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Die zionistische Vereinigung für Deutschland entwickelte sich hauptsächlich infolge der organisatorischen Tüchtigkeit von Arthur Hantke, der Bodenheimer im Amte folgte, als der Sitz der Organisation nach Berlin verlegt wurde. Die Versammlungen der Berliner Zionistischen Vereinigung wurden immer mehr Ereignisse im jüdischen Leben Berlins, was zum großen Teil das Verdienst von M. A. Klausner war, der unermüdlich in allen größeren Versammlungen als Gegenredner auftrat.
Eine besonderes charakteristische Figur unter den deutschen Zionisten war der Bankier Hans Gidon Heymann, eine urwüchsige Persönlichkeit, in seinem Auftreten eher an einen ostelbischen Junker erinnernd. Seine geradezugehende ehrliche Art machte ihn ebenso sympathisch, wie seine mimosenhafte Empfindlichkeit und seine brüske Art der Reaktion gegnerischer Ansicht gegenüber die Arbeit mit ihm erschwerte. Es ging kaum eine Tagung vorüber, in der er nicht an die Rampe trat, um mit mühsam unterdrückter Erregung, aber in feierlicher Betonung jedes Wortes, die Erklärung abzugeben: „Ich bitte zur Kenntnis zu nehmen, daß ich mit diesem Moment aus der Zionistischen Organisation für Deutschland austrete.“ – Man nahm diese Mitteilung stets mit Fassung entgegen, denn man wußte aus Erfahrung, daß er schon wenige Minuten danach, als ob nicht geschehen wäre, sich eifrig wie je an der Arbeit beteiligen würde.
Eine Zeitlang habe ich als Vorsitzender der Ortsgruppe Berlin die Versammlungen geleitet. Ich muß gestehen, daß ich gerade an der Leitung stürmischer Versammlungen ein großes Vergnügen wohl mehr sportlicher Art empfand. Es ist wohl die Leitung einer Versammlung, in der sich widerstrebende Elemente befinden, in gewissem Sinne mit der Leistung eines Orchesterdirigenten zu vergleichen, nur muß eben der Präsident verstehen, auch die opponierenden Elemente, die Gegenreden sowohl wie die Zwischenrufe und etwaigen Radautöne doch dem Ensemble sich eingliedern zu lassen. Es gab interessante Gegner genug, Männer wie Motzkin, Schmarjahu Levin, Martin Buber, Berthold Feiwel, neben den eingesessenen Berliner Stars Klee, Loewe, Friedemann. Ein besonderes Vergnügen machte es mir, wenn jener vielfach erwähnte Gegner unserer Sache, M. A. Klausner, auf der Tribüne erschien und zumal, wenn es ein Rededuell zwischen ihm und Heinrich Loewe gab. Man erzählt, – ich erinnere mich persönlich nicht an diesen Vorfall, daß Klausner einmal Loewe persönlich angriff – etwa mit den Worten: Es ist ein Mann im Saal, dessen Existenz ich für das größte Unglück für uns deutsche Juden halte, – und daß Loewe schlagfertig dazwischen rief: „Sie vergessen sich!“ – Als ich Klausner einmal wegen seiner Ausfälle zur Ordnung zu rufen gezwungen war, erhielt ich andern Tags von ihm einen Brief, in dem er sich wegen seines Verhaltens entschuldigte und mich sogar ob meiner korrekten Art der Versammlungsleitung bekomplimentierte, damit freilich eine Werbung für seine Organisation verbindend. – Auch in den internen Versammlungen gab es interessante Redeschlachten. In jenen Jahren war der „Kulturkampf“ noch nicht vorbei, dessen Auftakt auf dem V. Kongreß ich [im ersten Band der Erinnerungen] geschildert habe. Von orthodoxer Seite wurde insbesondere eine heftige Polemik gegen die Entwicklung des Schulwesens in Palästina geführt. Insbesondere dagegen, daß an dem dortigen Gymnasium Bibelkritik getrieben wurde. In einer solchen Versammlung trat nach den konservativen Rednern, deren Hauptvertreter Hermann Struck war, auch Adolf Friedemann als Beschützer der religiösen Tradition auf. Nun kam Adolf Friedemann aus den Kreisen der Berliner Reform und war nichts weniger als gesetzestreu. Gerade aber zurück von einer Reise nach Palästina, die er in Gesellschaft von Hermann Struck gemacht hatte, stand er wohl noch unter dem Einfluß seines Freundes. Levin erwiderte. Nachdem er mit Struck sich auseinandergesetzt hatte, wandte er sich der Abrechnung mit Friedemann zu, indem er nach seiner Art eine Geschichte erzählte: „Vor einiger Zeit“, sagte er, „habe ich auf einem Rummelplatz in der Elsässer Straße eine Bude besucht, in der Neger wilde Schwerttänze aufführten. Als ich kürzlich vorüberkam, war das früher so besuchte Etablissement leer. Ich fragte den traurig vor seiner Bude stehenden Besitzer, woher das komme, worauf dieser antwortete: ‚Ja, in der Lothringerstraße hat sich eine Konkurrenz aufgemacht. Die Neger dort schreien und springen und lärmen noch mehr als meine. Der Unterschied ist nämlich der: meine Schwarzen sind echt, und jene sind gar nicht wirklich schwarz‘.“
Auch bei den Assimilanten herrschte lebhafter Betrieb. Es hatten wohl gerade die zionistischen Erfolge dort aufstachelnd gewirkt. Besonders das Angebot der englischen Regierung Uganda betreffend lenkte die Aufmerksamkeit auch fernstehender Kreise auf die zionistische Bewegung. Nun konnte wohl nicht mehr geleugnet werden, daß sie ernst genommen wurde. Man mußte so auch ein Gegengewicht gegen die Brüsseler Konferenz schaffen. Der „Hilfsverein der deutschen Juden“ (Dr. Paul Nathan) und „Die Deutsche Konferenzgemeinschaft der Alliance Israélite Universelle“ (M. A. Klausner), die sich schwer bekämpften, konkurrierten um die Gunst der deutschen Juden. Es wurde eine sogenannte Notabelnkonferenz einberufen, die nun im Gegensatz zu den demokratischen Veranstaltungen der zionistischen Kongresse die Elite der deutschen Judenheit, insbesondere die Elite des deutsch-jüdischen Kapitals, vereinen sollte. Ich schrieb damals eine Tannhäuser-Parodie, zu der Salomon Hildesheimer die Melodie machte, und in der jene Veranstaltung gehörig persifliert wurde. Da wurde bei dem Sängerstreit von den betreffenden Parteigängern die deutsche Hymne oder die Marseillaise gesungen, und als dann „der Sünde fluchbeladener Sohn“, nämlich der Zionist, die jüdische Melodie anstimmte, wurde er schmählich hinausgewiesen, und Tannhäuser, der sich eine Zeitlang in dem Venusberg bei der Venus Itoisia verirrt hatte, kehrte reumütig auf dem Wege, der zur War(t)burg führte, zurück, und die Stäbe der ruhelos umherirrenden Schnorrer- oder Pilgerschar schlugen, in den Boden des Heimatlandes gepflanzt, aus und wurden fruchttragend. Hildesheimer hatte es wundervoll verstanden, alle möglichen Schlagermelodien kontrapunktisch mit Wagnerischen Motiven zu verbinden.
Solche parodistischen Aufführungen wurden Jahr für Jahr veranstaltet. Die Texte schrieb ich gemeinsam mit Lazarus Barth und Hildesheimer (G.M.B.H. – Gronemann mit Barth und Hildesheimer), und letzterer, der unter dem Spitznamen „Pom“ ging, machte die Musik dazu (C’est la Pom qui fait la musique.)
Meine zionistische Tätigkeit rief mich oft nach Köln zu Sitzungen des deutschen Zentralkomitees oder auch des Aktionskomitees, das David Wolffsohn leitete. Die Sitzungen fanden gewöhnlich in dem Hotel Disch statt, und dort tauchte auch regelmäßig einer der ständigen Besucher der Kongresse auf, der seltsame junge Gelehrte Dr. Waldenburg. Dieser, ein Nachfolger Galls, hatte sich auf das Messen von Schädeln verlegt und schien im Begriff, eine neue Disziplin zu schaffen. Er hatte einen seltsamen Apparat konstruiert, den er unerbittlich jedem, der ihm in den Weg lief, auf den Kopf stülpte, um dann gewissenhaft die gewonnenen Meßresultate aufzuschreiben. Dieser Apparat hatte die Tücke, daß man sich von ihm nicht selbst befreien konnte. – Ich erinnere mich noch des Dr. Hahn aus Paris, wie er auf einem Kongreß entrüstet herumlief und allen Leuten zeigte, welche Wunden ihm an seinem kahlen Schädel Waldenburgs Maschine beigebracht hätte. – Einmal kam ich in einem Nebenraum des Hotels Disch dazu, wie Schmarjahu Levin unter diesem Apparat stöhnte. Eiligst holte ich einige Damen herbei, – Frau Bodenheimer, Frau Weizmann – und schmiedete mit ihnen ein Komplott. Sie verwickelten Waldenburg, der ein sehr höflicher Mann war, in ein Gespräch, und er setzte in seiner überaus langsamen Sprechweise seine Methoden auseinander, während sie ihn langsam und unmerklich aus dem Zimmer leiteten. Levin fluchte und schrie vergeblich um Hilfe, in den Klammern jenes furchtbaren Apparates, bis schließlich Waldenburg sich doch seines Gefangenen erinnerte. – Übrigens hatte Waldenburg seinerzeit eine höchst gelehrte Broschüre veröffentlicht, betitelt „Die isocephale Rassentheorie bei Hallig-Friesen und taubstummen Juden“. Er hatte sich zu Studienzwecken monatelang auf einer Hallig-Insel in der Nordsee niedergelassen, um durch Schädelmessen bei der Friesischen Bevölkerung, den typischen Germanen, Material für seine Theorie zu finden, daß nämlich der entartete jüdische Schädel ungefähr auf derselben Stufe stände wie der beste deutsche. Er war überzeugt, daß dieses Buch in keinem jüdischen Hause fehlen würde. Aber diese Erwartung erfüllte sich kaum, trotzdem jenem Werk ein gewaltiger Stammbaum einer friesischen Bauernfamilie als besondere Anziehung beigegeben war.
Für den Geist oder Ungeist, der in sogenannten liberalen Kreisen damals herrschte, ist wohl nichts bezeichnender als die Affäre des Rabbiners Emil Cohn. Emil Cohn, einer der wenigen zionistischen Rabbiner, hatte an einer Gedächtnisfeier für Herzl teilgenommen und wurde deshalb vor den Vorstand der Gemeinde zitiert. Als er das Recht der Rede- und Meinungsfreiheit für sich als Rabbiner in Anspruch nahm, erklärte ihm der Vorsitzende der Gemeinde, Herr Jacobi, brüsk: „Sie stehen bei uns in Lohn und Brot“ und bestritt ihm das Recht eigener Meinung. Da Cohn sich weigerte, sich zu unterwerfen, wurde er entlassen. Es setzte, und nicht nur bei den Zionisten, ein Sturm der Entrüstung ein, der auch in der nichtjüdischen Presse sein Echo fand. Franz Oppenheimer trat für den gemaßregelten Rabbiner ein, und sogar Maximilian Harden glossierte in einem Artikel „Rabbi Cohn“ das seltsame Verhalten der so reaktionären „Liberalen.“ In der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde gab es eine Interpellation. Der Syndikus der Gemeinde, Herr Justizrat Lilienthal, versuchte den Standpunkt des Vorstandes zu rechtfertigen. Unter anderem sagte er, – und diese Äußerung scheint mir charakteristisch für die seltsame Einstellung jener Zeit: „Herr Rabbiner Cohn, sagt, daß er über die Persönlichkeit Dr. Herzls gesprochen habe, ohne den Zionismus hervorzuheben. Kann man sich vorstellen, daß jemand über Kaiser Friedrich III. spricht, ohne über seine Stellung zum Antisemitismus zu sprechen?“ Diese merkwürdig kleinliche Auffassung, daß die Judenfrage auch für die Nichtjuden etwas so ungeheuer Wesentliches sei, hat sich bis in unsere Tage erhalten. Wenn die größten und schwierigsten Fragen der Weltpolitik auf der Tagesordnung stehen, glauben wir kleine jüdische Gemeinschaft sehr oft, daß unsere Angelegenheiten für die anderen ebenso wichtig sind wie für uns, während doch unser kleines Schiffchen neben den gewaltigen Riesenschiffen verschwindet. Ich muß da immer an eine Episode aus meiner Kindheit denken: Da wechselten wir die Wohnung, und als die Riesenkerle von Packern die gewaltigen Möbelstücke in den Wagen schoben, kam unser Kinderfräulein mit einem kleinen Fläschchen heran, reichte es den Riesen herüber: „Ach, bitte, sehen Sie doch zu, daß das Fläschchen nicht umfällt.“
Unter den Veranstaltungen, die wir in Ausnutzung der Affäre Cohn machten, ist mir eine Versammlung in der Viktoria-Brauerei in besonderer Erinnerung. Als Redner trat dort M. A. Klausner, unser erbitterter Gegner auf, der es aber in diesem Fall für seine Pflicht hielt, gegen jenen Vorstoß gegen die Gewissens- und Meinungsfreiheit aufzutreten. Der so überaus charakteristische Beginn seiner Rede ist mir wörtlich im Gedächtnis geblieben. Er sagte: „Es ist hier in Berlin schon feststehende Übung geworden, daß immer, wenn ein Apostel des Zionismus erscheint, ich nach ihm die Rednertribüne betrete, um ihn zu bekämpfen. Wieder ist ein Apostel des Zionismus aufgetreten in der Person des Herrn Syndikus Lilienthal; denn niemand kann den Zionisten jemals solch gute Propagandamittel liefern, wie es seine Rede getan hat. Als ich ihn hörte, erinnerte ich mich eines Vorkommnisses aus meiner Kindheit: damals erschien in meinem Heimatort in einer Schwurgerichtsverhandlung ein berühmter Verteidiger aus Berlin. Er hielt ein glänzendes Plädoyer, das mich aber einigermaßen befremdete. Ich wagte es, nach der Verhandlung an ihn heranzutreten und ihn zu fragen, wie es nur käme, daß er in seiner Rede über das Thema wenig gesagt hätte, sondern seine Redekunst über alle möglichen ganz außerhalb liegenden Dinge sich hätte verbreiten lassen. Der berühmte Advokat sagte mir: ‚Lieber junger Freund, es kam mir heute vor allem darauf an, die Herren Geschworenen mewulwel zu machen.‘ – „Ich sehe“, schloß Klausner diese Periode, „daß diese Tradition von Herrn Justizrat Lilienthal mit Erfolg fortgesetzt wird.“
IV.
Dem VIII. Kongreß, der nach der holländischen Hauptstadt, Den Haag, einberufen war, sah man allgemein und sah ich besonders mit großer Spannung und Besorgnis entgegen. Es handelte sich darum, ob David Wolffsohn, der auf dem VII. Kongreß zum Nachfolger Herzls gewählt wurde, vor dem Kongreß bestehen und in seinem Amte bestätigt werden würde. Als ausgesprochener Parteigänger Wolffsohns hegte ich große Besorgnisse angesichts der immer mehr wachsenden Opposition, die sich besonders in russischen und polnischen Kreisen gebildet hatte. Es handelte sich um jenen, von mir schon gekennzeichneten Zwiespalt zwischen den sogenannten „politischen“ und „praktischen“ Zionisten. Es war ja seltsam genug, daß sich die Partei der „Praktischen“, größtenteils ostjüdische Menschen, um die Person des deutschen Juden Otto Warburg gruppiert hatte, während der Exponent der „Politischen“ der russische Jude Wolffsohn war. Die Protagonisten, welche auf diesem und den nächsten Kongressen gegeneinander kämpften, waren Leo Motzkin, als Führer der Wolffsohnschen Partei, und Chaim Weizmann als der Exponent seiner Gegner. Die Rededuelle zwischen diesen beiden hervorragenden Persönlichkeiten bildeten stets den Höhepunkt der Debatten, und es war vom rein ästhetischen Standpunkte aus ein Genuß, diesen Diskussionen zu folgen. Motzkin, schwer und gewichtig, formulierte in streng logischer, klarer und wuchtiger Art seinen Standpunkt, keinen Zoll breit von seinem Posten weichend, während Weizmann, gleich einem brillanten Florettfechter mit spitzen Pointen jede Schwäche und Blöße des Gegners erspähend, blitzschnell zuzustoßen wußte. Es waren zwei grundverschiedene Fechter, die sich gegenüber standen, und jeder in seiner Art vollendet. Wir, die Anhänger Wolffsohns, waren aber ziemlich kleinlaut gegenüber der geräuschvollen Agitation gegen ihn, nachdem wir wußten, daß auch in dem engen Kreise um ihn, um den Präsidenten in Köln viele seiner Gegner saßen. Er war wirklich auf seinem Posten recht vereinsamt. Bei seiner schon geschilderten Einstellung, der Liebe zur praktischen Palästina-Arbeit und verurteilt zu rein politischer Tätigkeit gemeinsam mit Mitarbeitern, die wenig Verständnis für die besondere Situation zeigten, kam es so, daß er, summarisch gesprochen, seine Feinde liebte und seinen Freunden mißtraute. Er sah sich oft vergeblich nach Beistand um. Seine besten Freunde, Kazenelson in Riga und Eduard Leschinsky in Berlin, konnten nur wenig dazu tun, um seinen Mut aufrechtzuerhalten. Allenfalls war ihm Jacobus Kann eine Stütze.
Mitte 1909 begann der Kongreß. Wer nur irgendwie konnte, hatte sich in Scheveningen einquartiert und fuhr morgens durch den herrlichen Bosch zum Kongreßgebäude. Wolffsohn ärgerte sich nicht wenig, als der Mainzer „Israelit“ ihn hämisch anklagte, daß er am Sabbat in der Haager Synagoge erschienen war, voraussetzend nämlich, daß er sicher den Sabbat durch Fahren mit der Straßenbahn entweiht hatte. Wolffsohn hatte aber, taktvoll genug, den Weg zu Fuß zurückgelegt. Man bemerkte anfangs mit großer Freude, daß eine große Anzahl stattlicher Gebäude unsere, die blau-weiße Fahne gehißt hatten. Die Freude wurde aber einigermaßen gedämpft, als es sich herausstellte, daß es die Häuser des Deli-Klubs und anderer Spielklubs waren, welche sich wohl von dem Zustrom vieler Gäste große Einnahmen erwarteten. Die Delegierten wurden mit Einladungen von diesen Klubs überhäuft, aber ich glaube kaum, daß sie auf ihre Rechnung gekommen sind. Es war doch charakteristisch genug, daß in der Umgebung unserer Kongresse man nirgends auf Kartenspieler traf, obwohl doch gerade bei den russischen Juden das Kartenspiel eine sehr beliebte Unterhaltung ist. Ich selbst liebte Scheveningen sehr und verbrachte manche Feriensommer da, wobei ich auch dann jenen Deli-Klub gern besuchte, da ich, wie ich gestehen muß, die Roulette sehr liebe, die übrigens meine Liebe erwidert, da ich fast immer mit Erfolg abschneide, da ich rechtzeitig im Gewinn aufzuhören verstehe. Aber diesmal mußte ich mir das Vergnügen versagen.
Die Eröffnungssitzungen waren besonders eindrucksvoll. Neben dem Vizepräsidenten des Hohen Rats der Niederlande und Leiter der jüdischen Gemeinde im Haag, de Pinto, der den Kongreß mit einer freundlichen, wenn auch etwas zurückhaltenden Rede begrüßte, war auch der große Maler Josef Israels anwesend. Max Nordaus diesmalige Rede gehört zu den glänzendsten dieses wundervollen Sprechers. Sein Appell an die Gerechtigkeit rief einen unbeschreiblichen Enthusiasmus hervor, dann begannen die sachlichen Debatten. Dem Kongreßstenogramm kann man nicht entnehmen, welche Kämpfe sich hinter den Kulissen abspielten, und wie geschickt es Wolffsohn verstand, die verschiedenen Parteien gegeneinander auszuspielen, so daß er schließlich doch mit einer gewaltigen Majorität gegen nur 59 Stimmen wiedergewählt wurde. Er nahm die Wahl mit den Worten an: „Ich werde mich bemühen, beim nächsten Kongreß auch diese Stimmen für mich zu haben.“
Eine der Hauptaufgaben des Kongresses war die Reform der Organisation. Ich gehörte der Organisationskommission an und fungierte als Schriftführer, so daß ich neben Dr. Max Nordau, welcher die Sitzungen dieser Kommission leitete, arbeitete, und ich konnte feststellen, mit welchem Eifer und welcher Gewissenhaftigkeit Nordau sich diesen Arbeiten widmete. Er war stets pünktlich zu Beginn jeder Sitzung zur Stelle und hat bei den tagelangen Arbeiten nie ausgesetzt. Alle seine glänzende Rhetorik und Schlagfertigkeit zeigte er dort in dem kleinen Kreise genauso wie vor der Öffentlichkeit, und er widmete sich dieser im Grunde langweiligen Paragraphenarbeit mit äußerster Hingebung. Ich hebe das hervor, weil man vielfach diesen Mann ganz anders einschätzte, so als ob er nur als Heldentenor sich vor der Öffentlichkeit zu produzieren geneigt war. Hier aber sah man, wie er wirklich um der Sache willen sich Arbeiten hingab, die doch schließlich weit unter seinem Niveau lagen. Referent vor dem Kongreß war eigentlich Arthur Hantke, aber im letzten Moment mußte ich, da Hantke unpäßlich war, das Referat übernehmen. Ich bat gleich zu Beginn meines Referates um Nachsicht, da ich die Sache erst in die Hand bekommen habe, und der Schriftführer eine unglaublich schlechte Handschrift habe, ohne daß ich für nötig fand mitzuteilen, daß ich eben dieser Schriftführer war. – Auf jenem Kongreß wurde dann die Grundlage jener Föderationsbildung gelegt, über deren Nutzen man verschiedener Meinung sein kann. Ich selbst konnte ja als Referent meine persönliche Meinung nicht wohl zum Ausdruck bringen, und als der Präsident mich daraufhin apostrophierte, antwortete ich mit den Worten des Obristen Wrangel im „Wallenstein“: „Ich hab’ hier bloß ein Amt und keine Meinung.“ Wenn ich nicht irre, war es auf diesem Kongreß, wo folgende komische Episode geschah: Dr. Posmanik traf mich in einem halbdunkeln Seitengang und, mich mit Dr. Hantke verwechselnd, bat er mich um eine freimütige Äußerung über die von ihm eben gehaltene Rede. Ich hielt mit meiner Meinung denn auch nicht zurück und sagte sie ihm so gründlich, daß er, wie ich glaube, mit Hantke monatelang kein Wort sprach.
Während jenes Kongresses wurde auch der „Kulturverband jüdischer Frauen für Palästina“ gegründet, der dann Jahre hindurch unter der Leitung von Betty Leschinsky und meiner Frau gewirkt hat, bis sich dann später daraus die „WIZO“ entwikelte. Dieser Kulturverband hat Jahre hindurch ausgezeichnete praktische Arbeit geleistet. Die von ihm ins Leben gerufene palästinensische Spitzenindustrie hat für unser Werk viele Freunde gewonnen. Die Erzeugnisse wurden überall hin versandt und fanden viel Beifall. Es war kurios zu sehen, wie so viele jüdische Frauen, denen man vergebens von all dem Großen erzählte, was in Palästina geschah, wenn ihnen ein kleines Spitzentüchlein gezeigt wurde, enthusiasmiert wurden. Das war eigentlich ein Beweis dafür, wie wirklich irgendwelche praktischen Erfolge, etwas, was man zeigen kann, durchschlagender wirken als die schönsten Theorien.
Auf diesem Kongreß wurde auch auf Antrag von Nahum Sokolow die hebräische Sprache als offizielle Sprache des Kongresses und der Bewegung anerkannt, wenn auch nur unter Widerständen. Bemerkenswert ist, daß Sokolow bei anderer Gelegenheit auf dem Kongreß, als man von ihm verlangte, er solle hebräisch und nicht deutsch reden, sich dagegen erklärte, mit der hebräischen Sprache zu demonstrieren. Er sagte, die Zeiten seien vorüber, wo man das für gut gehalten hätte.
Der Kongreß endete, wie gesagt, mit einem Sieg Wolffsohns über die Opposition, und Wolffsohn freute sich beinahe kindlich über seinen Erfolg. Der wurde dann auch ausgiebig gefeiert. Wolffsohn und ein Teil der Delegierten blieben noch einige Wochen in Scheveningen, und ich kann mich kaum an angenehmere Wochen als die, die wir dort verlebten, erinnern. In dem jüdischen Restaurant Keyl war eine vergnügte Tafelrunde täglich vereint, zu der neben dem Ehepaar Wolffsohn die Leschinskys und Sokolow, Alexander Marmorek, Schmarjahu Levin, der Maler Pilichowski und einige holländische Freunde gehörten. Wir speisten in der Glasveranda, und Neugierige drückten sich ihre Nasen an den Fensterscheiben platt, um den jüdischen Hofstaat anzustaunen. Levin, Pilichowski und ich aber heckten täglich neue übermütige Streiche aus. Wenn wir abends in irgendeinem Caféhaus saßen, zahlte immer Sokolow, und dann wurde die Summe repartiert. Wir verstanden es aber stets, ihn durch Zwischenbemerkungen so konfus zu machen, daß er die Rechnung unzählige Mal von neuem beginnen mußte, was er dann schmunzelnd und in guter Laune auch duldete. Vor allem aber wurde damals von Pilichowski, Levin und mir mit großem Erfolge die sogenannte „Witz-Obstruktion“ betrieben, eine Methode, um unerträgliche Anekdotenerzähler mundtot zu machen. Ich werde mich schwer hüten, das Rezept zu verraten.
Wolffsohn spielte täglich mit Josef Israels einige Schachpartien. Beide taten sich auf ihre Meisterschaft viel zu Gute, spielten aber in Wirklichkeit sehr mäßig. Es ist seltsam zu sehen, wie so viele bedeutende Menschen viel mehr Gewicht auf ihr Hobby oder auf irgendeine Nebenbeschäftigung legen, selbst wenn sie darin nicht Besonderes leisten, als auf ihre wirkliche erfolgreiche Tätigkeit. So war es kurios festzustellen, daß der große Maler Israels auf nichts so stolz war als auf ein kleines Buch, das er über Spanien geschrieben hatte.
Bevor die Gesellschaft auseinander flatterte veranstaltete Wolffsohn bei Keyl ein Diner. Auch Josef Israels hatte sein Erscheinen in Aussicht gestellt und den dringenden Wunsch ausgesprochen, einmal wieder gefüllten Fisch zu essen, ein Gericht, an das sich bei ihm Jugenderinnerungen knüpften. Das gab große Aufregung bei Keyl, da dem holländischen Traiteur dieses Gericht unbekannt war, – aber einen solch berühmten Gast hatte Keyl noch nie bei sich gesehen, und es wurden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um seinen Wunsch zu erfüllen. Schließlich gab meine Frau das Rezept, ein Spezialbote holte den Hecht aus Rotterdam, und dann verbot der Arzt wegen des schlechten Wetters Josef Israels die Teilnahme. Er bekam aber das Gewünschte in seine Villa geschickt.
V.
So schien der Frieden im zionistischen Lager, zunächst wenigstens, gesichert, und ich konnte mit gutem Gewissen mich meiner Anwaltspraxis widmen. Das tat ich mit großer Lust und Hingabe, denn ich liebte meinen Beruf von ganzem Herzen. Und ich wußte mir, falls ich noch einmal im Wege der Seelenwanderung auf diese Welt kommen sollte, keinen besseren und meinen Anlagen mehr entsprechenden. Ich vermute freilich, daß, wie ich freimütig gestehen will, bei dieser meiner Liebe zur Advokatentätigkeit auch wieder ein nicht eben nur ideales Motiv mitspielen mag, nämlich meine Vorliebe für jede Art Gedankensport. Juristerei – oder besser gesagt Prozeßführung – ist ja im Grunde nichts anderes als eine Art Schachspiel, bei dem an Stelle der Figuren juristische Begriffe treten, und das Spiel wird in beiden Fällen nach ein-für allemal festgesetzten, an sich ganz willkürlichen Regeln gespielt. Wenn der Turm im Schachspiel nur gerade, der Läufer nur schräg gehen darf, beruht das auf einer ganz willkürlich aufgestellten Norm, – an sich könnte es ebensogut umgekehrt sein. Und wenn der Gesetzgeber für manche Handlungen bestimmte Formvorschriften statuiert, oder wenn etwa eine Berufungsfrist auf eine Woche, eine Verjährungsfrist auf drei Jahre festgesetzt werden, ist das nach gewöhnlichen logischen Maßstäben nicht zu begründen. Nach solchen Normen also wird Schach gespielt oder werden Prozesse geführt. Ein bedeutsamer Unterschied besteht freilich: Beim Prozeßführen sind es die Kiebitze, – als solche kann man wohl die Advokaten bezeichnen – die das Spiel machen, während die Parteien zusehen.






