücklichen gestaltet. Die blonde Frau Violet führte das Hauswesen mit tadelloser Sorgfalt und Geschicklichkeit, und Grumbach fühlte sich zu Hause so wohl, daß er an besondere gesellschaftliche Zerstreuungen gar nicht dachte, obschon vielleicht Frau Violet nicht abgeneigt gewesen wäre. Sie war aber zu klug, da auf Änderungen zu dringen, wo ohnedies alles zu allseitiger Befriedigung sich abwickelte.
Tagsüber hatte Grumbach genug zu arbeiten, und da war es ihm doch am liebsten, wenn er die Abende in seinem Heim verbringen konnte, das ihm Frau Violet mit aller Umsicht, mit Takt und Geschmack ganz in seinem Sinne eingerichtet hatte. Einmal in der Woche besuchte er seinen Klub, das war er sich schuldig; und für einen Abend in der Woche hatte er eine Loge in der Oper, das war er Frau Violet schuldig. Sonst aber blieben sie fein zu Hause, wo es nach seiner Auffassung doch am schönsten war.
Gäste sahen sie selten bei sich. Dagobert Trostler, der gediente Lebemann, der im ruhigen Genusse seiner Renten jetzt nur noch seinen Liebhabereien lebte, der zählte kaum mit. Er konnte kommen und gehen, wann er wollte. Man war auf den alten Freund des Hauses immer vorbereitet, und er gehörte sozusagen zum Hause. Seine großen Passionen wurden ja vielfach belächelt, aber er war zu sehr Philosoph, um sich das sonderlich anfechten zu lassen.
Für Grumbachs war er geradezu unentbehrlich geworden, schon durch die Macht der Gewohnheit; aber auch sonst. Er war ein treuer und sorglicher Freund, auf den man sich in allen Lebenslagen unbedingt verlassen kannte. Er war aber auch der Mittler für die Außenwelt; er brachte die Neuigkeiten des Tages ins Haus, sorgte dafür, daß man in Sachen der Kunst aus dem laufenden blieb und wußte in einemfort allerlei Räuberromane und Kriminalgeschichten zu erzählen, bei denen man sich auch ganz gut unterhalten konnte.
Dieses Idyll hatte aber nun ein Ende gefunden, und Grumbachs wurden mit einem Male hineingerissen in den Wirbel des gesellschaftlichen Lebens der Reichshaupt- und Residenzstadt, sehr gegen die Neigung des Mannes, nicht so auch gegen die von Frau Violet, die da fand, daß sie nun erst die Rolle spiele, die ihr eigentlich und von Rechts wegen schon lange gebührt hätte.
Das war so gekommen: Freiherr Friedrich von Eichstedt, der Chef der altberühmten Firma Eichstedt & Rausch, war der eigentliche Begründer des Klubs der Industriellen gewesen und dessen alljährlich neugewählter Präsident durch volle zehn Jahre. Als die zehn Jahre um waren, wurde das Jubiläum unter großartigen Ovationen gefeiert. Es gab ein denkwürdiges Bankett, zu dem auch die Damen der Mitglieder eingeladen waren, – die Toilette von Frau Violet war sehenswert. Die große Überraschung für den Präsidenten war die feierliche Enthüllung seines von Leopold Horowitz für den Sitzungssaal gemalten Porträts. Er hatte dem Künstler natürlich dazu gesessen. Es wurden prachtvolle Reden gehalten, und alles war sehr schön. Nur eines schien bedauerlich. Der Präsident wollte nicht mehr. Er hatte genug; er wollte durchaus und durchaus nicht mehr. Er habe seinen Dienst zehn Jahre gemacht, nun solle ein anderer 'ran.
Es war nichts zu machen, und in der nächsten Generalversammlung wurde einstimmig zum Präsidenten – Andreas Grumbach gewählt. Nun war sie da, die Bescherung! Ablehnen ging nicht. Zu Hause redete Frau Violet zu, und sie hatte sich sogar hinter Dagobert gesteckt, daß er ihrem Mann die etwaigen Bedenken austreiben möchte. Aber auch ohne das – es ging wirklich nicht, abzulehnen. Die Wahl bedeutete eine Auszeichnung, die reichlich auch einen hohen Orden aufwog. Der erste Klub der Stadt, der Klub der Millionäre, wie er im Volksmund hieß! Der Mann, der da an die Spitze berufen wurde, der stand damit eigentlich an der Spitze der Industriellen überhaupt. Dazu mußte einer doch schon, figürlich gesprochen, von guten Eltern sein, das will besagen, daß sein persönlicher und geschäftlicher Ruf über allen Zweifel erhaben, sein Kredit ein unbeschränkter und dementsprechend auch sein Reichtum ein sehr wohlfundierter sein mußte. Für einen Geschäftsmann war also eine solche Berufung nicht mehr und nicht minder als ein Adelsbrief.
Derlei lehnt man nicht ab, zumal die Würde auch ihre Bürde hatte, welche die Übernahme in doppelter Hinsicht als Ehrenpflicht erscheinen ließ. Es war bekannt und durch die Amtsführung des ersten Präsidenten förmlich zur Tradition geworden, daß mit der Leitung des Klubs ganz erhebliche materielle Opfer verbunden waren. In Wien haben die Klubs von jeher einen sehr schweren Stand gehabt. Die unzähligen eleganten Kaffeehäuser, die London, der klassische Boden des Klubwesens, nicht hat, bieten da mit ihren Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten eine schier unbesiegliche Konkurrenz. Darum vegetieren denn auch alle Klubs nur notdürftig und arbeiten mit Defizit, solange es eben geht. Trotzdem wollten die Industriellen ihren Klub haben, und bei dem mußte natürlich von vornherein jeglicher Zweifel an seinem Bestande ausgeschlossen bleiben. Da nun aber auch die Industriellen nicht zaubern können, so verließ man sich ruhig darauf, daß der jeweilige Präsident schon für die Ehre des Hauses, also auch dafür sorgen werde, daß da kein Defizit zum Vorschein kam.
Die Mitgliedsbeiträge waren recht ansehnlich, zweihundert Gulden jährlich, und dazu kamen noch Einnahmen aus den Kartengeldern, die im Jahre doch an die zwanzigtausend Gulden ausmachten. Aber auch an Ausgaben fehlte es nicht. Zehntausend Gulden Miete, zehntausend Gulden das Personal, zehntausend Gulden für Heizung, Beleuchtung, Zeitungen und sonstige Anschaffungen, zehntausend Gulden Verlust bei Küche und Keller; denn es mußte alles erstklassig und dabei billig sein, um die Mitglieder heranzulocken und zusammenzuhalten. Und so ging das fort. Da läppern sich die Ausgaben doch schon zusammen.
Mit all diesen Sorgen war nun Andreas Grumbach beladen, und das war noch nicht einmal alles. Die neue Würde legte auch Repräsentationspflichten auf, vor denen er früher so schön Ruhe gehabt hatte. Früher hatte er so bequem abseits gesessen, und nun riß ihn der gesellschaftliche Strom mit. Gab der Minister des Kaiserlichen Hauses und des Äußeren einen Rout oder der Ministerpräsident eine Soiree, wurde ein Denkmal enthüllt oder ein General begraben, eine Schule eingeweiht oder eine Ausstellung eröffnet, – der Präsident des Klubs der Industriellen wurde eingeladen und mußte dabei sein, was dann natürlich auch immer zum ewigen Gedächtnis ins Protokollbuch der Vorstandssitzungen eingetragen wurde. Dann kamen auch noch die privaten Einladungen, für die man sich revanchieren mußte. Kurz, es ging recht bunt zu, und Frau Violet war's sehr zufrieden.
Die Hauptschuld an allem trug eigentlich Baron Eichstedt. Erstlich einmal, weil er überhaupt das Präsidium niedergelegt hatte, und zweitens, weil er sich in Frau Violet ganz verliebt hatte – natürlich und selbstverständlich in allen Ehren. Das war die Dame, wie er sich sie schon lange gewünscht und lange gesucht hatte. Seine eigene Frau war ihm schon vor zwölf Jahren gestorben, und seit der Zeit hatte alles gesellschaftliche Leben in seinem Hause geruht. Er hatte sich ganz seinem Klub gewidmet, der ihm das Heim ersetzte. Nun regte sich aber doch das Gewissen in ihm; das mußte anders werden. Als seine Frau gestorben war, hatte sie ihm ein einziges Kind hinterlassen, eine kleine Tochter, Gretl. Das war jetzt eine junge Dame von achtzehn Jahren, an deren Zukunft man doch denken mußte. Er mußte Leute bei sich sehen, und er mußte das Mädchen in die Welt einführen. Dazu brauchte er eine befreundete Dame, die liebenswürdig genug war, an seiner Seite in seinem Hause bei festlichen Anlässen mit die Honneurs zu machen und außer Hause seine Tochter mit der nötigen Anmut und Würde zu chaperonieren. Weit und breit hätte er da keine geeignetere Persönlichkeit finden können als Frau Violet. Das war eine Dame von Welt, die sich anzuziehen, sich zu benehmen und zu repräsentieren wußte, und dabei war sie niemals steif und langweilig, sondern immer gut aufgelegt und munter. Gretl konnte von ihr schon etwas lernen. Daß sie Schauspielerin gewesen, tat ihr gesellschaftlich keinen Abbruch. Wenn es anfänglich vielleicht hier und da Bedenken gegeben haben mochte, so hatte diese das Schwergewicht des gesellschaftlichen Ansehens ihres Mannes doch sehr bald beiseite gedrückt.
Dagobert Trostler tat bei alledem immer mit. Grumbach hätte ihn um keinen Preis aufgegeben, und auch Frau Violet war so an ihn gewöhnt, daß er ihr sehr gefehlt hätte. Er hatte also, als Grumbach Präsident wurde, nicht nur in den Klub einzutreten, er mußte es sich auch gefallen lassen, auf Vorschlag des Präsidenten in den Ausschuß kooptiert zu werden. Die Freundschaft war eine notorische, und man richtete sich danach. Man wußte, daß man dem Herrn Präsidenten gefällig sei, wenn man mit ihm auch seinen Freund einlud.
Wie jedem großen Manöver die Kritik folgt, so folgte jeder mitgemachten Unterhaltung, und wenn man noch so spät heimkehrte, im Hause Grumbach die kritische Besprechung derselben. Dagobert mußte immer noch »auf einen kleinen Schwarzen und eine Zigarre« mitfahren. Frau Violet wollte es so. Man könne doch nicht gleich schlafen gehen. Ein kleiner Plausch, ein kleiner Tratsch, ein bisserl Leutausrichten – das beruhigt die Nerven wunderbar.
So saßen die drei wieder einmal zu nächtlicher Stunde beisammen und übten Manöverkritik an der eben absolvierten Soiree bei Eichstedts.
»Es war doch sehr hübsch,« bemerkte Frau Violet, die da allerdings interessierte Partei war.
»Es war tadellos,« bekräftigte Dagobert, seinen Schwarzen schlürfend. »Sie waren einfach bewunderungswürdig, Frau Violet, wie Sie die Honneurs machten.«
»Mein Gott, es ist so schwer, wenn so viele Leute da sind!«
»Ja, ein wenig zu voll war es doch wohl.«
»Sie haben sich darüber nicht zu beklagen, Dagobert. Sie liegen ja immer auf der Lauer mit Ihren Beobachtungen. Je mehr Leute, desto besser für Sie.«
»Das ist nicht richtig, Frau Violet. Es beobachtet sich besser, wenn das Gewühl nicht so groß ist.«
»Also gar keine Ausbeute heute?«
»O doch, eine Kleinigkeit schon! Ich möchte wissen, ob sie ihn auch liebt.«
»Sie haben so eine merkwürdige Art, Dagobert, die Leute mit unvermittelten Fragen und Behauptungen zu überrumpeln. Wer soll wen lieben? Und wie soll ich das wissen?«
»Nicht so unvermittelt, wie es scheint, Gnädigste. Ich liebe es nur, gelegentlich das Bekannte als bekannt vorauszusetzen und mich damit nicht weiter aufzuhalten. Ich meine wirklich, daß, wenn jemand es wissen könnte, Sie es sein müssen.«
»Etwas deutlicher, wenn ich bitten darf!«
»Ich habe im Vorzimmer, als wir weggingen, eine hübsche kleine Szene beobachtet. Eine Schauspielerin hätte davon lernen können.«
»Sie machen mich neugierig, Dagobert.«
»Die Dienerschaft half den Herrschaften in die Überkleider. Ein junger Mann, unzweifelhaft der hübscheste in der ganzen Gesellschaft – er hat so schöne melancholisch-träumerische Augen – «
»Ich weiß schon – Baron André, der kleine Attaché.«
»Bei welcher Gesandtschaft?«
»Bei keiner vorläufig. Er ist Diplomat von Beruf und wartet nun hier darauf, daß ihn seine Regierung nach Petersburg oder Madrid dirigiere.«
»Gut. Ich bemerkte also, daß dieser junge Mann nicht ohne Geschicklichkeit so manövrierte, daß nicht einer der sechs Lakaien dazu kam, ihm beim Anziehen behilflich zu sein, sondern das einzige im Vorzimmer anwesende Stubenmädchen.«
»Die war eigentlich da, um den Damen zu helfen.«
»Verstehe vollkommen. Kein schlechter Geschmack; hätte mir auch lieber von ihr helfen lassen. Ich beobachtete weiter. Und nun kommt die kleine Szene; sie war allerliebst. Er drückt ihr etwas in die Hand, das Trinkgeld. Da hätten Sie das Gesicht des Kammerkätzchens sehen sollen; es war zu reizend. Im ersten Moment Verblüffung, eisige Kälte, ja geradezu Entrüstung. Dann ein rascher Blick und darauf sofort hellster Sonnenschein. Rasch fuhr die ordnende Hand noch einmal über seinen Überrrock, dann ein freundliches Lächeln und eine devote Verbeugung. Das Mädel hat mir gefallen!«



