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Natürlich hat der Advokat nicht nur Denksport zu treiben, sondern er hat die Aufgabe, der gerechten Sache, oder die er als solche erkennt, zum Siege zu verhelfen. Und er hat das volle Recht der Subjektivität, von der im weitesten Umfang Gebrauch zu machen sogar seine Pflicht ist. Seltsam ist und nachdenklich stimmt es, daß die deutsche Sprache Rechtsanwalt und Staatsanwalt in Gegensatz stellt. Recht und Staat, d. h. Recht und Gesetz stehen wirklich in einem gewissen Gegensatz. Das Gesetz humpelt immer hinter der Rechtsentwicklung hinterher. Eine Kodifikation erfolgt regelmäßig erst dann, wenn eine Rechtsanschauung sich bereits allgemein im Bewußtsein des Volkes durchgesetzt hat. In diesem Moment ist ja nun die Rechtsentwicklung schon weiter fortgeschritten, so daß das neue Gesetz dieser wieder nicht entspricht, so daß also, theoretisch gesehen, das Gesetz das Recht nicht einholen kann. Es ist ungefähr die Geschichte von Achilles und der Schildkröte. – Nun hat mich meine Praxis so ziemlich mit allen Schichten der Bevölkerung in Berührung gebracht und allerlei Einblicke in die verschiedensten Milieus eröffnet. Meine Erinnerungen wären nicht vollständig, wenn ich nicht einiges aus diesen meinen Erfahrungen erzählen wollte. Zunächst will ich noch einige Fälle skizzieren, die Einblicke in das Milieu jener aus dem Osten nach Berlin verschlagenen Juden eröffneten, die sich nur schwer in die Sitten und Gebräuche Westeuropas einfügen konnten. Es wird sich dabei nicht immer vermeiden lassen, daß ich auch Dinge erzähle, die schon in früheren Büchern von mir skizziert sind, die aber hier kaum fehlen dürfen.
Da ist es bisweilen schon sehr schwierig, die Identität solch eines Klienten festzustellen. Sehr oft wurden z. B. in Galizien Ehen nur vor dem Rabbiner geschlossen, denen der Staat die Anerkennung versagte, so daß die Kinder aus solchen Ehen offiziell als unehelich galten und eigentlich den Namen der Mutter führen mußten. So stand es auch im Passe. Sie aber nannten sich im Leben nach ihrem Vater. – Da kam einmal zu mir ein Kaufmann namens Förster in Gesellschaft eines mir auch schon bekannten jungen Mannes, der sich Apfelbaum nannte, den er als Reisenden anstellen wollte. Er bat mich, den Vertrag zu machen. Ich stutzte und bat Förster, einige Augenblicke ins Wartezimmer zu gehen, da ich mit Apfelbaum etwas zu besprechen hätte. Förster entfernte sich, offensichtlich befremdet, und ich sagte nun dem Herren Apfelbaum, daß mir ja bekannt sei, daß er gesetzlich den Namen Apfelbaum gar nicht führe, denn er hatte mich mit der Regelung seiner Paßangelegenheit betraut. Ich fühlte mich verpflichtet, erklärte ich ihm, bevor ich den Vertrag formulieren würde, Förster hierüber aufzuklären. Wohl oder übel mußte Apfelbaum sich dem fügen, und ich rief nun Förster herein und setzte ihm, der recht unruhig auf meine Eröffnung wartete, den Fall auseinander, erleichtert atmete er auf. „Ach“, sagte er, „das ist alles? – Meinen Sie, ich heiße Förster?“
Tragischer lag der Fall eines Mannes, der aus Galizien nach Berlin gekommen war, um sich bei einem berühmten Chirurgen operieren zu lassen. Er konnte sich nicht rechtzeitig die Papiere verschaffen und fuhr mit dem Paß eines Vetters. Unter dessen Namen wurde er in das Krankenregister eingetragen, operiert und begraben. Aber nun setzten recht peinliche Verlegenheiten ein. Der Vetter hatte alle Mühe zu beweisen, daß er noch lebte, während die Erben des Verstorbenen lange Zeit nicht in den Besitz der Erbschaft gelangen konnten.
Kurios war das Begehren eines alten, emeritierten Chasan, eines Mannes von über 80 Jahren, der an mich das Ansinnen stellte, ich möchte die Anfechtung seiner vor 60 Jahren geschlossenen Ehe durchsetzen. Diese hätte auf einem Irrtum beruht, den seine damalige Verlobte vorsätzlich herbeigeführt hätte. Er hätte jetzt gerade festgestellt, daß sie sich damals um drei Jahren jünger gemacht hätte. Ich hatte Mühe, ihm klar zu machen, daß dieser Versuch der Anfechtung aussichtslos wäre. Mich interessierte der Fall psychologisch, und ich fragte, wieso er denn auf diese Idee gekommen sei. Darauf gab er mir die denkwürdige Antwort: „Bei uns Juden ist es doch üblich, daß Ehepaare nebeneinander begraben werden – 60 Jahre lebe ich neben dem „Schlag“, wenigstens will ich im Grabe meine Ruhe haben“.
Das Gegenstück zu dieser sich jünger machenden Frau war der alte Reches, ein schon sehr betagter, immer zu Scherzen aufgelegter galizianischer Jude, der der richtige Prozeß-Hansl war. Die pittoreske Erscheinung des alten Mannes mit dem rot-grau gesprenkelten Bart war in allen Gerichtsstuben bekannt. Er pflegte immer auf sein ehrwürdiges Alter hinzuweisen, und es kam vor, daß im Laufe einer Verhandlung er von Minute zu Minute um Jahre älter wurde. Ich führte einmal für ihn einen Prozeß, bei dem es sich um Beischaffung einer Urkunde handelte, aus der die Berechtigung seiner Ansprüche klar hervorging. Diese Urkunde lag irgendwo bei einer galizischen Behörde. Es machte Mühe, sie heranzuschaffen, und am Tage vor dem Termin kam mein Mandant aufgeregt zu mir: er hatte ein Telegramm bekommen, daß die Urkunde abgesandt sei, und er bat mich unter allen Umständen eine Vertagung herbeizuführen, weil er fürchtete, abgewiesen zu werden, wenn die Urkunde nicht zur Stelle sei. Ich erklärte ihm, daß ich keine Möglichkeit zur Vertagung sehe, ein gesetzlicher Grund lag nicht vor, eine Vertagung sei nur möglich, wenn der gegnerische Anwalt einwilligen würde. Das würde er ja unter keinen Umständen tun. Der alte Mann entfernte sich niedergeschlagen. In der Tür drehte er sich um und sagte: „Und es wird doch vertagt!“ – Wie groß war mein Erstaunen, als am anderen Tage an Gerichts Stelle der gegnerische Kollege mich bat, eine Vertagung zu bewilligen. Über die Gründe ließ er sich nicht aus, aber ich war natürlich sehr damit einverstanden. Der Termin wurde um vier Wochen vertagt, und inzwischen traf die Urkunde ein. Zu dem neuen Termin erschien nun Freund Reches persönlich neben mir vor der Schranke. Der Kollege von der Gegenseite starrte ihn entgeistert an, warf die Akten wütend auf das Pult und erklärte zornbebend vor Gericht: „So etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Am Tage vor dem vorigen Termin erschien bei mir ein alter Mann und erklärte mir, er beschäftige sich seit Jahrzehnten nur damit, Frieden zwischen streitenden Parteien herbeizuführen: Er hoffte, daß es ihm auch in diesem Falle gelingen würde, und bat mich deshalb, den Termin zu vertagen. Das habe ich, sehr beeindruckt von diesem würdigen Friedensapostel, denn auch getan. Und nun sehe ich, das war der Gegner selbst, der bei mir erschienen ist.“ – Seine Entrüstung half ihm natürlich nicht. Den Prozeß hatte er verloren, und das mit Fug und Recht, denn jene Urkunde war unwiderleglich.
Dieser mein alter Klient kam übrigens einmal unerwartet zu militärischen Ehren. Der Vorsitzende in einem seiner zahlreichen Prozesse hatte das persönliche Erscheinen der Parteien angeordnet, und als er nun beim Aufrufen den „Major“ Reches zitierte, – er hatte nämlich den Vornamen Majer als Major gelesen – war er nicht minder verblüfft, wie er Majer Reches erblickte, als dieser über die ihm verliehene militärische Würde. Er verwahrte sich dann auch mit Entschiedenheit unter stürmischer Heiterkeit des zahlreichen Auditoriums gegen jene Rangerhöhung. Es gab Vorsitzende, welche Parteien mit kriegerischer Vergangenheit mit besonderer Sympathie betrachteten. So kam es, daß sich in einem Falle auf diese Weise ein Mann aus dem Osten die ganz besondere Sympathie eines solchen preußischen Richters erwarb. Es war in einer Strafverhandlung und der betreffende Vorsitzende war durch und durch preußisch militärisch eingestellt, Vorsitzender einer Gruppe des „Alldeutschen Flottenvereins.“ Und gerade vor ihm mußte Lipschitz erscheinen, angeklagt wegen Hehlerei. Er hatte einen Pelz zu verdächtig niedrigem Preise erworben. Der Vorsitzende musterte den „Landfremden“ mißmutig und nahm mit höhnischem Lächeln die Personalien auf: In Galizien geboren, jüdischer Religion etc., Beruf:...? – Da kam die allen, nur nicht dem Verteidiger unerwartete Antwort: „Seemann.“ Ungläubig starrte der Richter ihn an. „Seemann? – Wie lange waren Sie auf See?“ – „Fast 20 Jahre“, lautete die gleichmütige Antwort, und der Angeklagte legte dem verblüfften Gericht Papiere des „Norddeutschen Lloyd“ und der „Hamburg-Amerika-Linie“ vor, aus denen hervorging, daß er lange Jahre auf den Schiffen dieser Gesellschaft beschäftigt war. Der Grimm des Gerichts schwand angesichts dieser Tatsache. Man sah den alten Seebären freundlicher an, und es fiel Klee nicht schwer, das Gericht davon zu überzeugen, daß der alte Seefahrer unmöglich über die auf dem Lande üblichen Preise orientiert sein konnte. So gab es einen Freispruch. Des Rätsels Lösung: Jener Mann war auf den Schiffen als „Koscher – Wächter“ angestellt gewesen, d. h. er hatte in den für die Auswanderer eingerichteten rituellen Küchen für die Beobachtung der religiösen Vorschriften zu sorgen.
Jene Verwechslung von Majer und Major erinnert mich daran, wie oft der Tippfehlerteufel, der mit dem Druckfehlerteufel nahe verwandt sein muß, drollige Kapriolen macht. In einem Theaterprozeß las ich mit Erstaunen in dem gegnerischen Schriftsatz: „Zufällig befanden sich bei der Vorstellung im Zuschauerraum auch einige Christen.“ – Es sollte natürlich heißen: „Choristen“.
Man konnte sich in jenen Kreisen mit der immer komplizierter werdenden Steuergesetzgebung wenig befreunden. Aber dadurch unterschieden sich diese Kreise kaum von der urdeutschen Bevölkerung. Erst die Steuerreform und die immer wachsenden Lasten, vor allen in späterer Zeit nach dem I. Weltkrieg, machten das deutsche Volk erst wirklich zum Volk der „Denker und Dichter.“ Da kam z. B. eine Frau zu mir mit der naiven Frage: „Welches Einkommen muß ich angeben, wenn ich die und die Steuer bezahlen will?“ Sie wollte also die Sache beim andern Ende anpacken. – Noch merkwürdiger war die Frage, die ein Ehepaar an mich richtete: Die abgegebene Steuererklärung war beanstandet, und der Beamte hatte ihnen vorgerechnet, daß bei der luxuriösen Wohnung, die sie hatten, bei den Reisen, die sie unternahmen etc., – der Beamte hatte durch seine genaue Kenntnis ihrer Lebensumstände sie nicht wenig verblüfft – ihre Erklärungen unmöglich richtig seien können. Also mußte der Mann wohl oder übel zugeben, daß er eine falsche Erklärung abgegeben hatte. Aber nun fürchtete er noch außer der Steuer eine Bestrafung wegen falscher Deklaration und fragte mich, ob ich ihm nicht einen Ausweg zeigen könne dahingehend, daß er irgendwoher ein Einkommen bezog, von dem er hätte annehmen können, daß es nicht steuerpflichtig sei. Selbstverständlich lehnte ich es ab, ihm bei einem solchen Betrug behilflich zu sein, und das Ehepaar entfernte sich zögernd. In der Tür aber wendete sich die Frau um und sagte: „Schade, daß Sie uns nicht helfen wollen. Ich hatte einen so guten Gedanken. Wie ist es, wenn die Frau einen Liebhaber hat, und der ihr Geld zuwendet, muß der Mann das deklarieren?“ – Ich versagte mir, der Frau meinen persönlichen Eindruck mitzuteilen, daß, wenn das Gericht etwa zu einer Augenscheinsnahme, d. h. zur Besichtigung der Dame sich entschließen würde, sie kaum für jene Behauptung, daß sie einen Liebhaber hätte, Glauben finden würde.
In Parenthese: Der Mangel an weiblichen Reizen hat in einem Falle ein seltsames Urteil hervorgerufen. Da stand eine Frau wegen Ehebruchs vor Gericht – ein höchst seltener Fall, da Ehebruch nur nach vollzogener Scheidung und nur auf Antrag strafbar war – und trotz des Geständnisses wurde die Frau freigesprochen, da das Gericht erklärte, bei dem Aussehen der Frau hielte es das Geständnis für unglaubwürdig und einen Ehebruch für ausgeschlossen. Das Berufungsgericht hat übrigens in diesem Falle – an dem ich nicht beteiligt war – das Urteil aufgehoben.
Bisweilen brachte es die Praxis mit sich, daß spezifisch jüdische Gebräuche und rituelle Gesetze vor einem Forum nichtjüdischer Richter erörtert werden mußten, und da erforderte es oft viel Geschicklichkeit und Takt, einem solchen Gremium die Bestimmungen des Schulchan Aruch oder rabbinischer Tradition klarzumachen. Fehlten doch diesen Herren, vor denen etwa die Bedeutung des Cherem des Rabbenu Gerschon oder des Eruw zu erörtern war, die primitivsten Voraussetzungen. Und so kam ich begreiflicherweise des öfteren in die Lage, vor einem solchen Kollegium populäre Vorträge über derartige Themata zu halten.
In meinem „Tohuwabohu“ habe ich ausführlich eine solche Verhandlung geschildert, in der von einem Berliner Gericht die Frage erörtert wird, ob der Etrog durch Fehlen des Stengels unbrauchbar für rituelle Zwecke wird. Diesen Prozeß habe ich tatsächlich geführt, freilich nicht unter den dort gezeichneten Begleitumständen. Aber auch eine solche Szene, in der der jüdische Anwalt, der mit der Taufe auch seinen Namen geändert – arisiert – hat und von dem boshaften Präsidenten gefrotzelt wird, hat sich tatsächlich beim Landgericht III vor dem Landgerichtsdirektor Zimmermann abgespielt. Eine Zeitlang war es geradezu eine Manie bei gewissen jüdischen Anwälten geworden, solche Namensänderungen vorzunehmen und damit gerade den Spott herauszufordern. Aus Cohn wurde Cornelius oder Korn, aus Levy Lenssen, und ich habe einmal in Transvestierung von Christian Morgenstern „Die Möwen sehen alle aus als ob sie Emma hießen „gesagt: „ Die Lenssen sehen alle aus als ob sie Levy hießen.“ – Ein Kuriosum möchte ich in diesem Zusammenhange erzählen. Da waren zwei Brüder Cohn, beide Berliner Anwälte, beide ließen sich taufen, aber nur dem einen von ihnen gelang die Namensänderung. Gerade dieser heiratete später ein jüdisches Mädchen, auf deren Verlangen er nun wieder Jude wurde. Und so kam es, daß von den beiden Brüdern der jüdische mit dem arischen Namen und der christliche mit dem Namen Cohn firmierte.
Einmal hatte ich vor Gericht die bedeutungsvolle Frage zu erörtern, wann eine Gans „ower“ wurde, d. h. unbrauchbar wurde, weil sie nicht rechtzeitig gesalzen war. Der gegnerische Anwalt, Jude, hielt es für angebracht, mit Nachdruck zu betonen, daß er von diesen Sachen nichts wisse. Zu meiner freudigen Überraschung griff da der jüdische Vorsitzende ein und sagte: „Das ist auch nicht nötig, denn diese Sachen kenne ich aus der eigenen Erfahrung sehr gut, da ich einen rituellen Haushalt führe.“
Einmal führte ich beim Amtsgericht Mitte einen Prozeß gegen eine jüdische Kolonisationsgesellschaft, und der amtierende Richter war niemand anders als Adolf Friedemann, der Redakteur des zionistischen ABC-Buches. Ich machte mir den Scherz, mich auf das Gutachten eben des Herausgebers dieses Werkes zu berufen, dessen Nehmen, wie ich sagte, mir im Augenblick entfallen wäre. Weiter benannte ich als Zeugen den bekannten Zionisten Dr. Hugo Schachtel in Breslau, dessen Adresse, wie ich sagte, mir auch entfallen wäre, worauf zum höchsten Erstaunen meines ahnungslosen Gegners der Richter Friedemann erklärte, diese Adresse sei gerichtsnotorisch und sie nannte. In dieser Sache kam es, wie ich mich erinnere, zu einem Vergleiche, was wohl selbstverständlich war, da Herr Friedemann Neigung und Fähigkeit hatte, alle vor ihn gelangenden Sachen zu vergleichen, und sich so die Mühe einer Urteilsabsetzung ersparte.
Auch eine andere forensische Geschichte, die ich in einem meiner Bücher erzählte, hat sich tatsächlich ereignet. Da weigerte sich ein Synagogenverein, dem für die hohen Feiertage arrangierten Vorbeter das volle Honorar zu zahlen, weil er in einer Betpause am Versöhnungstage gegessen habe. Der amtierende Richter konnte absolut nicht begreifen, worin das Vergehen gelegen haben sollte. Er erklärte kategorisch: „ Wer arbeitet, muß auch essen“, und eine entgegenstehende Bestimmung sei gegen die guten Sitten verstoßend. – Dementsprechend entschied er. In der Berufungsinstanz wurde das Urteil nach Vernehmung mehrerer Rabbiner als Sachverständiger abgeändert, indem das Gericht das vereinbarte Honorar wegen Wertminderung der geleisteten Arbeit herabsetzte.
Ein besonders schwieriges Problem, das mehrfach an mich herantrat, war es, die minutiösen Bestimmungen talmudischen Rechts in Ehesachen dem Verständnis arischer Richter nahezu bringen. Dabei handelte es sich natürlich immer um die Ehen nichtdeutscher Parteien. Besonders spielte da eben jener Cherem des Rabbenu Gerschon eine Rolle. Das durch diesen Cherem ausgesprochene Verbot der Doppelehe kann durch die Entscheidung von 100 Rabbinen aus drei verschiedenen Ländern aufgehoben, damit also dem Ehemann eine zweite Ehe gestattet werden. Diese Manipulation habe ich nun mehrfach durchgeführt. Es handelte sich dann immer darum, daß die erste Ehefrau die Annahme des Scheidebriefes verweigerte. Ich mußte nun der Behörde klarmachen, daß damit eine nach talmudischem Recht gültige Ehescheidung vollzogen sei, sobald das Rabbinat in dem russischen Heimatort des Mannes das Verfahren durch Urteilsspruch bestätigte. Das Standesamt weigerte sich zunächst, dies anzuerkennen, und meine Beschwerde ging den Instanzenzug bis zum Justizminister. Nach Einholung vieler Gutachten erließen schließlich der Justizminister und der Innenminister eine Verfügung, wonach mein Standpunkt anerkannt und das Standesamt Charlottenburg-Wilmersdorf, vor dem seinerzeit die Ehe geschlossen war, angewiesen wurde einzutragen, daß die Ehe durch rabbinisches Urteil geschieden sei, – ein bis damals unerhörter Vorgang. Der Mann heiratete nun auf’s neue, aber die erste Ehefrau strengte einen Prozeß an mit dem Antrag, die Scheidung und die zweite Ehe für nichtig zu erklären. Sie wurde mit der Klage abgewiesen. Aber nun kam das Erstaunliche: Jetzt klagte die zweite Frau nach einiger Zeit auf Auflösung ihrer Ehe, da die erste Ehe noch zu Recht bestände, und die Scheidung ungültig sei. Auch dieser Prozeß wurde zu Gunsten des Ehemannes entschieden.
Nach einigen Jahren hatte ich genau denselben Fall, holte wieder die Zustimmung der 100 Rabbinen ein und erreichte wieder, daß die Scheidung anerkannt wurde, und wieder klagte die erste Frau; deren Anwalt war diesmal der bekannte sozialdemokratische Politiker Wolfgang Heine, und in der Verhandlung ließ er sich mit großer Empörung über dieses Verfahren aus und erklärte mit Emphase, ein solcher Fall wäre noch nicht dagewesen, und kein deutscher Jurist könne es billigen und ihm zustimmen. Darauf konnte ich nicht nur darauf hinweisen, daß es bereits in dem von mir geschilderten Fall ein Präjudiz gäbe, sondern ich konnte jene ministerielle Verfügung produzieren, unter der der Name des Innenministers prangte, der niemand anders war als eben Herr Wolfgang Heine, der damals dieses Amt bekleidet hatte. – Herr Heine war zunächst äußerst verblüfft, machte aber dann gute Miene zum bösen Spiel, lachte herzlich und beglückwünschte mich zu dieser merkwürdigen Chance, die mir in den Schoß gefallen war. Natürlich fiel seine Klientin denn auch mit ihrem Prozeß ab.
Die Divergenzen zwischen deutschem, jüdischem und russischem Recht führten oft zu merkwürdigen Kombinationen. Da hatten zwei junge Leute in Deutschland sich nur rabbinisch trauen lassen. Das hatte gesetzlich an sich keinerlei Wirkung, war sogar verboten. Wenn aber bei dem zuständigen russischen Gericht später diese Eheschließung registriert wurde, war das eine nach russischem zaristischem Recht gültige Eheschließung, und die Ehe datierte von dem Tage der rabbinischen Trauung in Berlin an. Da geschah nun folgendes: Einige Monate nach jener also zunächst ungültigen Eheschließung fuhr der Ehemann in seinen Heimatort nach Rußland und ließ die Registrierung vornehmen. Damit war die Ehe also rechtsgültig, und nach den bestehenden Verträgen mußte sie nun auch in Deutschland anerkannt werden, so daß das Paar von seiner Trauung an als legales Ehepaar galt. Als aber der junge Ehemann wieder nach Berlin kam, fand er, daß seine Frau inzwischen vor dem Standesamt einen anderen geheiratet hatte, was sie ja auch nach deutschem Recht tun konnte, solange die Ehe nicht in Rußland legalisiert war. Auf diese Weise hatte die Frau nun zwei ihr gesetzlich angetraute Ehemänner. Es entstand jetzt ein Streit zwischen den beiden glücklichen Gatten, bei dem jeder der beiden Ehemänner den andern an Großmut zu übertreffen suchte, indem er ihm die Frau überließ, also behauptete, nicht er, sondern der andere sei der rechte Ehemann. Bevor ich, um ein Gutachten angegangen, damit zustande kam, erledigte sich der Fall dadurch, daß die Frau mit einem dritten Mann durchging, und beide Ehemänner schienen jegliches Interesse verloren zu haben.
Ein jüdischer Restaurateur wollte in dem ostjüdischen Viertel um die Dragonerstraße herum ein rituelles Restaurant eröffnen. Der Polizeipräsident verweigerte die Konzession mit der Begründung, daß in dieser Gegend schon genügend Gastwirtschaften vorhanden seien, und er die Bedürfnisfrage verneinte. Ich klagte beim Bezirksausschuß gegen den Polizeipräsidenten mit der Begründung, daß es sich hier um eine Gaststätte besonderer Art, nämlich um ein rituelles Restaurant handle. In der Verhandlung las mir der Vorsitzende Stadtrat Schulz eine von ihm eingeforderte Auskunft der Berliner Jüdischen Gemeinde vor, in der Herr Dr. Ismar Freund als Vertreter der Gemeinde erklärte, der betreffende Restaurateur stände nicht unter Aufsicht der Gemeinde, so daß also der Betrieb von ihr aus nicht als rituell bezeugt werden könne. „Ja“, sagte der Herr Stadtrat, „damit entfällt Ihre Begründung, Herr Rechtsanwalt.“ Ich stutzte einen Moment, denn wie sollte ich diesem christlichen Richter klarmachen, daß es rituelle Betriebe geben könne, ohne daß die Aufsicht eines Gemeinderabbinats existiere. Ich half mir, indem ich sagte: „Herr Stadtrat, ich werde Ihnen eine Analogie geben. Es gibt doch eine Menge junger Mädchen, die nicht unter Kontrolle stehen und auch sehr nett sind.“ – Dieses Beispiel leuchtete ihm ein, und mein Klient erhielt eine Konzession.
VI.
Im Sommer 1909 fuhr ich mit meiner Frau zu deren Eltern auf die „Datsche“ im ukrainischen Urwald. Wir kamen auf der kleinen Station Korostyn zwischen Kowel und Kiew in sehr früher Morgenstunde an. Dort, an dem Verladeplatz des Holzes aus dem Walde meines Schwiegervaters, wurden wir mit einem prächtigen Frühstück empfangen und fuhren dann einige Stunden durch den märchenhaften Wald zu dem Landhaus. Das lag nun also stundenweit von jeder Siedlung entfernt, ganz einsam, und nur die Familie nebst Dienerschaft, die in einem besonderen Hause wohnte, bildeten meinen Umgang. Für mich war das ein vollkommen neues und unbekanntes Leben. Nie war ich in eine derartig enge Berührung mit der Natur gekommen, und ich wanderte staunend zwischen dem Baumriesen umher. Schon morgens ganz früh in Tallis und Tefillen erging ich mich in einem merkwürdigen Wohlgefühl, so ungestört mich als Jude der „Welt“ präsentieren zu können. Vor der Tür auf der Terrasse wurde schon der Samowar gezündet, der den ganzen Tag brannte, und an den sich jeder Ein- und Ausgehende im Vorübergehen selbst bediente. Herrlich war es, vor dem Hause zu frühstücken, dabei die fleißigen Spechte und Meisen in ihrer Arbeit an den Bäumen zu beobachten, und wie nett war es, wenn etwa Eichhörnchen aus dem Walde heranhüpften und zutraulich am Frühstück teilnahmen. Welche Freude für die Kinder, wenn solch ein Tierchen ihnen auf die Schultern kletterte. Ich bewunderte die riesigen Ameisenhaufen und sonstige Fauna des Waldes, und bei den langen Spaziergängen traf ich kaum jemals einen Menschen. Ja, einmal stieß ich auf einen alten russischen Bauern, der mich freundlich begrüßte. Da ich kein Wort russisch verstand, half ich mir pantomimisch und gab ihm eine Zigarre, die er zu meiner Verblüffung grinsend und mit Wohlbehagen – zu verspeisen begann. In diese Weltabgeschiedenheit war offenbar noch nie eine Zigarre gelangt. – Alles dort war mir neu. Ich hatte eben der Natur nie so unmittelbar gegenübergestanden wie in jener Zeit. War ich doch in der Großstadt aufgewachsen, und hatte ich doch kaum je Gelegenheit gehabt, die Welt wirklich, wie sie Gott geschaffen hat, kennenzulernen. Hier befand ich mich mitten in einem jungfräulichen Wald. Er war wundervoll, gewaltig, herrlich schön, – ich empfand ja die Schönheit und die Majestät der Natur, aber ich weiß nicht, was es war, es sprengte mir fast das Herz. Ich war überwältigt und wurde regelrecht melancholisch. Ich verlor meinen gesunden Schlaf, meine Laune, entlief fast immer meiner Umgebung und streckte mich einsam irgendwo im Walde hin, unfähig zu denken, ganz und gar mich dieser rätselhaften Depression hingebend. Die Meinen waren recht beunruhigt, und meine sehr gescheite Schwiegermutter erklärte, daß sie das nicht länger mit ansehen könnte, ich würde da vollkommen gemütskrank, und wir beschlossen, daß ich den auf Monate berechneten Aufenthalt abbrechen und auf Reisen gehen sollte.





