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Der leider viel zu früh verstorbene Philosoph und Dichter John O’Donohue sagte einmal: „Die Fantasie ist die beste Freundin der Möglichkeit. Wo die Fantasie lebendig und wach ist, verhärtet oder verschließt sich das Faktische nicht, sondern bleibt stets offen und lädt zu neuen Schwellen der Möglichkeit und Kreativität ein.“4
Ähnlich sind die Geschichten der Bibel aufgebaut, auch wenn einige Zeitgenossen es lieber sähen, wenn es fest formulierte Handlungsanweisungen wären, die immer und für alle Zeit ihre wörtliche Gültigkeit haben würden. Seán sagt immer zu mir: „Die Bibel muss man lesen wie eine richtig gute antike Zeitung. Da werden wichtige Ereignisse geschildert, aber ebenso ganz persönliche Kommentare und Meinungen abgegeben; da gibt es Gedichte und Geschichten, einen Fortsetzungsroman, eine Rätselseite, die Wirtschaftsnachrichten und die politischen Seitenhiebe; da werden Vorkommnisse gedeutet und gefragt, was sie für den jeweiligen Verfasser bedeuten; es gibt Mitteilungen, die über einen begrenzten lokalen Bezug nicht hinausreichen, und solche, die globale Bedeutung, ja kosmische Bedeutung haben. Nur einen Comicstrip habe ich bislang noch nicht entdeckt. Aber vielleicht finden sie in Nag Hammadi oder so ja noch mal was in der Richtung. Man weiß ja nie …“
Dieser weite Sinn für Geschichten ist vielleicht ein Grund, warum die Kelten dem Christentum relativ offen gegenüberstanden, während andere zuvor heidnische Völker eher schwerlich Zugang fanden: Die Gleichnisse Jesu sind ähnlich offen wie die keltischen Mythen. Sie erzählen etwas, doch die Schlussfolgerung muss man selbst treffen. Auf diese Weise bleiben religiöse Vorstellungen lebendig. Sie bewegen sich, mäandern durch die Zeit, fordern jeweils auf andere Art heraus, verlangen, dass man mit seiner ganzen Existenz Antwort auf die implizierten Fragen gibt. Diese ursprüngliche Lebendigkeit begegnete mir in einem keltisch geprägten und damit ganz anderen Christentum und wurde für mich zu einem fast taoistischen Fließen, das mich endlich wirklich erreichte und was mich so sein und so glauben ließ, wie es mir entsprach.
Was mich wirklich bewegte, fand ich hier in mannigfaltiger Ausprägung: schlichte und mitfühlende Menschlichkeit. Das Reich Gottes ist ein anderer Name für diese Menschlichkeit. Es ist nicht festgefügt, es ist kein magischer Ort, der irgendwo weit entfernt unserer Ankunft harrt, es ist kein Luftschloss, kein Ideal. Das Reich Gottes ist ein lebendiges Geschehen, gestaltet von uns Menschen, die auf eine neue Weise leben möchten, die mit all ihren menschlichen, tierischen und pflanzlichen Brüdern und Schwestern eine wahrhaftige Beziehung eingehen möchten.
Ebenso bleibt auch Gott lebendig, wenn wir ihn als Geschehen betrachten, als das, was zwischen uns geschieht, wenn wir einander auf einer wirklich tiefen Ebene begegnen.
Gott als Person ist ein Konzept, eine Vorstellung, die wir jeweils so ausgestalten, wie es gerade für uns von Vorteil ist. Das zeigt sich vor allem dann, wenn Menschen davon reden, was angeblich Gottes Wille sei. Gott will dies, Gott will das – und wie es der Zufall will, stimmt Gottes Wille mit dem überein, was mir gerade als Ziel meines Tuns vorschwebt. Und so kann ich andere Länder überfallen und Menschen unterjochen, die nicht meinen Glauben teilen (wie könnten sie auch!), ich kann Menschen mit einem anderen Lebensstil verurteilen, da Gott ja nur meine ganz persönliche Art als richtig und gut abgesegnet hat. Und so kann ich mich immer weiter in ein „Ich bin richtig, die sind falsch!“ hineindenken und mich dabei von meiner Religion gerechtfertigt betrachten.
Seáns Einstellung und – wenn ich verallgemeinern darf – auch die Haltung der frühen keltischen Christen war eine ganz andere: Hier ist Gott eher eine wirkende Kraft, ein Werden und Wachsen, ein liebendes Geschehen zwischen gleichgestellten Gegenübern. Und solch ein liebendes Geschehen kennt keine starren Grenzen, kein für immer gültiges Richtig oder Falsch, sondern ist stets von Mitgefühl und Offenheit geleitet. Es ist eine Bewegung des Herzens, das um seine eigenen Fehler weiß und daher die der anderen achtsam halten kann. W.H. Auden hat das mit seinen berühmten Zeilen aus seinem Gedicht As I Walked Out One Evening in wunderschöne Worte gefasst: „Du sollst lieben deinen krummen Nächsten mit deinem krummen Herzen.“5
Die Kelten hatten diese Aufforderung schon verinnerlicht, als das Universum noch gar nicht an W.H. Auden gedacht hat.
Herdfeuer und Geschichten
Möge dein Heim stets
von einem wärmenden Feuer erhellt sein,
an dem man sich Geschichten erzählt,
die Fremde zu Freunden werden lassen.
Die keltisch-heidnischen Kulturen haben uns nichts Schriftliches hinterlassen, keine heiligen Texte, keine Abhandlungen über ihre Weltsicht, ihr Verhältnis zur Natur oder ihre spirituelle Tradition. Daher stammen die wenigen erhaltenen Texte über sie von römischen Invasoren oder christlichen Mönchen und sind somit recht tendenziös, was es nicht unbedingt einfacher macht, etwas über die frühe Zeit der keltischen Spiritualität herauszufinden.
„Das macht gar nichts“, meinte Seán, als ich dieses Dilemma beklagte. „Wenn du lernst, still zu werden, können dir die grünen Hügel, der Wind und die See alles erzählen, was du wissen möchtest.“
Das war wieder einmal die typische Antwort von jemandem, der Stunden damit zubringen konnte, eine Spinne beim Bau ihres Netzes zu beobachten, und der über solche Naturphänomene stundenlang Geschichten erzählen konnte, die nie mit Zwischentönen, Weitschweifigkeit, Unerklärlichem und einem Hauch der Anderswelt geizten.
Ich erinnere mich mit sanftem Schrecken an dreistündige Vorträge, die ich auf Tour mit ihm zu übersetzen hatte –, was wohl nicht nur Landes- sondern auch Familientradition war. Sein Großvater war über die Grenzen seines Dorfes hinaus als Geschichtenerzähler, Mythensammler und beliebter Redner bei Trauerfeiern und Hochzeiten bekannt gewesen. Sein Vater hatte ebenfalls Sprich- und Segensworte gesammelt und dadurch in Seán die für einen katholischen Priester sicher ungewöhnliche Meinung verfestigt, dass die Iren auch ohne das Christentum gut zurechtgekommen wären. Sie hatten ja ihre Sprichwörter und waren Meister in der Kunst des Segnens. Das reichte doch dicke an Spiritualität!
Als ich an einem Abend bei seiner Familie zu Gast war, wurde trotz lauschiger 18 Grad Außentemperatur ein Feuer im Kamin angeheizt, während sich Brüder, Schwestern, Onkel, Tanten, Freunde, Nachbarn und irgendwelche Leute, die wohl aus Versehen hier waren, auf einem Sammelsurium von Küchen- und Schaukelstühlen, Sesseln und Melkschemeln versammelten. Offenbar teilten alle Mitglieder der Familie O’Laoire die Vorliebe ihres weitgereisten Sohnes Seán für afrikanische Temperaturverhältnisse. Während sich mein T-Shirt langsam, aber sicher in eine Salzkraterlandschaft verwandelte, saßen die lustigen Iren in Strickpullis um das munter prasselnde Feuer und fühlten sich pudelwohl.
Vielleicht musste ich mir bewusst machen, dass das Herdfeuer der irische Inbegriff schlechthin für Gastfreundschaft war – schließlich taucht dieser Begriff in jedem dritten irischen Segenswunsch auf – und so wurde das Feuer angefacht, weil ein Gast da war, und nicht etwa, weil es kalt war. Da musste man einfach durch!
Es gab Scones, Tee, Bier und ein freundliches Lachen aus jeder Ecke. Padraig, der steinalte Nachbar, den ich nie in etwas anderem als seinem ölverschmierten Blaumann sah, gab zahnlos eine Geschichte nach der anderen zum Besten, die alle köstlich zu amüsieren schienen. Obwohl er angeblich Englisch sprach, verstand ich allerdings nicht ein einziges Wort.
Aber bald begannen auch andere zu erzählen und es entspann sich ein Hin und Her aus Mythen, Märchen und Geistergeschichten. Die Túatha Dé Danann schwebten durch den Rauch des Feuers, Fionn mac Cumhaills Weissagungskünste wurden gepriesen, Airmeds Umhang hüllte uns ein, und immer wieder wurde Bezug genommen auf Merkmale der Landschaft: „Westlich von Sligo steht ein Stein … Auf dem Hügel hinter dem Haus meines Großvaters … Auf dem Feld von Connor O’Douglan … An der Westküste von Inis Mór …“ So begannen viele Sätze, die irgendwann nach Stunden ineinander verschwammen, fast zu einem Hintergrundgeräusch wurden, das mich in vereinter Kraft mit dem einen oder anderen Stout und der saunaartigen Hitze einlullte. Ich fühlte mich der Zeit entrückt, hörte Seán von Brans nicht enden wollender Reise erzählen, dachte kurz, er spräche über mich, und fühlte mit einem Schlag den Unterschied zwischen den verwurzelten Menschen hier und meiner eigenen Rastlosigkeit und fehlenden Zugehörigkeit.
Ich stand etwas schwindelig auf und ging nach draußen, wo mich ein glitzernder Sternenhimmel erwartete, der mich sonst stets faszinierte und beflügelte, mich heute aber einfach noch verlorener fühlen ließ als sonst schon.
„Wir sind alle hier“, sagte Seán plötzlich neben mir, und ich erschrak, als hätte mir eine Banshee auf die Schulter geklopft. „Wir alle auf diesem kleinen blau-grünen Ball, der mit 107.000 km/h durchs All rast. Verrückt, oder?“
Solche Zahlenbeispiele hat Seán ständig auf Lager, da schlägt der Mathematiker in ihm diabolische Doppel-Salti.
Und nichts macht ihm mehr Freude, als bei seinen Vorträgen die Zuhörer mit entsprechenden Infos zum Staunen und mich als seinen Übersetzer zur Verzweiflung zu bringen. Schon mal die Drake-Gleichung zur Schätzung der Anzahl intelligenter Zivilisationen innerhalb unserer Galaxie aus dem Englischen übersetzt, die ein irischer Schnellsprechkünstler mit hartem Akzent herunterrasselt, während 150 Zuhörer Sie anstarren, als wären Sie völlig verrückt geworden? Ich schon – und ich kann die Formel mittlerweile sicherheitshalber auswendig.
Was Seán jedoch mit all diesen Zahlen und Formeln wirklich sagen will, ist stets, dass wir auf einem absolut erstaunlichen Planeten zu Hause sind. Dass alles ineinandergreift, aufeinander abgestimmt ist, von Wundern durchwirkt und uns jeden Tag als Geschenk dargebracht wird. Wenn ich alles, was er mir beibrachte, auf eine Aussage verkürzen wollen würde, würde sie wohl „Mach die Augen auf!“ lauten.
Wenn wir alle auf diesem kleinen blau-grünen Ball unterwegs waren, dann waren wir alle hier zu Hause. Wir alle konnten den Geschichten des Landes unter unseren Füßen lauschen, auch wenn es die Iren in dieser Disziplin zur Meisterschaft gebracht hatten.
Ich spürte, dass die Geschichten und Mythen, auch wenn ich sie durcheinanderbrachte, sie nicht ordnen konnte, etwas in mir berührten. Etwas sehr Altes, eine Erinnerung, die nicht nur meine eigene war. Es schien mir so, als ob in mir ein Brunnen sei, in den jede Geschichte sich wie ein Eimer hinabsenkte, um das kostbare Wasser nach oben zu transportieren. Ich konnte noch keinen Blick auf dieses Wasser werfen, doch ich vermutete, dass ich in ihm mein eigenes Gesicht gespiegelt sehen würde.
Diese Geschichten, die Seáns Familie erzählte, waren keine Unterhaltung, sie dienten einem ganz anderen Zweck: Sie ließen den Zuhörer das grundlegend Menschliche in sich selbst entdecken. Etwas, das ihn mit all den Helden, Kriegern, Göttern und Göttinnen, Abenteurern und Irrfahrern verband.
Ich sagte nichts, schaute nur nach oben, während der Schwindel und die Hitzewallungen langsam vorübergingen. Die Sterne über mir, die dahinrasende Erde unter mir. Selbst Seán schwieg ganz unirisch. Weitere Familienmitglieder strömten aus dem kleinen Haus, verabschiedeten sich und verschwanden in die Nacht. Seán klopfte mir auf die Schulter und ging zurück ins Haus.
Ich stand noch eine Weile dort, betrachtete den großen Wagen, das einzige Sternbild, das ich zweifelsfrei identifizieren konnte. Dann ging auch ich ins Haus, legte mich in ein viel zu kurzes, knarrendes Bett und träumte von einer schwarzen Amsel, die auf meinem Arm saß und mir dann ihren Schnabel tief in die Brust stieß …
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