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Weil Hans den Tipp mit der Kripo gegeben hatte, hätte Georg ihm gern noch von seiner erfolgreichen Strafanzeige berichtet. Es war jedoch schon bald zehn Uhr und sein Dienstbeginn rückte näher. Er nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse, griff Schaffnerjacke, Geldtasche, Münzwechsler und gab Elisabeth einen Kuss auf die Wange. „Bis später!“ Auf dem kurzen Weg zum Hauptbahnhof geriet er ins Grübeln: Was würde aus ihm als Schaffner werden, wenn die Nürnberg-Fürther Straßenbahn tatsächlich wie geplant auf schaffnerlosen Betrieb umstellen sollte?
Abgesehen vom Verlust des Arbeitsplatzes konnte er sich das Entfallen der täglichen Rituale nicht vorstellen: die Geldscheine in seine Schaffnertasche und die Münzen in seinen Geldwechsler mit der gebotenen Sorgfalt einzuordnen und über das Wechselgeld genau Buch zu führen.
Und dann kreisten seine Gedanken längere Zeit um die Frage: Wie will man das Schwarzfahren verhindern, wenn niemand mehr ruft: „Noch jemand ohne Fahrschein?“ Er liebte seinen Beruf, daher wollte er sich nicht weiter mit unklarer Zukunft beschäftigen. Plötzlich wurde er im Halbdunkel des Celtis-Tunnels von einem Fahrradfahrer gerammt, sodass er fast das Gleichgewicht verlor. Im Stolpern fing ihn ein entgegenkommender Fußgänger auf, der ihn unangenehm kräftig umfasste. Ohne einen Dank abzuwarten, setzte dieser seinen Weg mit forschen Schritten fort. Irgendwie kam ihm der Zwischenfall komisch vor.
Am Hauptbahnhof stieg er in „seinen Einundzwanziger“. Warum „die“ Straßenbahn und „ihre“ Linien in Nürnberg männlich sind, konnte er nicht begründen, fand es aber irgendwie richtig. Die Linie 21 fuhr um diese Zeit ohne Beiwagen. Georg nahm im Schaffnersitz des Triebwagens Platz. Als er seine Schaffnertasche öffnen wollte, fuhr ihm der Schreck durch alle Glieder: Sie war offen und er befürchtete, unbemerkt bestohlen worden zu sein. Auf den ersten Blick fehlte jedoch nichts. Aber zwischen den blauen Zehnmarkscheinen steckte ein kleiner weißer Zettel. In Anfängerschrift stand darauf: „Kein Cadillac. Sonst teuer bezahlen!“ Er konnte sich zunächst keinen Reim darauf machen. Außerdem musste er sich seinen Dienstaufgaben widmen.
Georg Meier versah seinen Schaffnerdienst an diesem Tag nicht mit der gewohnten Konzentration und Sorgfalt. Immer wieder stimmte das sonst so sicher von ihm abgezählte Wechselgeld nicht, weil es ihm einfach nicht gelang, den Zettel zu vergessen. Er nahm ihn als Versuch einer Erpressung sehr ernst: Mit „Kein Cadillac“ wurde er wohl aufgefordert, seine Aussage zu widerrufen. Aber was war mit „Sonst teuer bezahlen!“ gemeint? Und woher kannte der Erpresser den Hinweis auf den Cadillac in seiner Anzeige?
Dienstschluss war um 18 Uhr, wieder am Hauptbahnhof. Die Linie 21 – um diese Zeit mit Beiwagen – hatte fünf Minuten Verspätung. Während des gesamten Tages hatte Georg überlegt, ob und wie er Elisabeth von der befürchteten Erpressung erzählen sollte. Auf dem Heimweg, der durch den Celtis-Tunnel führte, fiel seine Entscheidung: Er würde ihr den Zettel ohne Kommentar in die Hand geben und ihrer Phantasie als Krimileserin vertrauen. Dabei musste er gegenüber sich selbst zugeben, die betreffende Lektüre seiner Frau bisher zu gering geschätzt zu haben.
Elisabeth empfing ihn mit dem Satz, der nach jedem Arbeitstag Georgs Feierabend einläutete: „Abendbrot ist fertig. Dein Bier steht bereit.“ Weil das gewohnte „Danke. Dann lass ich es zischen“ ausblieb, fragte sie sofort: „Was ist passiert?“ Georg gab ihr wortlos den Zettel. Sie las, kratzte sich kurz an ihrem Wuschelkopf und sagte im Brustton der Überzeugung: „Da will uns jemand erpressen. Und zwar jemand, der deine telefonische Strafanzeige mitgehört oder abgehört haben muss. Nur so kann er wissen, dass du von einem Cadillac berichtet hast, den ich ja unmittelbar nach dem Schuss gesehen habe und der dir dann bei seiner Rückfahrt, fast wie bei einer späteren Kontrollfahrt am Tatort vorbei, aufgefallen ist.“
Georg war sprachlos. Der kriminalistische Scharfsinn seiner Frau nötigte ihm jetzt größten Respekt ab. Zwingend erschien ihm vor allem die Annahme des abgehörten Telefonats. Georg wusste es aus dem Bericht eines von ihm geschätzten Nachrichtenmagazins: In der ‚amerikanisch besetzten Zone Bayern‘ – auf den Autokennzeichen mit einem B unter einem A abgekürzt – gehörte es für die Besatzungsmacht gewissermaßen zum guten Ton, die deutsche Polizei durch Abhörmaßnahmen zu überwachen. „Elisabeth, du hast ganz sicher Recht: Die Amerikaner müssen mein Telefonat mit dem Landeskriminalamt abgehört haben! Aber was haben die Amis mit der Sache zu tun?“
Elisabeth fühlte sich wie die Kommissarin in ihrem Lieblingskrimi: „Wo hast du denn den Zettel her?“ „Er steckte zwischen den Zehnmarkscheinen in meiner Geldtasche.“ „Also hat jemand gewusst, wann und wo dein Dienst heute Vormittag beginnen würde. Und genau dies hast du gestern telefonisch bekanntgegeben. Ich habe mich deshalb darüber gewundert, weil es mit unserer Strafanzeige nichts zu tun hatte.“
„Und warum habe ich nicht bemerkt, dass meine Tasche geöffnet und der Zettel hineingesteckt wurde?“ „Es gibt genug Trickdiebe, die so fingerfertig sind, dass sie dir unbemerkt eine Uhr vom Handgelenk klauen.“ Da fiel ihm die eigenartige Begegnung im Celtis-Tunnel ein, die er seiner Frau anschaulich erzählte. „Im Rückblick kommt mir die Sache sehr gewollt vor“, resümierte er. „Das war sie auch: Der Kontakt verschaffte jemand die Gelegenheit, den Zettel in deine Geldtasche zu schmuggeln.“ Georg wurde plötzlich leicht schwindelig. In welche Sache waren sie da verwickelt? Hätte Elisabeth doch besser keinen Schuss gehört. Wie gerne würde er den Film, der in seinem Kopf ablief, zurückspulen. Und wie schön wäre es, wenn er dem Regisseur in Gedanken einfach zurufen könnte: „Lou mer mei Rouh!“
Angesichts der gefühlten Bedrohungslage verharrten beide schweigend am Küchentisch. Wie sollten sie nun mit der Drohung umgehen? Sie nahmen sie jedenfalls nicht auf die leichte Schulter. Elisabeth löste sich als erste aus der gedanklichen Umklammerung. In ihr reifte eine Idee: „Wir korrigieren unsere Aussage folgendermaßen: Es darf nicht mehr protokolliert werden, dass es sich um einen Cadillac oder überhaupt um eine amerikanische Automarke handelte.“ Georg war erleichtert: „Damit erfüllen wir die Bedingung unseres vermutlich amerikanischen Erpressers. Wir sollten besser hinzufügen: ‚Die beobachtete lindgrüne Limousine könnte auch ein deutsches Fabrikat gewesen sein, etwa ein Mercedes-Benz 300.‘ Schließlich war der Wagen schon zu weit weg.“ Jetzt durfte es ein Bier sein.
Am nächsten Morgen rief Georg beim Landeskriminalamt an, ließ sich mit der Ermittlungsabteilung verbinden und erklärte dem seit gestern bekannten Beamten die Änderung der Aussage vom Cadillac zum Mercedes-Benz 300. „Das haben Sie sich gerade noch rechtzeitig überlegt, bevor das gesamte Protokoll an die Staatsanwaltschaft übermittelt wird. Vergessen Sie nicht, zur Unterschrift zu erscheinen.“
Staatsanwalt Büchner war aus hartem Holz geschnitzt. „Sie können Ihre Strafanzeige erst unterschreiben, wenn Sie mir die Änderung Ihrer Aussage erklärt haben. Bis dahin halte ich die Festlegung auf eine bestimmte andere Automarke für unglaubhaft. Was haben sie wirklich gesehen?“ Georg Meier war völlig verunsichert. Nach einer Zeit des Schweigens reagierte Büchner geradezu knallhart: „Ich protokolliere: Auf Vorhalt schweigt der Anzeigeerstatter und gibt damit konkludent zu erkennen, dass die Festlegung auf eine Automarke entfällt. Das wird jetzt abgetippt und Sie können Ihre Anzeige in einer halben Stunde unterschreiben. Nehmen Sie solange auf dem Gang Platz.“
4. Treffpunkt „Grüner Baum“ in Fürth
Bis Ende 1954 bot die Fürther Altstadt beliebte Treffpunkte für amerikanische Soldaten. Zu einem ihrer bevorzugten Lokale gehörte der „Grüne Baum“ in der Gustavstraße. Dort arbeitete Kunigunde als Kellnerin, von allen „Kuni“ genannt. Ein Abend im Frühsommer 1954 blieb ihr wegen einer ungewöhnlichen Begegnung in besonderer Erinnerung.
„Ten beers, please!“ Zehn lärmende GIs umlagerten den Tresen, an dessen Zapfhahn Kuni mit großer Routine agierte. Den meisten der bierdurstigen Kehlen ging es dennoch nicht schnell genug: „Quickly, rapidly!“ Die Halbliterkrüge wurden ihr förmlich aus den Händen gerissen. Maßkrüge waren wegen mehrerer Schlägereien seit einigen Wochen nicht mehr in Gebrauch. Dichter Zigarettenrauch lag in der Luft. Er mischte sich mit dem Geruch verschütteter Biere und wurde in dieser Mischung in der Kleidung nach Hause getragen.
Die beiden, die sich als einzige nicht vorgedrängt hatten, setzten sich an einen Tisch in der Ecke. Kuni fand sie schon deshalb sympathisch, weil ihr Interesse offenbar nicht nur dem Bier galt, sondern auch dem Gespräch miteinander. Es machte den Eindruck enger Vertrautheit unter Freunden. „Endlich mal anständige Amis!“, dachte sie.
Der größere der beiden kam an den Tresen. Kuni begann wie gewohnt auf Englisch: „Would you like …“ „Sie können Deutsch mit mir reden.“ „Sehr gern. Was kann ich für Sie tun?“ „Gibt es auch ein kleines Bier?“ „Eigentlich nicht. Ich kann aber den Krug nur halb füllen – ein ‚Schnitt‘ sagen wir auch dazu.“ „Das ist sehr nett. Dann bitte zwei Schnitt.“
Um viertel vor acht erschien Kunis beste Freundin Anni, die sie seit der ersten Volksschulklasse kannte. Ihr Erscheinen erregte unter den Soldaten allgemeine Aufmerksamkeit, die sie jedoch entschlossen ignorierte. Da montags schon ab 20 Uhr Feierabend war, wollten sie beide zusammen ins Kino gehen. Kuni hatte Anni ausnahmsweise gebeten, sie im Grünen Baum abzuholen, obwohl sie wusste, dass Annis Vater ihr verboten hatte, in die „amerikanisch verseuchte“ Fürther Altstadt zu gehen.
„Ich bin gleich fertig, gedulde dich noch einen Augenblick. Übrigens: In der Ecke sitzt ein gutaussehender GI, der sogar Deutsch spricht.“ Annis prüfender Blick wurde mit einem selbstbewussten Lächeln und einem erhobenen Krug erwidert. Kuni hatte das Gefühl, dass Annis naturrote Haare auch bei ihm Gefallen gefunden hatten. Als der große Gutaussehende aufstehen wollte, drückte ihn sein Freund mit irritierender Entschiedenheit wieder auf den Stuhl.
„Stay seated!“, pfiff er ihn in militärischem Ton zurück. Sichtlich betreten stierte der so Angeschnauzte vor sich hin. „Sorry“. „Never mind“, flüsterte der andere kleinlaut. „Let’s have another beer“, schlug der Kleinere versöhnlich vor. Er gab Kuni ein Handzeichen mit zwei gestreckten Fingern.
Als sie die Krüge auf den Tisch stellte, spürte sie zwischen den beiden eine angespannte Atmosphäre. Schon nach wenigen Minuten verließen sie das Gasthaus. Der Kleine deutete beim Hinausgehen auf den Tisch mit den zurückgelassenen Dollarscheinen.
Seit ihrer Kindheit erlebte Anni einen psychisch labilen Vater, der zu unberechenbaren Wutanfällen neigte, vor allem, wenn man seine Verbote missachtete. Aber sie ließ sich nicht von seinem spürbaren Hass auf alles Amerikanische anstecken. Dennoch musste sie all ihre Bedenken und Skrupel überwinden, um Kuni wieder im Grünen Baum abzuholen. Sie spürte aber auch, dass das Lächeln des Unbekannten und der für sie zum Gruß erhobene Krug Eindruck auf sie gemacht hatte. Schon beim Betreten des Gastraums wurde sie von Kuni begrüßt. Als diese bemerkte, dass Anni den Raum sondierte, lächelte sie vielsagend und deutete mit dem Kopf in die hintere Richtung. Die beiden Freunde saßen am selben Tisch wie gestern und hatten ihr Kommen bemerkt.
An Anni gerichtet, rief der Gutaussehende mit den braunen Augen und den buschigen Augenbrauen laut genug, um das Gebrüll der anderen GIs zu übertönen: „Wollt ihr euch zu uns setzen?“ Kaum war die Einladung ausgesprochen, stand der andere abrupt auf und drängte an Anni vorbei zum Ausgang.
„Was hat er denn?“, fragte sie irritiert. „Robert ist anfangs immer etwas scheu. Das gibt sich aber mit der Zeit.“ Zögernd nahm Anni Platz auf dem frei gewordenen Stuhl. „Ich bin Mike“, stellte er sich vor, indem er sich kurz erhob. Anni gefiel diese Art alter Höflichkeit. Sie versuchte, auf Englisch zu antworten. „My name is Anni“. „Bleiben wir doch bei deiner Sprache. Pardon, ist Duzen o. k.?“, fragte er nach.
„Kein Problem. Woher hast du dein gutes Deutsch?“, wollte Anni wissen. „Meine Familie stammt aus Deutschland und wir sprachen zuhause häufig Deutsch.“
„Soll ich noch etwas bringen, bevor ich hier Schluss mache?“, mischte sich Kuni ein. „Nicht nötig, wir gehen ja gleich“, gab Anni kurz zurück. Sie hatte am Tonfall bemerkt, dass Kuni ihr die Plauderei mit Mike offenbar nicht gönnte oder wegen des anstehenden Kinobesuches drängte.
Leicht verlegen versuchte Mike, den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen. „Ich habe dich erst gestern hier gesehen. Aber du scheinst die Bedienung zu kennen.“ „Ja, Kuni ist meine beste Freundin.“ Sie schaute sich forschend nach Kuni um. „Wir kennen uns schon sehr lange.“ Bevor Mike weiter fragen konnte, erklärte sie: „Wir wohnten früher nur einen Steinwurf voneinander entfernt, also in der gleichen Straße.“
Kuni hatte bereits bei ihren Gästen abkassiert und signalisierte Anni, dass sie gleich gehen könnten. „Kommst du morgen wieder?“, beeilte sich Mike, bevor Anni aufstand und den Stuhl zurechtrückte. „Vielleicht“, kam über ihre Lippen, begleitet von einem schelmischen Blick, der ihm „wahrscheinlich“ signalisieren sollte.
Als Mike wie vorher seinen Anstand bewies und sich erhob, indem er beide Arme militärisch an den Körper anlegte, merkte sie, dass er einen ganzen Kopf größer war als sie. Sie schätzte ihn auf gut eins neunzig. „Worauf wartest du noch?“, forderte sie Kuni auf. Beim Hinausgehen drehte sich Anni noch einmal um. Mike freute sich sehr über diese kleine Geste, worüber er im gleichen Augenblick erschrak. Noch nie zuvor hatte ihn ein weibliches Wesen interessiert. Spontan fiel ihm der Vers ein, den er von seinem Großvater kannte: ‚Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust‘. Zwei Seelen, die auseinander drängten.
Am nächsten Tag ließ Anni auf sich warten. Als sie schließlich den stickigen Gastraum betrat, entdeckte sie Mike und seinen Freund gut gelaunt miteinander plaudernd. Mike hatte schon lange den Eingang im Auge behalten. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sie erblickte. Noch bevor er entsprechende Worte fand, übernahm diesmal sein Freund die Einladung.
Mike schien ihm ihren Namen genannt zu haben, denn er sagte „Anni, would you be so nice to join us?“ Fragend blickte sie zu Mike. Er nickte einladend. „Gibt es etwas zu feiern?“, fragte sie, indem sie auf dem dritten Stuhl Platz nahm, den Mike bisher tapfer gegenüber anderen GIs verteidigt hatte.
Der Kleine erhob sich und stellte sich förmlich vor: „I’m Robert, Robert Brown. Oh yes, you’r right, there is something to be celebrated.“ Offensichtlich hatte Robert ihre Frage verstanden. „It’s Mike‘s birthday“.
„Willst du dich nicht setzen?“, ermunterte Mike sie, indem er den Stuhl in Position brachte. „Na dann – alles Gute!“, wusste sie nur zu sagen. Sofort orderte Mike ein drittes Bier. „Oder möchtest du etwas anderes?“, ergänzte er. Anni schüttelte nur den Kopf. Ihre roten Backen fielen ihm auf. Als er sie darauf ansprach, ließ sie wissen: „Ich musste heute länger arbeiten. Damit ich nicht allzu spät komme, habe ich mein Fahrrad genommen. Da komme ich immer ins Schwitzen.“ Mike konnte sein Lachen nicht unterdrücken. Da musste sie auch kichern und Robert fiel mit ein. „Noch ein Bier bitte!“ bestellte er auf Deutsch. Kuni war noch zu beschäftigt, um sich schon jetzt zu ihnen zu gesellen.
Die heitere Stimmung veranlasste Mike zu persönlicheren Fragen. Robert hörte angestrengt zu. Möglicherweise verstand er doch einiges, was die beiden erzählten. Schließlich wollte Mike wissen: „Wohnst du noch bei deinen Eltern?“ „Ja, was denkst du denn!“ „Und wo?“ Mike ignorierte den Fußtritt Roberts gegen sein Schienbein. „In der Moltkestraße in Nürnberg“, ergänzte sie in einer Körpersprache, als ob sie vorher nachdenken müsste.
Mike fand dies amüsant, weil er das Spielerische schon immer liebte. Er wurde sich kurz bewusst, wie sehr er Roberts Signal weiterhin missachtete. „Hast du einen langen Weg zur Arbeit?“ Bis zur Straßenbahn in der Fürther Straße laufe ich zehn Minuten. Sie bringt mich dann in weiteren knappen zehn Minuten zu meinem Arbeitsplatz in der Quelle-Hauptverwaltung.“
Bei dem Namen Quelle zog Mike seine Stirn spontan in Falten. Anni war deshalb etwas irritiert. Entschlossen griff sie nach dem Bier, um sich abzulenken. Mike verstand diese Geste. „Du musst wissen, der Versandhandel ist eine amerikanische Idee.“ „Ach so, das wusste ich nicht.“ Wieso konnte Mike ihre Firma Quelle als Versandhandel identifizieren? Aber diese Frage hob sie sich für später auf – ebenso wie die Frage, seit wann und woher Mike Robert kannte, dessen Miene sich zunehmend verfinsterte.
Nachdem Kuni abgerechnet und neue Bestellungen an Ursula, ihre Kollegin weitergegeben hatte, kam sie zu den Dreien. Robert zog einen Stuhl heran und sie setzte sich ihm gegenüber. Es entging ihr nicht, dass sein Blick nur auf Mike gerichtet war.
Nach wenigen Minuten forderte er Mike zum Gehen auf. „Come on, we are late!“ Mike zog seinen Ärmel zurück, um besser auf seine Uhr schauen zu können. „You’r right. But one moment please! Er holte Luft und trompetete: „Ich habe einen Geburtstagswunsch ...“, wobei er Kuni bittend ansah. Sie verstand ihn nicht. „Kannst du uns ausnahmsweise die ‚Schwedenstube‘ zeigen; mein Großvater schwärmte immer so von diesem Raum hier im Lokal.“ Die ungläubig verständnislosen Blicke der Drei ignorierte er, indem er seine Bitte nachdrücklich wiederholte: „Please, Bitte!“
Obwohl GIs wegen ihrer Rangeleien seit kurzem der Zutritt zum oberen Stockwerk verboten war, konnte Kuni eine Ausnahme ermöglichen. Sie besorgte den Schlüssel und zu viert erklommen sie die Treppe nach oben. Nach dem Öffnen der knarrenden Tür weitete sich vor ihnen der mächtige Saal, in dem angeblich Gustav Adolf speiste, bevor er 1632 in die Schlacht an der Alten Veste aufbrach. Die gut erhaltene riesige Holzdecke bewunderte besonders der schöngeistige Robert. „It’s really amazing!“, wiederholte er mehrfach mit schwärmendem Blick. Mike kannte den Raum von einem Foto seines Großvaters, doch die Realität übertraf seine Erwartung. Schweigend genoss er den beeindruckenden Anblick.
Der Lärm von der Straße erinnerte Robert an den Aufbruch. „It’s enough, thank you very much!“, raunte er noch knapp und rannte aber dann die Treppe hinab. Er wartete auf der anderen Straßenseite, von der er das Sandsteingebäude des „Grünen Baums“ betrachtete. Die beiden Flügel des geräumigen Tores standen einladend offen. Kommende und Gehende drängten zugleich hindurch. Schließlich erschienen die bekannten Gestalten. Anni sagte an Mike gewandt: „Weil heute dein Geburtstag ist, begleiten wir euch ein Stück. Bis zum Rathaus haben wir denselben Weg.“ – „Kommt ihr nicht mit bis zu unseren Barracks – oder Barracken?“, witzelte Mike.
Anni bemerkte, dass Robert ihn kurz mit dem Ellenbogen anstieß. „Ihr glaubt ja wohl nicht im Ernst, dass wir euch zuliebe einen solchen Umweg über die Südstadt machen!“ In dieser Antwort lag Kunis ganze Enttäuschung über die Tatsache, dass Robert – der zwar nicht so männlich aussah wie Mike, aber viel mehr ihr Typ war – sie in auffallender Weise ignorierte.
Als Anni die Wohnungstür aufsperrte, hörte sie ihren Vater aufgeregt und ungewöhnlich laut mit ihrem Bruder diskutieren. „Was regt euch denn so auf?“ Am Blick ihres Vaters erkannte sie, dass ein Wutanfall zu befürchten war. „Wo kommst du jetzt her?!“, brüllte er sie an. Noch bevor sie antworten konnte, zischte er: „Herbert hat dich gestern mit zwei Amis in der Fürther Altstadt gesehen. Bist du verrückt geworden? Habe ich dir nicht verboten, mit Amis zu verkehren?“ Zitternd stand sie vor ihm. „Du wirst die Typen doch nicht etwa im Rotlichtviertel der Gustavstraße aufgegabelt haben?“ Anni war zu verschüchtert, um eine erklärende Antwort zu geben. Zwar hatte ihr Vater ihr nur als Kleinkind den Hintern versohlt, aber sie traute ihm nun zu, dass er die Kontrolle verlor und zuschlug. „Meine Tochter trifft sich mit Amis! Ich glaub es nicht!“ Anni warf ihrem Bruder einen bösen Blick zu. „Diesen Verrat werde ich ihm nicht verzeihen“, dachte sie. „Es ist doch bekannt, dass besonders die Gustavstraße ein Sündenpfuhl von Kuppelei, Gewerbsunzucht und Schwarzhandel ist. Und was machst du?“ Er näherte sich drohend, die Fäuste geballt.
„Woher willst du denn wissen, wie es dort zugeht?“, protestierte Anni kleinlaut. Er deutete auf den Küchentisch, auf dem die Fürther Nachrichten lagen. Als gebürtiger Fürther bezog ihr Vater seit je dieses Blatt. Er drehte sich um und begann in der Zeitung zu blättern. „Hör dir an, was der Polizeidirektor über die Amis schreibt:“
„Fürth ist vorwiegend eine Arbeiter- und Industriestadt. Lediglich die Hauptverkehrsstraßen bekommen allmählich einen großstädtischen Charakter. Gerade diese Straßen sind aber noch völlig frei von irgendwelchem unsittlichen Treiben geblieben. Die Altstadt ist dagegen das Vergnügungsviertel für die amerikanischen Soldaten. Die engen, winkligen Gassen und der im Allgemeinen schlechte bauliche Zustand sind ein Nährboden für unsittliche Zustände.“ Vorwurfsvoll blickte er sie an.
„Aber von der Gustavstraße ist doch gar nicht die Rede“, wagte sie einzuwenden. Inzwischen hatte sie etwas Mut gefasst. „Du kennst doch noch die Kuni. Vor einer Woche haben wir uns zufällig getroffen. Sie arbeitet seit kurzem im „Grünen Baum“. Zwar hat sie mir von einigen Schlägereien in der Gustavstraße erzählt, aber nichts von unsittlichen Zuständen. Ich hab sie nur abgeholt, weil wir gemeinsam ins Kino gehen wollten. Da haben uns zwei GIs bis zur Königstraße begleitet. Außerdem ist Mike deutschstämmig und sehr schüchtern.“ Sie biss sich auf die Lippen, als ihr dies entfuhr.
„Aha, du kennst sogar schon seinen Namen!“ „Das hat nichts zu bedeuten; der andere hat ihn so genannt.“ Dass sie Mike wieder getroffen hatte, verschwieg sie verständlicherweise. Die Wut ihres Vaters ebbte ab. Im Drohton verkündete er: „Damit du es dir hinter die Ohren schreiben kannst: Ich verbiete dir ein für alle Mal den Umgang mit den Amis in der Kneipe oder sonst wo – und glaub bloß nicht, dass ich das in Zukunft nicht bemerken würde!“ Sie wusste, dass er sich nicht mehr mit Ausreden besänftigen lassen würde. Derartige emotionale Ausbrüche ihres Vaters waren für Anni schrecklich, aber leider keine Seltenheit. „Das hat mit seiner Vergangenheit im Krieg zu tun“, hatte ihre Mutter auf Nachfrage „Warum Vater oft so wütend wird“, knapp geantwortet. Die ganze Wahrheit war: Am 25. Februar 1944 hatte er bei einem Luftangriff amerikanischer Bomber auf die damals kriegswichtigen „Bayerischen Waggon- und Flugzeugwerke“ sein linkes Bein verloren und litt heute noch unter ständigen Schmerzen und den täglichen Einschränkungen.
Die Werksanlagen auf der Fürther Hardhöhe zählten zu den bevorzugten Angriffszielen, die von amerikanischen Flugzeugen bombardiert wurden. Zwei seiner Brüder gehörten zu den 139 Todesopfern dieses Angriffs. Seit diesem Tag waren „die Amerikaner“ für ihn „Mörder und keine Befreier“. Er trichterte seinen Kindern ein: „Die Amerikaner behaupten, uns Deutsche 1945 vom Nationalsozialismus befreit zu haben. Das ist eine grobe Geschichtsfälschung. Die NSDAP war als stärkste Partei demokratisch an die Macht gekommen und Hitler war ihr Führer. Er hat die Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre beseitigt, die Autobahnen gebaut und Deutschland in der Welt wieder Respekt verschafft. Das mit den Juden war ein großer Fehler.“ Während Annis Bruder das alles richtig fand, war sie mit ihrer Mutter der Meinung, nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 die gesamte „Nazizeit“ für erledigt erklären zu können.
Das war auch der Frontverlauf im verbalen Krieg der Familie über die Wiederbewaffnung Deutschlands und die Gründung der Bundeswehr: Hier die pazifistischen Frauen, dort die militaristischen Männer. „Mein Namensvetter Konrad Adenauer verhandelt mit Truman und beugt sich amerikanischen Bedürfnissen, anstatt deutsche Interessen zu vertreten“, ließ Konrad Förster wissen. „Wenn uns keine Wehrmacht mehr schützt, müssen wir uns eben selbst verteidigen.“ Dass ihr Vater einen Revolver besaß, hatte Anni zufällig entdeckt, als sie im Kleiderschrank ihrer Eltern nach einem Faschingskostüm schnüffelte. Diese Entdeckung verheimlichte sie aber.
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