- -
- 100%
- +
Isabel schaute zwar zum Fenster hinaus, nahm aber die geliebte Landschaft kaum wahr, die draußen vorbeizog. Auf einem Verkehrsschild las sie das Wort ›Konstanz‹, und in diesem Moment fiel ihr ein, sie hatte versäumt, Thomas eine Nachricht zu hinterlassen, falls er vor ihr zurück sein sollte. Sie holte ihr Handy und tippte: »Hab’s geschafft. Bin aufgestanden, musste raus.« Dahinter setzte sie ein Emoticon mit hochgerecktem Daumen und ein Smiley. Sie dachte an Thomas. In der Zeit, als er allein in Tübingen geblieben war, musste er gemerkt haben, was Isabel auch zu seinem Wohlbefinden beigetragen hatte. Er begann, sie zu vermissen. Der Zufall wollte es, dass ein Professor seine große Wohnung in Friedrichshafen aufgab und Thomas anbot. So war er Isabel an den Bodensee gefolgt. Obwohl sie sich damals schon auf Carl eingelassen hatte, schaffte sie es nicht, Thomas die Wahrheit zu sagen. Sie gab ihre kleine Wohnung auf und zog wieder mit Thomas zusammen, was ihre Situation nicht einfacher machte. Sie musste immer neue Lügen erfinden, um mit Carl zusammen sein zu können, hasste sich mit jedem Mal mehr für ihre Schwäche und nahm sich wieder und wieder vor, dem Dreiecksverhältnis ein Ende zu setzen.
Kauend öffnete Isabel nun den Müllbehälter, um die Reste ihrer Mahlzeit zu entsorgen. Da entdeckte sie eine zerknitterte Zeitung. Das Foto eines Motorboots weckte ihre Neugier. Das Boot kam ihr bekannt vor. Mit spitzen Fingern fischte Isabel die Zeitung aus dem Behälter heraus, schnippte die Verpackung eines Müsliriegels weg und strich das Blatt mit beiden Händen glatt. Die fette Schlagzeile über dem Bild sprang ihr regelrecht entgegen:
Motorjacht sinkt vor Friedrichshafen
Der letzte Bissen blieb Isabel beinahe im Hals stecken, ihr Herz schlug schneller. Ihr Blick wanderte hoch zum Datum der Seite: 24. August. Die Zeitung war also schon ein paar Tage alt. 24. August! Der Tag nach dem Unglück, schoss es ihr durch den Kopf. Unter dem Foto der »Amareno« las Isabel die Bildunterschrift:
Das soll die gekenterte Motorjacht sein.
Isabels Augen flogen nun über den Text:
Vor Friedrichshafen ist gestern Nachmittag eine Motorjacht überrollt, gekentert und anschließend gesunken. Wassersportler hatten das 9,70 Meter lange und 3,20 Meter breite Schiff in Konstanz gechartert. Nach unbestätigten Informationen soll das Boot Schlagseite bekommen haben, weil sich zu viele der elf Personen auf einer Seite aufgehalten haben. Bei einem Kurvenmanöver soll dann das Unglück passiert sein. Neun der elf Besatzungsmitglieder kamen fast unversehrt davon. Sie retteten sich durch einen Sprung ins Wasser. Zwei Personen – dem Vernehmen nach ein Mann und eine Frau – hatten sich unter Deck befunden. Sie mussten Fensterscheiben zertrümmern, um sich aus dem sinkenden Schiff zu befreien. Einer der beiden Personen gelang es nicht, aus eigener Kraft an die Oberfläche zu schwimmen. Sie wurde mit in die Tiefe gerissen, konnte aber von Tauchern geborgen werden. In lebensbedrohlichem Zustand musste sie in eine Klinik eingeliefert werden. Die zweite Person erlitt offensichtlich nur leichtere Verletzungen. Die anderen Passagiere kamen mit einem Schock davon. Eine vorbeifahrende Segeljacht hatte das Unglück beobachtet, einen Notruf abgesetzt und zehn Personen an Bord genommen. Wie es tatsächlich zu dem Unfall kommen konnte, ist noch nicht abschließend geklärt. Nach unbestätigten Angaben sollen die Verunglückten selbst Polizisten gewesen sein. Die Ermittlungen dauern an.
Isabel ließ das Blatt sinken, ihre Hände zitterten. Sie hatte es kaum geschafft, den Artikel zu Ende zu lesen. Ihre Augen brannten, auf einmal tauchten Sterne auf, und sie merkte, wie Übelkeit in ihr hochstieg. So fühlt sich das also an, wenn man selbst betroffen ist. Die zweite Person erlitt offensichtlich nur leichtere Verletzungen … Offensichtlich, was ist schon offensichtlich, fragte sie sich und sackte in ihrem Sitz zusammen.
Eine Frau, die gerade den Gang entlangkam, hatte den Zwischenfall beobachtet und eilte sofort zu Isabel. Sie tätschelte ihr die Wange, und als Isabel die Augen öffnete, kramte sie eine Plastikflasche mit Mineralwasser aus ihrer Tasche, schraubte den Verschluss ab, bot sie Isabel an und sagte: »Trinket Sie erst mal einen Schluck.«
Das kalte Wasser rann wohltuend Isabels Kehle hinunter, und sie hauchte: »Danke, das tut gut.«
»Sie send ohnmächtig worde! Was ist los mit Ihne?«, fragte nun die Frau in alemannischem Dialekt.
»Es … geht schon wieder«, stieß Isabel hervor. »War nur eine kleine Kreislaufschwäche.«
Die freundliche Fremde half Isabel, sich wieder aufzurichten. »Ich hab wohl zu wenig getrunken«, fügte Isabel hinzu.
»Sie könnet die Flasch gern behalte. Ich steig sowieso gleich aus«, sagte die Frau und erhob sich.
»Vielen Dank. Das ist sehr nett von Ihnen«, antwortete Isabel höflich und nahm einen weiteren Schluck. Schnell erholte sie sich und starrte wieder zum Fenster hinaus. Was würde sie am Ziel erwarten? In welchem Zustand würde sie Carl antreffen? War er inzwischen wieder bei Bewusstsein? In ihrem Kopf jagte ein banger Gedanke den anderen. Den Umstieg in Radolfzell schaffte Isabel ohne Probleme, und in Allensbach verließ sie pünktlich den Zug.
Kapitel 3
Isabel entschied sich, nicht den Bus zur Klinik zu nehmen, sondern zu Fuß zu gehen. Der kurze Marsch würde ihr guttun und helfen, ihre innere Anspannung zu mildern. Sie erreichte das weitläufige Klinikareal und schritt auf dem gepflasterten Weg zum Eingangsgebäude. Dabei nahm sie kaum die Blumenpracht in den großen Betontrögen wahr, die den Weg säumten.
Fast geräuschlos schoben sich die Glastüren am Eingang zurück, und mit klopfendem Herzen betrat Isabel das Gebäude. Am Empfang erkundigte sie sich nach der Intensivstation. Eine junge Frau erklärte ihr freundlich den Weg und bat sie, sich am Pflegestützpunkt der Station zu melden. Isabel bedankte sich und folgte mit hämmerndem Herzen den Schildern. Sie führten einen Flur entlang, vorbei an Arztbüros und Therapieräumen, der Isabel endlos erschien und vor einer weiteren Schiebetür aus Glas endete. Diese war offensichtlich mit Code gesichert. Isabel trat einen weiteren Schritt auf sie zu und sie öffnete sich wie von Geisterhand. Isabel war unschlüssig, ob sie eintreten sollte, dann schlüpfte sie, einem spontanen Impuls folgend, kurzerhand hinein. Das Blut in ihren Adern pulsierte, als sie sich umschaute. Der Pflegestützpunkt war nicht besetzt, und so ging sie einfach weiter. Eine Schwester mit einem Tablett voller medizinischer Instrumente eilte aus einem Zimmer heraus. Die Tür blieb einen Spaltbreit offen. Schritte näherten sich und wie von einer höheren Macht geleitet, huschte Isabel rasch in das Zimmer hinein. Einen Augenblick lang hielt sie den Atem an und blieb bewegungslos stehen. Ihr Herz hämmerte, und jede Faser ihres Körpers war zum Zerreißen gespannt. Vorsichtig schaute sie sich um. Zwei Betten standen im Raum und beide waren belegt. Neben jedem befanden sich mehrere Beatmungs- und Überwachungsgeräte. Überall blinkte, piepste und surrte es.
Gerade hatte sich Isabel vom ersten Schrecken erholt, da überfiel sie der nächste. In dem Bett unmittelbar vor ihr entdeckte sie einen grauen Haarschopf. Diese Locken kannte sie. Carl! Blitzschnell schlug sie die Hand vor den Mund, als verböte sie sich selbst, den Namen auszusprechen. Ihr Herz schlug noch heftiger. Zögernd setzte sie einen Fuß vor den anderen und trat näher an das Bett heran. Lautlos glitt ihr Rucksack auf den Boden. Carl, er war es zweifelsfrei. Seinen Körper konnte Isabel unter einem weißen Laken nur erahnen. Mehrere Kabel und Schläuche verbanden ihn mit piepsenden Apparaten. Bildschirme zeichneten mit farbigen Linien Pulsfrequenz, Blutdruck und weitere Werte auf.
Isabels Herz krampfte sich zusammen, als sie Carl so liegen sah: blass und bar jedes Lebenszeichens. Energielos, abhängig, machtlos, ausgeliefert – der Zustand, der ihm am meisten verhasst war. »Carl«, flüsterte Isabel nun doch mit erstickter Stimme. Und nochmals voller Mitleid: »Carl.«
Immer noch starrte Isabel auf Carl, als sie plötzlich ein Schluchzen vernahm. Erstaunt drehte sie den Kopf. Am Nebenbett saß eine Frau, in sich zusammengesunken, und kramte in ihrer Handtasche. Isabel hatte die Frau bisher noch gar nicht bemerkt. »Guten Tag«, flüsterte sie ihr zu, denn sie traute sich nicht, laut zu reden.
Die Frau zückte ein Taschentuch, schnäuzte sich und blickte aus rotgeweinten Augen zu Isabel auf. Ein leises »Grüß Gott« kam über ihre bebenden Lippen. Bevor sie weiterreden konnte, betrat ein Mann in weißem Kittel den Raum. Er grüßte die beiden Frauen knapp und blieb vor Carls Bett stehen. Kurz musterte er Isabel und fragte: »Sind Sie eine nahe Verwandte?«
Isabel trat einen Schritt zur Seite. Der Kloß in ihrem Hals verhinderte eine Antwort. Sie faltete ihre Hände und nickte heftig.
»Doktor Held. Ich bin der Anästhesist«, stellte sich der Arzt vor, während er bereits zu den Geräten blickte und die Zahlenreihen auf dem Monitor kontrollierte. »Noch keine Reaktion, aber das will nichts heißen.«
Wieder zu Isabel gewandt, fuhr er fort: »Wir tun unser Möglichstes. Wir wissen nie genau, was ein Patient in welchem Stadium mitkriegt, und ebenso wenig, wie weit der Patient weg ist.«
Isabel blickte den Mediziner flehend an. Der vertiefte sich in seine Unterlagen und sagte: »Der Patient hat eine schwere Pneumonie, das Lungengewebe ist geschädigt.« Nach einer Pause fügte er in zuversichtlichem Ton hinzu: »Eigentlich hat der Patient gute Chancen. Er ist unterkühlt gerettet worden und wir haben im MRT kein Hirnödem entdeckt.«
Obwohl ihn sein Beruf wahrscheinlich täglich mit solchen Befunden konfrontierte, klang aus seiner Stimme Mitgefühl. Jetzt gelang es Isabel nicht mehr, ihre Tränen zurückzuhalten, und sie ließ ihnen freien Lauf.
Doktor Held fuhr sich durch die Haare, um mit dem unerwarteten Gefühlsausbruch besser umgehen zu können. Er räusperte sich und sagte: »Also jetzt lassen Sie mal den Kopf nicht hängen, junge Frau. Es sieht gar nicht so schlecht aus. Wir haben den Patienten in ein künstliches Koma versetzt, um den Erhalt der lebenswichtigen Funktionen besser steuern zu können.«
Ein hoffnungsfrohes Blitzen in ihren Augen verriet dem Mediziner, dass Isabel verstanden hatte. Nach einer kurzen Pause, in der Doktor Held nochmals seine Akte studierte, redete er weiter: »Der Mann ist noch relativ jung, wie es aussieht topfit, und er hat keine Vorerkrankungen. Der kann das schaffen. Wir tun jedenfalls, was wir können. Das verspreche ich Ihnen.«
Nach diesen Worten klappte er die Akte zu, warf einen kurzen Blick auf den anderen Patienten, schenkte der Frau neben dem Bett ein Lächeln und verließ das Zimmer.
Es war mucksmäuschenstill im Raum, nur das regelmäßige Piepsen der Überwachungsgeräte war zu hören. Isabel schaute zu der Frau hinüber. Sie saß auf ihrem Stuhl, drückte ein Taschentuch vor den Mund, weinte lautlos und starrte auf den Mann im Bett vor ihr. Isabel fiel nichts ein, was sie der Frau sagen könnte, und sie trat wieder einen Schritt näher an Carls Bett. Sie nahm allen Mut zusammen, mit zitternden Fingern hob sie das dünne Laken an und suchte nach Carls Hand. Ein Schauer schüttelte Isabel, als sie seine kalten Finger ertastete. Wie die Hand eines Toten, durchzuckte es sie. Nur kurz drückte Isabel die Hand und zog die ihrige dann schnell zurück. In Carls bleichem Gesicht erkannte sie nicht den Anflug einer Reaktion.
Isabel konnte es kaum ertragen, Carl so hilflos daliegen zu sehen, und zermarterte ihr Gehirn mit Selbstvorwürfen: Hätte sie doch bloß seinem Werben gleich zu Anfang, als sie ihren Dienst am See angetreten hatte, nicht nachgegeben. Wäre sie nicht schwach geworden, sondern sich und ihren Werten treu geblieben, er würde nicht hier liegen und leiden …
Sie fixierte seine geschlossenen Lider. Jedoch war es schließlich er, Carl, der sie verführt, der sie umgewendet hatte. Wieder geisterten einzelne Wörter des Gedichts der Lyrikerin durch ihr Gehirn: … Du wendetest mich um … schnell begann ich vor mir selbst zurückzuweichen … Bis ich ganz in dir aufgegangen war: Da spucktest du mich aus mit Haut und Haar …
Wie oft hatte Isabel ihren Treuebruch schon in den Wochen vor dem Unglück bereut, hatte das Verhältnis beenden wollen. Sie war zu inkonsequent gewesen, obwohl ihre Leidenschaft bereits bröckelte. Jetzt war es zu spät für diese Erkenntnis, und das Schuldgefühl schnürte Isabel die Brust zusammen. Außerdem empfand sie die Situation, an Carls Bett zu stehen und nichts tun zu können, mehr und mehr als beklemmend. Plötzlich betrat eine Krankenschwester das Zimmer.
»Ah, hallo«, sagte die Schwester in resolutem Ton, als sie Isabel bemerkte. Mit einer Hand drehte sie routiniert an den kleinen Kunststoffrädern der Infusionsflaschen, so dass die Tropfen schneller strömten. Dabei murmelte sie, ohne Isabel nochmals anzusehen: »Der Patient liegt in tiefem Koma. Mal sehen, ob da wieder was kommt. Machet Sie sich keine große Hoffnung. Der Mann war so lang hypoxisch. Allerdings … man weiß ja nie.«
Isabel zuckte zusammen, als die Worte an ihr Ohr drangen, und starrte die Schwester von der Seite an. Wie konnte jemand nur so wenig einfühlsam sein? Sie öffnete ihren Mund, wollte einwenden, Doktor Held habe eine viel positivere Diagnose gestellt, aber die Schwester schritt schon zum nächsten Bett, rüttelte dort kurz an einem Schlauch des Patienten und marschierte wieder zur Tür hinaus. Isabel sah ihr nach und dachte: Wahrscheinlich arbeitet sie schon lange auf der Intensivstation und sieht hier jeden Tag Elend und Leid. Bestimmt härtet das ab. Dann blickte sie wieder in Carls Gesicht. Seine Züge hatten sich nicht verändert. Kleine Fältchen zogen sich von den Augenwinkeln zum Haaransatz. Die Haare klebten am Kopf. An seinem Kinn das Grübchen. Wie oft hatte sie einen Finger hineingelegt, es mit der Zunge geleckt und danach mit geschlossenen Augen seine vollen Lippen gesucht. Jetzt waren sie blutleer und blass. Isabel horchte in sich hinein, spürte keinerlei Erregung aufkommen. Stattdessen meldete sich ihr Verstand: Ob Carl wohl eine Patientenverfügung hatte? Wer würde im Fall des Falles entscheiden, ob die Ärzte die Geräte abschalten durften? Isabel tastete instinktiv nach dem kleinen Ledermäppchen in der Außentasche ihres Rucksacks. Hatte Carl einen Organspenderausweis? Bestimmt nicht. Über so etwas hatte sich Carl sicherlich nie Gedanken gemacht. Hätte er sich doch bloß seine Tiefenangst eingestehen können. Hätte er ihr oder seinem Stellvertreter oder seiner Sekretärin, hätte er irgendjemandem seine Schwäche anvertraut, er läge nicht hier. Niemals wären die Kollegen auf die Idee gekommen, als Geburtstagsüberraschung für ihn ein Boot zu chartern, hätten sie von seinem Problem gewusst. Die Schuld lag nicht allein bei ihr.
Isabel seufzte. Wirre Gedanken schwirrten weiter durch ihre Sinne. Wieder vernahm sie die leise Stimme der Frau am zweiten Bett: »Fünf Tage ist das erst her. Das ist noch keine Zeit. Das Schicksal spielt manchmal ganz anders, als das medizinische Personal denkt.« Um Isabel zu trösten, fügte sie an: »Der Mensch denkt, und Gott schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.«
Ein Lächeln umspielte Isabels Mund, als sie sich der Frau zuwandte. Sie schätzte ihr Alter um die 50 Jahre. Sie saß am Bett eines Mannes, so viel konnte Isabel trotz des Kopfverbands erkennen. Auch er hing an mehreren Kabeln und Schläuchen, auch er bewegte sich nicht. Isabel sagte: »Danke. Hoffentlich haben Sie recht. Und Sie … warum sind Sie hier?«
»Mein Sohn hatte einen Motorradunfall. Er liegt schon seit drei Wochen im Koma«, schniefte die Frau. »Aber ich geb die Hoffnung nicht auf. Ich vertraue auf Gott und bete jeden Tag.«
Isabel betrachtete den bandagierten Kopf. Nur die Monitore mit ihren verschiedenen Kurven und das regelmäßige Fiepen zeigten an, dass der Mann lebte. Sie ist voller Gottvertrauen, so wie meine Mutter, erinnerte sich Isabel. Diese Zuversicht hatte ihrer Mutter geholfen, hatte sie manche Stürme des Lebens überstehen lassen. Nur über den Tod ihres Mannes, Isabels Vater, hatte ihr Glaube sie nicht hinwegtrösten können.
Isabel spürte das Bedürfnis, der Frau Mut zuzusprechen. Sie ging zu ihr, legte die Hand auf ihre Schulter und sagte leise: »Ihr Beten hilft bestimmt … ganz bestimmt hilft es.«
Die Frau griff mit ihren beiden Händen nach Isabels Hand, hielt sie fest umklammert und sah flehend zu ihr auf: »Ja, gell, der liebe Gott kann mir meinen Rolf doch nicht einfach nehmen. Das darf er doch nicht!«
Isabel war von dem Kontakt zu überrascht, um etwas sagen zu können. Es war das erste Mal seit Tagen, dass sie die Haut eines anderen Menschen berührte. Sie lächelte der Frau zu und schüttelte nur den Kopf. Dann entzog sie der Frau ihre Hand, trat ein paar Schritte zurück und stellte sich wieder an Carls Bett, diesmal an das Fußende. Von dieser Position aus erschien sein Antlitz noch schmaler und farbloser. Aus dem weißen Laken stachen die schwarzen Nasenlöcher mit den Schläuchen furchterregend hervor. Mit einem Mal glaubte Isabel, keine Luft mehr zu bekommen, überhaupt nicht mehr atmen zu können in dem Zimmer. Sie schnappte ihren Rucksack, warf nochmals einen Blick auf die Frau und verließ mit schnellen Schritten den Raum. Möglichst rasch wollte sie alles hinter sich lassen: Carl und die Klinik und Allensbach und ihre Vergangenheit …
Schon lief Isabel wieder auf die Glastür zu, die die Intensivstation von dem langen Flur trennte. Diesmal öffnete sich die Tür nicht automatisch wie beim Eintreten, und Isabel stieß mit dem Kopf gegen das Glas. Ein leises »Aua!« kam ihr über die Lippen und sie drückte eine Hand gegen die schmerzende Stirn. Wie soll ich bloß hinauskommen? Mit Grausen dachte sie daran, hier drinnen eingesperrt zu sein. Da entdeckte sie an der Wand auf der rechten Seite einen Türöffner. Sie drückte ihn, doch nichts geschah, der Ausgang blieb verschlossen. Jetzt erst bemerkte Isabel unter dem Türöffner ein Kästchen mit Zahlen und Zeichen. Die Tür war also mit einem Code gesichert. Während sie noch ratlos die Nummern fixierte, näherte sich auf der anderen Seite ein junger Mann. Die Tür öffnete sich. Er kam herein und nickte Isabel freundlich zu. Sie nutzte blitzschnell die Chance, um hinauszuhuschen und die Station zu verlassen.
Geschafft! Draußen atmete sie erst einmal tief ein, hielt den Atem an, um anschließend lange auszuatmen. Kurz blickte sie zurück und eilte dann den Flur entlang zum Ausgang. Beinahe hätte sie den Karren einer Raumpflegerin umgestoßen, und erst als Isabel im Freien war, stoppte sie. Voller Dankbarkeit streckte sie das Gesicht der Sonne entgegen. Sie schloss die Augen und sog die warme, klare Luft ein. Ein blumiger Duft strömte in ihre Nase und belebte ihre Sinne. Sie, Isabel, atmete aus eigener Kraft. Sie konnte gehen, sich bewegen, rennen, denken, sprechen, fühlen, konnte essen, riechen, hören, sehen … Isabel öffnete die Augen wieder, nahm endlich die Blumenpracht um sich herum wahr. Sie sah den Bienen, Hummeln und Wespen zu, die sich an den bunten Blüten labten. Sie genoss das laue Lüftchen, das über ihr Gesicht strich und die Blätter der exakt zurechtgeschnittenen Bäume rascheln ließ. Sie lebte. Sie durfte die Schönheit um sich herum wahrnehmen. Sie hatte die Chance, noch einmal ganz neu anzufangen, sie konnte in ein neues Leben starten. Dieses Bewusstsein beflügelte Isabel, gab ihr neue Kraft und neuen Mut. Sie spürte ihren wiedererwachten Lebenswillen in jede Zelle ihres Körpers vordringen. Doch zuallererst wollte sie eines: ihre Freundin Lena treffen, und zwar sofort. Nichts liegt näher, als gleich ins nahe Konstanz zu fahren, dachte sie.
Kapitel 4
Isabel saß im Bus von Allensbach nach Konstanz und blickte über den See, der zu ihrer Rechten vorbeizog. Das große Wasser machte ihr nicht mehr Angst, vielmehr sorgte die natürliche Weite dafür, dass ihr Innerstes sich beruhigen und ihr Herz wieder weit werden konnte.
Am Abend nach dem Unglück war Isabel nicht zu Thomas nach Hause gegangen. Entgegen dem Rat der Rettungssanitäter, sich im Krankenhaus untersuchen zu lassen, hatte sie, durcheinander wie sie war, die Katamaranfähre bestiegen und war von Friedrichshafen nach Konstanz zu ihrer Freundin gefahren. Im Nachhinein wunderte sie sich selbst, dass sie damals ein Boot ohne Hemmungen hatte besteigen können. Später war ihr klar geworden, dass sie zu der Zeit in völligem Schockzustand funktionierte. Panik und Angstzustände kamen erst hinterher.
Lena hatte sie aufgenommen, ohne lange zu fragen, und zu Bett gebracht. Thomas hatte sie nur eine kurze Nachricht über WhatsApp geschickt. Eine Nacht und einen halben Tag lang hatte die Freundin bei ihr ausgeharrt, ihr zugehört, sie in den Arm genommen und erst losgelassen, als die Weinkrämpfe aufgehört und die Tränen versiegt waren. Lena, die ohnehin von der Affäre mit Carl wusste, hatte Isabel alles erzählen können. Nur ihr. Am nächsten Tag hatte Lena sie nach Friedrichshafen zurückgebracht und dem völlig ahnungslosen Thomas übergeben.
Lena staunte, als Isabel nun unangemeldet in ihrer Praxis auftauchte: »Du bist wieder auf den Beinen? Und hier in Konstanz? Warum hast du nicht gesagt, dass du kommst?«, begrüßte sie die Freundin.
»Hab mich ganz spontan entschlossen. Hast du überhaupt Zeit?«, fragte Isabel.
»Bald. Lass dich erst mal umarmen.« Dicht an Isabels Ohr flüsterte Lena: »Ich bin gerade mitten in einem Patientengespräch. Wenn das Telefonat beendet ist, haben wir Zeit, bis ich Ben aus der Kita holen muss.« Sagte es und schielte hinüber in ihr Behandlungszimmer. Dann drückte sie die Freundin von sich und fügte hinzu: »Setz dich einen Moment und nimm dir was zu trinken.« Damit verschwand Lena noch einmal im Zimmer nebenan.
Was würde ich bloß machen ohne Lena, dachte Isabel in einem Anflug von Verzweiflung. Sie kannte Lena länger als jeden anderen Menschen auf der Welt – abgesehen von ihrer Schwester Katharina, die allerdings vor Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte. Ihrer Schwester war Isabels Beamtendasein zu spießig. Sie wusste nicht einmal, wo Katharina sich gerade aufhielt, ob sie noch studierte oder ins Berufsleben eingetreten war. Und doch verdankte Isabel ihrer Schwester, dass sie seinerzeit Thomas kennengelernt hatte, als sie Katharina in Freiburg besucht hatte.
Bis Isabel bei Thomas eingezogen war, hatte sie in Tübingen lange Zeit eine Wohnung mit Lena geteilt. Obwohl Lena einige Jahre älter war – in wenigen Tagen erreichte sie das Schwabenalter – verband sie eine innige Freundschaft. Diese Verbindung war so stark, dass sie auch die räumliche Distanz, die durch Lenas Umzug nach Konstanz entstand, unbeschadet überdauert hatte. Lena war ihr vorausgeeilt: Sie hatte die berufliche Chance, in Konstanz in eine Praxis von Psychotherapeuten einzusteigen, auch genutzt, um sich in aller Freundschaft vom Vater ihres Sohnes Ben zu trennen. Damit hatte Lena geschafft, was sie selbst bis zum heutigen Tag nicht hinbekam: Mutig hatte sie diese Entscheidung getroffen, und dafür bewunderte Isabel sie. Ben war, neben Lenas Berufstätigkeit und Isabels Schichtdienst, der Grund, warum sie sich nicht mehr wie früher einfach mal spontan trafen und sich gemeinsam eine Nacht um die Ohren schlugen.
Isabel hatte jahrelang die Praxisräume nicht mehr betreten und schaute sich um. Den Ficus benjamini kannte sie schon aus Tübingen. Seine Blätter streiften inzwischen die Zimmerdecke. Bilder mit Sinnsprüchen und Alltagsweisheiten an den hellgelb gestrichenen Wänden verliehen dem Wartezimmer wohltuende Wärme. Isabel ging von einer Tafel zur anderen und überflog die Zeilen: ›Probleme, die man konsequent ignoriert, verschwinden nur, um Verstärkung zu holen‹, stand da neben einem Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckte. Aha, dachte Isabel und las den nächsten Text, bei dem der Betrachter durch ein Schlüsselloch schaute: ›Halte durch, liebes Herz. Es regelt sich gerade alles neu.‹ Isabel schmunzelte und dachte: Wenn es damit getan wäre … Ihre Augen wanderten weiter. Mitten in einem roten Herz stand: ›Mach es dir zur Aufgabe, dich gut um dich selbst zu kümmern.‹ Das hörte sich alles richtig an, wenn es doch auch so einfach einzuhalten wäre …
Isabel setzte sich mit einem Seufzer auf einen Stuhl und kramte die Zeitung aus ihrem Rucksack, die sie im Zug eingesteckt hatte. Ein weiteres Mal überflog sie die Zeilen, und wieder beschleunigte sich ihr Herzschlag merklich:
… Zwei Personen – dem Vernehmen nach ein Mann und eine Frau – hatten sich unter Deck befunden. Sie mussten Fensterscheiben zertrümmern, um sich aus dem sinkenden Schiff zu befreien. Einer der beiden Personen gelang es nicht, aus eigener Kraft an die Oberfläche zu schwimmen. Sie wurde mit in die Tiefe gerissen, konnte aber …