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(Man erzählt, daß ein jüdischer Kollege einmal am Jom Kippur erst abends während des Nile-Gebets zur Synagoge kam, auf seinen Machsor deutete und sagte: „Lieber Gott, ich bitte, den Inhalt als vorgetragen anzusehen.“)
Begreiflicherweise wurden im Anwaltszimmer lebhaft alle Tagesfragen diskutiert, und auch die jüdischen – fanden sich doch dort vom Zionisten bis zum extremen Assimilanten alle Schattierungen zusammen. Ich erinnere mich einer Debatte im Schachzimmer über die Frage, ob der Weihnachtsbaum in ein jüdisches Haus gehört. Ein durchaus antizionistischer, aber sonst jüdisch gesinnter Kollege polemisierte lebhaft gegen jene unwürdige Nachäffung christlich-germanischen Brauches. Darauf fuhr ihn ein Anhänger des Christbaums an: „Mit Ihnen kann ich nicht reden, Sie sind ja Zionist.“ Der andere verwahrte sich entschieden gegen diese „Verdächtigung“ und erhielt die erstaunliche Antwort: „Ach was, wer keinen Weihnachtsbaum anzündet, ist in meinen Augen ein Zionist.“ – Dabei erinnere ich mich an den Justizrat Max Meyer, der in seiner Person mir ein merkwürdiges Beispiel jener Verwirrung gab, welche in den jüdischen Köpfen herrschen kann. Er führte ein streng gesetzestreues Leben, schrieb und fuhr nicht am Sabbat und führte natürlich einen rituellen Haushalt. Aber den Weihnachtsbaum zündete er an und verteidigte diese Befolgung „germanischer Sitte“ mit Energie. Im ganzen herrschte in den Anwaltsräumen doch eine heitere Luft im Gegensatz zu der eher finsteren Atmosphäre, welche sonst das Justizgebäude erfüllte, und mancher Klient, der in den Saal hineinguckte, war wohl entrüstet darüber, wie harmlos heiter es dort zuging, während er doch glaubte, daß die Sachwalter der ernstesten Interessen ebenso bedrückt und aufgeregt wie ihre Klienten sich gebärdeten. Bisweilen ging es so übermütig zu wie in der Schulpause des Gymnasiums. Und wirklich wurde man an jene Schulzeit etwa erinnert, wenn im Schachzimmer der alte Justizrat Freudenthal sich von den ihn umgebenden Kollegen die mitgebrachten Frühstücksbutterbrote zeigen ließ, um das ihm am meisten zusagende zu annektieren. Aber diese Idylle änderte nichts an dem lärmenden Charakter jenes Saales, und es war nicht ganz leicht für mich, mich in dieses Getriebe, daß von dem ruhigen Betrieb in Hannover so abstach, hineinzufinden. Ich mußte es wohl oder übel fertig bekommen, denn meine Praxis begann eigentlich gleich von Anfang an, sich recht stark zu entwickeln.
Es ist vielleicht nicht uninteressant zu beobachten, wie eigentlich eine Praxis aufsteigt. Im Anfang mögen ja persönliche Beziehungen von Nutzen sein. Aber das Interesse der Freunde lässt schnell nach und dann können eben nur Erfolge der Arbeit und die Empfehlungen der Klienten die Sache fördern, – übrigens nicht nur der Klienten. Ich habe mehrfach die Erfahrung gemacht, daß gerade Prozessgegner, die ich zur Strecke gebracht hatte, meine besten Helfer wurden. So erinnere ich mich, daß in einer Armensache, die ich unentgeltlich führen mußte, der Gegner, der unterlegen war, mir daraufhin Klienten zuschickte und selbst einer meiner besten und treuesten Kunden wurde. – Noch charakteristischer ist vielleicht ein anderer Fall aus späterer Zeit: da handelte es sich um den Leiter einer großen Kolonialgesellschaft, von dem ich als Vertreter seines Gegners eine bestimmte Erklärung provozieren wollte. Der Herr befand sich auf einer Weltreise, und nun fand er in jedem Hafen, den er berührte, ein dringendes Telegramm von mir vor, bis ihm die Geduld riß, und er schließlich telegraphisch jene erwartete Order gab. Er widerrief sie zwei Stunden später telegraphisch, aber da war es zu spät. Ich war überzeugt, daß er mein Todfeind geworden war, aber siehe, Jahre später, als er in eine große Affäre verwickelt wurde, kam er zu mir und erklärte: „Sie haben mich seinerzeit beinahe krank gemacht. Aber Sie haben mir so imponiert, daß ich meine Sache in ihre Hände lege.“ Das hat er denn auch nicht bereut. Dieser Prozess, dessen Stenogramm unter dem Titel „Ein Riesenkolonialprozess“ veröffentlicht wurde, ging glücklich aus und war einer der interessantesten Fälle meiner Praxis.
Ich komme aber auf die Anfangszeit meiner anwaltlichen Tätigkeit zurück und will den einen oder andern charakteristischen Fall aus jener Zeit skizzieren. – Da war die russisch jüdische Tänzerin Maria S. Die junge Künstlerin hatte in den Varietés Rußlands sehr viel Beifall gefunden, – und nicht nur Beifall. Sie war mit Geschenken recht wertvoller Art geradezu überhäuft. Eine Dame der Aristokratie z. B. in Moskau war von ihr so begeistert, daß sie ihre Brillantohrringe abnahm und ihr hinter die Bühne sandte. Ein Verehrer ihrer Kunst schenkte ihr einen kostbaren Fächer, dessen Stäbe durch Hundertrubel-Scheine verbunden waren etc. Sie kam mit ihrer Mutter in einem Sommer in ein deutsches Bad, geriet dort irgendwie unter den Einfluss von Persönlichkeiten, die ihr Interesse nach anderer Richtung lenkten, und sie beschloss, der Bühne zu entsagen und sich der Krankenpflege zu widmen. Dabei stieß sie auf den heftigsten Widerstand der Mutter. Das war der Typus der „Theatermutter“, nur ins Jiddische übersetzt. Sie wollte durchaus nicht auf die Einnahmequelle verzichten, was um so begreiflicher war, als sie derartig geldliebend und knauserig war, daß sie beispielsweise regelmäßig, wenn sie die Straßenbahn benutzte, Versuche machte, etwas vom Preise des Billets abzuhandeln. Hatte sie schon vorher ihre Tochter in überaus strenger Zucht gehalten, so nahm das jetzt groteske Formen an, sodaß Merim sich kaum noch frei bewegen konnte. Sie fasste den Entschluss dem Gefängnis zu entfliehen, und eines schönen Morgens erschien sie in meinem Büro, in der Hand ein großes zusammengeknüpftes Tuch. Ohne etwas zu sagen, öffnete sie dieses Paket, und auf meinen Tisch ergoss sich ein Katarakt von Brillanten, Schmuckstücken aller Art etc. Ich starrte die Beschwerung entgeistert an: sie erklärte mir kurz, sie sei ihrer Mutter fort gelaufen und hätte allen ihren gehörigen Schmuck mitgenommen. Sie ginge zur Mutter nicht zurück, – ich solle mich ihrer annehmen. Ich stellte fest, daß sie auf der Bank auch noch ein Kapital, wenn ich nicht irre, von 200.000 Mark hatte und begriff, daß höchste Gefahr im Verzuge sei. Ich raste mit ihr im Auto nach Charlottenburg zu dem zuständigen Gericht. Unterwegs hatten wir eine Panne. Wir mußten zuerst zur Apotheke, wo Merim verbunden werden mußte, und so kamen wir zu spät, um die Erlassung eines Arrestes auf das Kapital zu verhindern. Nun begann ein gewaltiger Kampf vor Gericht. Die alte Frau erklärte kühn und gottesfürchtig, daß die gesamten Schmucksachen ihr gehörten und ihr verehrt seien. Außerdem beschuldigte sie mich, ihre Tochter entführt zu haben: eines Tages drang sie in Begleitung einiger Frauen in meiner Abwesenheit in meine Wohnung ein, da sie glaubte, daß ich das Mädchen bei mir versteckt hielte. Es gab einen sehr langwierigen Prozess, und das Gericht ordnete das sogenannte „vorbereitende Rechnungsverfahren“ an, d. h. ein Richter wurde damit beauftragt, die einzelnen Posten zu prüfen. Das dauerte wochenlang, und ich hatte den Nachweis über die Herkunft jedes einzelnen Schmuckstückes zu führen. Es war da eine ganz interessante Liste von Kunstenthusiasten, die zusammen kamen: fürstliche Persönlichkeiten, Männer der Hochfinanz etc. kamen in Frage. Als Zeugen aber figurierten hauptsächlich Kollegen vom Varieté. In diesen Kreisen hatte die Sache großes Aufsehen gemacht, und es drängten sich bei mir in diesen Wochen Sänger, Sängerinnen, Bauchredner, Schlangenbeschwörer, Trapezkünstler, ferner Impresarien des Varieté, die alle Merim zur Seite stehen wollten. Die Mutter aber ließ aus Ungarn ihren Bruder kommen, der das Blaue vom Himmel runter beschwor. Schließlich kam es zur Verhandlung vor einer Zivilkammer, der der feudale Landgerichtsdirektor von Keller vorsaß. Die Mutter Merims war persönlich erschienen, und der Herr von Keller beklagte sich, daß diese alte Frau ihm ständig das Haus einrenne, trotzdem er ihr ein-für allemal habe erklären lassen, daß er sie nicht empfange. Die alte Frau aber, offenbar in etwas naiven Vorstellungen über deutsches Prozesswesen befangen, begehrte vor Gericht selbst das Wort und führte, wohl zum Erstaunen auch ihres katholischen Beistandes, aus: „Ich will Ihnen erzählen, Herr Präsident, wie die ganze Sache ist. Hier der Rechtsanwalt Gronemann ist ein Zionist. Und was wollen die Zionisten? – Den russischen Kaiser umbringen und ‘nen jüdischen Kaiser machen, und dazu brauchen sie mein Geld.“ – Das Gericht war etwas verblüfft, aber auch diese Argumentation vermochte nicht, den Prozeß zu Gunsten der alten Dame zu wenden. Bevor es aber zu einem rechtskräftigen Urteil kam, gab es eine unerwartete Lösung: es tauchte ein reicher Pflanzer aus Kuba auf, der sich in Merim verliebte und sie als seine Frau in seine Heimat mitnahm. Der alten Dame wurde von der Tochter eine auskömmliche Lebensrente gewährt.
In ziemliche Verlegenheit kam ich, als ich einen jungen jüdischen Kaufmann wegen Betruges zu verteidigen hatte. Es war eine überaus raffinierte Sache, die er angestellt hatte, und die er auch zugestand. Nun war die einzige Möglichkeit die, vor dem Gericht mildernde Umstände zu erwirken, und zwar wegen seiner offenbaren geistigen Minderwertigkeit. Wie vertrug sich das aber mit jenem Raffinement? Ich kam auf den Gedanken, ihn zu fragen, welche Zeitungen er zu lesen pflegte, und in einem dieser Blätter, dem „Pester Lloyd“, fand ich den Bericht über einen raffinierten Betrug, der genau in derselben Weise ausgeführt war, wie der jetzt zur Verhandlung stehende, nur mit dem Unterschied, daß der Täter in Budapest nicht gefaßt war, während mein Klient durch sein Ungeschick ins Unglück geraten war. Ich klärte so die Sache auf, und der junge Mann kam mit der verhältnismäßig geringen Strafe von sechs Monaten davon. Ich erinnere mich, daß die entzückende Braut des jungen Mannes, die später eine bekannte „spanische“ Tänzerin wurde, ihrem Vater, einem alten Justizrat in Berlin, das Urteil in neckischer Weise beibrachte, indem sie ihm erst erzählte, ihr Verlobter hätte drei Jahre bekommen, und dann allmählich über zwei Jahre und ein Jahr zu dem wahren Resultat kam, worüber sich der alte Herr vermutlich sehr gefreut hat.
Nun will ich bei dieser Gelegenheit einen anderen kuriosen Fall erzählen, bei dem ich auch Dummheit als Milderungsgrund geltend machte. Der Fall ist deshalb interessant, weil hierbei in drastischer Weise das Problem in Erscheinung tritt, das so oft zu jener Frage Anlaß gibt, die immer wieder Verteidigern von Laien vorgelegt wird: Ist es für Sie nicht eine große Verlegenheit, wenn Sie einen Angeklagten verteidigen müssen, der seine Schuld leugnet, von dessen Schuld Sie selbst aber überzeugt sind? Dieser Konflikt tritt übrigens nicht so häufig auf, wie man sich im Publikum gewöhnlich vorstellt. Vor allem ist kaum ein Verbrecher so töricht, etwa, wenn er vor Gericht die Schuld bestreitet, diese seinem Verteidiger einzugestehen. In solchem Falle freilich bliebe dem gewissenhaften Anwalt nichts anderes übrig, als die Verteidigung niederzulegen. Wenn aber der Verteidiger im Gegensatz zu der Behauptung des Angeklagten doch zu der Ansicht hinneigt, daß eine Schuld vorliegt, darf er sich nicht wohl seinem eigenen Empfinden überlassen, sondern hat die Pflicht, die für den Angeklagten sprechenden Momente vorzubringen und dem Gericht die Entscheidung und die Verantwortung zu überlassen, es sei denn, daß er ganz zweifellos von der Schuld überzeugt ist. Es sind aber auch Fälle denkbar, in denen der Verteidiger trotz des Leugnens des Angeklagten es für seine Pflicht hält, seiner Überzeugung von der Schuld Ausdruck zu geben, sich also von seinem Mandanten zu distanzieren.
Bei dem Fall, den ich jetzt erzählen werde, handelt es sich um ein ganz geringfügiges Vergehen, für das nach dem juristischen Tarif der Täter vielleicht mit 2 – 4 Wochen Gefängnis bestraft worden wäre. Der betreffende Angeklagte, ein russischer Jude, saß auf der Anklagebank völlig apathisch und teilnahmslos, – allem Anschein nach war er taubstumm und idiotisch. Das Gericht hatte aber einigen Verdacht, daß er simulierte und ordnete darauf eine Untersuchung durch den Gerichtspsychiater an: Der Mann wurde auf sechs Wochen zur Beobachtung in die Klinik überwiesen. Ferner beschloß das Gericht, ihm einen Verteidiger zuzuordnen; zum Verteidiger wurde ich ernannt. Ich sah den Angeklagten zum ersten Mal bei der neuen Verhandlung und nahm ihn in eine Ecke des Gerichtssaales, während das Gericht über das Urteil in der vorhergehenden Sache beriet. – Ich sagte ihm, der mich blödsinnig angrinste, ungefähr folgendes: „Lieber Freund, ich weiß nicht, ob Sie ein Wort von dem, was ich sage, verstehen. Wenn Sie sich aber nur verstellen und so tun, als ob Sie verrückt wären, dann sind Sie’s wirklich. Sie laufen Gefahr, auf ewige Zeiten ins Irrenhaus gesperrt zu werden, während Sie, wenn Sie ihre Vorstellung aufgeben und ihre Tat eingestehen, höchstens ein paar Wochen Gefängnis bekommen und vermutlich längst frei wären, während Sie jetzt schon zwei Monate sitzen. Haben Sie mich verstanden?“ – Der Mensch zwinkerte mir verständnisvoll zu. Jetzt also im Klaren über seine Simulation, schärfte ich ihm ein, gleich zu Beginn der Verhandlung seine Komödie aufzugeben. Wie groß aber war mein Schrecken, als die Verhandlung begann, und der Angeklagte nach wie vor weiter simulierte. Da war ich nun wirklich in größter Verlegenheit. Ich wußte doch, daß er simulierte, durfte aber nach den strengen Vorschriften für Anwälte keineswegs diese meine Wissenschaft dem Gericht mitteilen. Weiter konnte ich aber auch nicht, ohne den Mandanten zu schädigen, in diesem Moment das Mandat niederlegen, ganz abgesehen davon, daß ich ja nicht ein gewählter, sondern ein von Amts wegen bestellter Verteidiger war. Nach dem ersten Schreck sagte ich mir aber, daß ja der Gerichtspsychiater die Wahrheit enthüllen und mich so aus der Verlegenheit befreien werde. Aber nun geschah das Erstaunliche, daß der Psychiater in lichtvoller Weise darlegte, daß von Simulieren keine Rede sein könne, und daß die angestellten Experimente mit voller Sicherheit erwiesen hätten, daß der Angeklagte wirklich taubstumm und idiotisch sei. Nun saß ich wirklich in der Tinte. Der alte Amtsgerichtsrat aber, der die Verhandlung leitete, schmunzelte verdächtig und rief zu meiner Überraschung noch einen Zeugen, den Wachtmeister Schmidt, auf, der sich selbst gemeldet hatte. Dieser sagte kurz und bündig: „Als ich nach der letzten Verhandlung den Angeklagten ins Gefängnis zurückbrachte, drehte er sich lachend um und sagte: ‚Habe ich das nicht gut gemacht?‘“ – Das erregte stürmische Heiterkeit und eine für den Angeklagten eher sympathische Stimmung. Der Amtsanwalt beantragte zwei Wochen Gefängnis, und ich als Verteidiger sagte, die heitere Stimmung ausnutzend: „Geben Sie ihm ruhig drei Wochen, aber lassen Sie das als durch die Untersuchungshaft verbüßt ansehen!“ – So geschah es dann auch, und der arme Schlucker konnte nach Hause gehen.
Ein zu rechter Zeit angebrachter Scherz, der die Eintönigkeit und Düsterkeit der Atmosphäre wohltuend unterbricht, kann bisweilen Wunder wirken. So handelte es sich einmal in einer erbitterten Mietsverhandlung darum, ob die betreffende Räumlichkeit eine Privatwohnung, wie der Gegner behauptete, oder ein Geschäftsraum, wie mein Klient darstellte, sei. Er behauptete, darin eine Schusterei zu betreiben, während der Gegner sagte, das sei nur eine Fiktion. Letzterer brachte einen Zeugen, der aussagte, er sei gegen Mittag in die angebliche Schusterei gekommen. Dort hätte mitten im Raum die Frau im Bett geschlafen. Das sei doch offenbar keine Werkstatt. Darauf sagte ich: „Der Zeuge hat übersehen, daß vor dem Laden ein Schild steht mit dem ausdrücklichen Hinweis: ,Verkauf ab Lager‘.“ – Die gegenseitige Erbitterung löste sich in Heiterkeit auf, und es war jetzt nicht schwer, einen angemessenen Vergleich zu finden.
So viel Freude mir die Tätigkeit eines Verteidigers machte, habe ich doch nach dem Eintritt von Alfred Klee in die Praxis nur noch ausnahmsweise Verteidigungen geführt, diese vielmehr ganz und gar meinem Freunde überlassen, der ausschließlich Strafpraxis machte. Denn Alfred Klee war als Verteidiger geradezu genial. Es fehlte in Berlin nicht an tüchtigen Verteidigern, an deren Spitze damals, nachdem Fritz Friedmann schon vor Jahren infolge einer peinlichen Affäre ausgeschieden war, die Justizräte Sello und Wronker standen. Alfred Klee hatte seinerzeit seine Anwaltsstation bei Wronker absolviert und von ihm die Tradition des vornehmen alten Advokatenstils übernommen. Bei aller Energie, mit der er für seine Schutzbefohlenen eintrat, hat er nie vergessen, daß zwischen Angeklagtem und Verteidiger eine Distanz besteht. Er hat nie die Würde des Gerichtssaales verletzt und vor allem nie zu unwürdigen Werbemitteln gegriffen. Gerade dadurch unterschied er sich wohltuend von einer großen Fülle von Verteidigern in Moabit, deren Verhalten geeignet war, den Ruf des Anwaltsstandes zu schädigen. Bei vielen dieser Herren war es geradezu Übung geworden, wenn irgendein interessanter Kriminalfall Aufsehen erregte, auf irgendwelchen Wegen sich um die Verteidigung zu bewerben und geradezu das Interesse des Angeklagten zu schädigen, dadurch daß sie die Presse, auch wenn die Sache noch im vorbereitenden Stadium war, mit Notizen versorgten, während es doch meistenteils gerade im Interesse der Betroffenen war, möglichst im Dunkeln zu bleiben. Die Journalisten waren natürlich für solche Tips dankbar und wußten, sich dadurch zu revanchieren, daß sie die Namen der betreffenden Verteidiger möglichst oft in die Presse brachten und den Verhandlungen, an denen diese Herren beteiligt waren, besondere Aufmerksamkeit schenkten. In unserer Praxis, und nicht nur in der Strafpraxis, war es ganz außer Frage, sich solcher nach unserer Auffassung unwürdiger Manipulationen zu bedienen, und so gelang es uns sehr oft, Affären, die, in die Öffentlichkeit hinausgetragen, Sensationsaffären geworden wären, in aller Stille zu glücklichem Ende zu führen, so daß es überhaupt oft nicht erst zu einer Verhandlung kam.
Die forensische Beredsamkeit von Alfred Klee war von einer ganz besonderen Art. Als zionistischer Agitationsredner war er in jüdischen Kreisen, zumal in Westeuropa, allerorten bekannt. Seine mitreißende, feurige Beredsamkeit war einfach unwiderstehlich. Selbst der Widerwilligste, sich gewaltsam Sträubende konnte sich dem Bann, der von ihm ausging, nicht entziehen. Das ging nun freilich soweit, daß diese phänomenale, fast zauberhaft zu nennende Wirkung seiner Worte gerade intellektuelle und skeptische Hörer bisweilen bedenklich stimmte. Man fragte sich, ob es nicht nur der Zauber seiner Persönlichkeit, der Klang seiner Stimme, die meisterhafte rhetorische Art waren, die den Hörer fingen, – ob er nicht statt zu überzeugen überredete. Was steckte hinter dem blendenden Feuerwerk, hinter der glänzenden Fassade? War es nur der Künstler, der begeisterte? Man wappnete sich gegen diese suggestive und mystische Kraft. – Aber er war mehr als ein Feuerwerker des Wortes. In den Jahrzehnten, in denen ich mit ihm in engster Freundschaft verbunden Tür an Tür arbeitete, lernte ich den echten Klee kennen, der bei aller Freude an Wirkung und Effekt der Idee des Zionismus innerlich verbunden war. Wie hätten sich die liberalen Juden Berlins um ihn gerissen, wenn er sich dazu hergegeben hätte, in ihren Versammlungen, bei ihren Banketten, seine Rednergabe zu bewähren. Aber er hat in seiner Zeit, als noch der Zionismus verpönt war, seine Vertreter boykottiert wurden, gleich nach dem Auftreten Herzls sich in den Dienst der zionistischen Sache gestellt. Unermüdlich raste er – kann man sagen – durch Deutschland, um für die Idee zu werben. So wurde er der Feind Nr. 1 der Assimilation, und erst viel später, als die zionistische Flut nicht einzudämmen war, als wir die Gemeindestuben eroberten, wurde er auch von jener Seite anerkannt. – In seiner Verteidigertätigkeit eröffnete sich nun für ihn ein neues Wirkungsgebiet. Er war keineswegs nur ein Redner, sondern, mit wunderbarem Fingerspitzengefühl begabt, wußte er stets in jeder Situation die rechte Einstellung und das rechte Wort zu finden. – Es ist vielleicht nichts charakteristischer für den Zauber, der von ihm ausging, als daß ich selbst, der ich ihn doch unzählige Male in Versammlungen gehört hatte, wenn es mir nur irgend möglich war, zu Strafverhandlungen ging, in denen er verteidigte. Fast immer geschah es schon kurz nach Beginn der Verhandlung, daß er der leuchtende Mittelpunkt des forensischen Theaters wurde. Die Art, wie er ein Zeugenverhör zu führen wußte, und wie er in einem Schlußplädoyer plan- und lichtvoll zu plädieren verstand, war einfach unübertrefflich, und auch abgebrühte, pedantische Richter konnten sich seiner Redekunst und der Logik seiner Darlegung nicht entziehen. Mehrfach war es vorgekommen, daß nach seinem Plädoyer der Verteidiger der Anklagebehörde, der vorher den Schuldspruch beantragt hatte, sich erhob und erklärte, die Darlegungen des Verteidigers hätten ihn überzeugt, er beantrage auch seinerseits Freispruch. Ich möchte eine groteske Äußerung anführen, die vielleicht in ihrer Ursprünglichkeit am besten die Wirkung zeigt, die von ihm ausging. Da war der Gentleman-Einbrecher S., der u. a. den ziemlich berühmt gewordenen Juwelenraub in der Potsdamer Straße von seinem Büro aus dirigiert hatte, der nach Klees Plädoyer ihm sagte: „Dr. Klee, ich weiß, ich wandere jetzt auf Jahre ins Zuchthaus. Aber es lohnt sich, weil ich dafür Ihre Rede gehört habe.“ – Für seine Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit nur ein Beispiel: Da stand ein alter Jude vor Gericht, der beschuldigt war, sich an einem kleinen Schulmädchen unsittlich vergangen zu haben. Der Mann war ganz bestimmt unschuldig. Aber nichts ist gefährlicher als die Aussagen von Kindern vor Gericht. Von alten Weibern beiderlei Geschlechts monatelang durch Suggestiv-Fragen beeinflußt, sagt das Kind schließlich im besten Glauben vor Gericht aus, und niemand zweifelt an der Wahrheit des unschuldigen Engels. (Ärzte und Schullehrer wissen darüber zu berichten.) – Die Sache sah recht trübe aus. Doch der Vorsitzende ließ zu Beginn der Vernehmung das Kind an den Richtertisch treten, gab ihm freundlich die Hand und fragte dann, auf den Angeklagten zeigend: „Nun, mein Kind, kennst Du diesen Mann?“ – Da sprang Klee, der seinen Platz vor der Anklagebank hatte, dazwischen und sagte freundlich: „Nicht wahr, mein Kind, Du kennst mich?“, worauf das Kind treuherzig mit „ja“ antwortete. Der Staatsanwalt tobte, aber damit war der Angeklagte gerettet. – Beiläufig, der berühmte Strafrechtslehrer Professor von Liszt pflegte in seinem Kolleg diese Geschichte als Beispiel der Geistesgegenwart seinen Hörern zu erzählen.
Klee war sich natürlich seiner Wirkung bewußt, und bisweilen machte er gewagte und amüsante Experimente, wenn eine Verhandlung gar zu trocken war. Ich erinnere mich, daß er als Verteidiger in einer Schwurgerichtsverhandlung, als das Redegeplänkel gar zu langweilig dahinfloß, mir ins Ohr flüsterte: „Es ist zu langweilig. Soll ich drüben die Kerls (nämlich die Herren Geschworenen) mal weinen lassen?“ Und siehe da, er erhob sich, – und nach wenigen Augenblicken wurden drüben die Schnupftücher gezogen und geräuschvoll die Nasen geschneuzt.
III.
Ich war also wieder in Berlin, und damit auch im zionistischen Milieu, nicht mehr vereinsamt in übelwollender Umgebung, sondern ich fand hier einen großen Kreis von Gesinnungsfreunden. Das Zentrum zionistischen Lebens war damals das „Café Monopol“ am Bahnhof Friedrichstraße und blieb es auch noch lange Zeit, bis später nach dem Ersten Weltkrieg, dem Zuge nach Westen folgend, auch die sonst nach Osten tendierden Zionisten zum Kurfürstendamm – erst in das alte „Café des Westens“ und dann in das „Romanische Café“ – übersiedelten. Damals aber wußte jeder von auswärts kommende Zionist, daß, wenn er seine Schritte ins „Monopol“ lenkte, er zu jeder Tageszeit dort Gesinnungsfreunde traf und alles Neue aus der zionistischen Welt und allen zionistischen Klatsch erfahren konnte. Das gelesenste und begehrteste Blatt war dort die gelbe „Welt“, das offizielle zionistische Organ. (Franz, der Oberkellner, der neben dem schönen Eduard die Gäste betreute, später die leitende Seele im „Romanischen Café“, pflegte zu fragen, wenn die „Welt“ begehrt wurde: „Die Welt am Sabbat“ oder die „Welt am Montag“? – In jedem Falle war es, „nicht die Welt, in der man sich langweilt“. Damals thronte dort als „ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht“ die gewichtige Gestalt von Bertha Meierowicz, der Administratorin der „Jüdischen Rundschau“. (Böswillige behaupteten, daß der Name für das große deutsche Geschütz, die „Dicke Bertha“ im Hinblick auf sie gewählt wäre.)






