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Horst war verblüfft. All diese Informationen und jetzt diese entschiedene Feststellung! Donnerwetter! Gerade wollte er zu einer Antwort ansetzen, da legte ihm Mägerle die Hand an den Oberarm: »Da hinten kommt jemand! Besser für meinen Job, wenn man uns nicht zusammen sieht!« Und schon war er verschwunden!
Die Stimme, die von ferne an sein Ohr drang, kam Horst bekannt vor: »Ach; da sind Sie! Und wir warten bereits seit fünf Minuten auf Sie!« Aha – Hofer war also auch mit von der Partie beim fröhlichen Schlachtfest! Er hätte es sich ja eigentlich denken können!
Aufmunternd versetzte er Protnik, der mit sorgenvoll-zerfurchter Stirn neben ihm stand, einen Klaps auf die Schulter: »Komm, Kollege! Bringen wir’s also hinter uns!«
22
Nach dem genauso exzellenten wie sündhaft teuren Abendessen (das würde kein billiger Urlaub werden, dessen war sich Horst mittlerweile schmerzhaft bewusst geworden!) waren sie mit der Autofähre von Konstanz nach Meersburg über den Bodensee zurückgefahren. Die verwunderten Blicke, mit denen Protniks verbeulter Astra mehr als einmal bedacht worden war, hatten sie geflissentlich ignoriert.
Stumm hingen sie ihren Gedanken nach, während sie über die von einem leuchtenden, gelblich-weißen Vollmond beschienene, beinahe glatte schwarze Fläche des Bodensees dahinglitten. Das Donnerwetter in der Chefetage der Polizei war genauso verlaufen, wie sie das erwartet hatten: laut, heftig und unangenehm. Der Konstanzer PD-Chef – ein unangenehmer Zeitgenosse namens Ströbel mit stechenden, gelbgrünen Augen und dem massigen Körperbau eines Preisboxers – hatte zur Begrüßung nur kurz und kühl mit dem Kopf genickt, bevor er dem an der Telefonanlage neben dem Schreibtisch lauernden Schlotterbeck einen Wink gab: »Wir können also!«
Der drückte grinsend auf einen Knopf an der Anlage und legte den Hörer auf. »Sie sind da, meine Herren!«
Aha, schoss es Horst durch den Kopf, offensichtlich hatte man eine Telefonkonferenz geschaltet! Bevor er jedoch über die möglichen Teilnehmer hatte spekulieren können, war das Gewitter via Telefon auch schon losgebrochen. Steiner und Krauter, die beiden Chefs der Polizeidirektionen, in denen Horst und Protnik beschäftigt waren, meldeten sich in einer anscheinend vorher bereits festgelegten Reihenfolge nacheinander zu Wort und brachten ihr Missfallen über die Vorgänge der letzten Woche derart unmissverständlich zum Ausdruck, dass Horst sich fragte, ob man sich nicht die Telefongebühren hätte sparen können. Bei der Lautstärke müsste jetzt eigentlich halb Baden-Württemberg darüber Bescheid wissen, dass Horst und Protnik in diesem Augenblick nach allen Regeln der Kunst von ihren Chefs abgewatscht wurden!
Die beiden an den Pranger gestellten Kommissare blieben während der gesamten Prozedur erstaunlich gelassen, was sicherlich mit der Tatsache zusammenhing, dass sie durch den hastig anberaumten Freitagabend-Termin im Prinzip ja schon auf die Abreibung vorbereitet waren. Und ändern konnte man an den Tatsachen sowieso nichts! Außerdem war klar: Jeder Versuch einer Verteidigung würde beim jetzigen Stand der Dinge als Meutereiversuch gewertet und dementsprechend abgestraft werden! Also bewahrte man besser die Ruhe und stellte die Ohren auf Durchzug, soweit das angesichts der enormen Phonzahl, die da durch den Lautsprecher der Telefonanlage dröhnte, überhaupt möglich war. Das waren die Momente, in denen sich Horst zum wiederholten Mal fragte, welcher Teufel ihn denn damals geritten hatte, die Polizisten- beziehungsweise damit auch die Beamtenlaufbahn einzuschlagen! Irgendwann, das schwor er sich in solchen Augenblicken, irgendwann würde er den Bettel hinwerfen und seinen Lebenstraum verwirklichen: Bergsteiger auf den Malediven werden. Unwillkürlich musste er bei dem Gedanken daran, wie hoch der höchste Berg der Inselgruppe wohl sein mochte, fünf Meter, zehn Meter oder womöglich gar 20 Meter, lächeln. Die Reaktion darauf folgte auf dem Fuß: »Sie brauchen gar nicht so zu grinsen, Meyer!«, hatte ihm der Chef der Konstanzer Direktion mit hochrotem Kopf ins Gesicht geschleudert, »Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen!«
In der Tat war der Eintrag in die Personalakte und die damit verbundene Abmahnung ein gravierender Tatbestand. Und die beiden Kollegen wussten: Jetzt genügte der geringste Anlass, dann folgte die nächste Abmahnung und das konnte bedeuten, dass Horst seinem Lebenstraum schneller näher rückte, als er das eigentlich vermutet hätte. Es war sicherlich kein Fehler, erst einmal den Personalrat einzuschalten, wenn er wieder in Heilbronn zurück war. Und Protnik wäre gut beraten, dasselbe zu tun. Außerdem musste der bei der Polizeigewerkschaft nachfragen, ob die das überhaupt so einfach …
»So, alter Knabe«, Protnik war zu ihm an die Reling getreten und hatte ihm mit seiner Pranke einen aufmunternden Klaps auf die Schulter versetzt, »dann wollen wir mal den Tag zu Ende bringen!« Und damit deutete er auf die direkt vor ihnen auftauchenden Lichter der Hafeneinfahrt des Meersburger Fährhafens. »Kommt!«, wandte er sich auch an die neben ihnen stehende Claudia. »Wir müssen wieder ins Auto zurück, die legen gleich an! Würde mich übrigens nicht wundern, wenn wir bei der Ausfahrt gleich von der Polizei in Empfang genommen werden«, setzte er mit einem frustrierten Blick auf die zerbeulten Reste dessen, was einmal seinen blitzblank gewienerten und gepflegten Wagen dargestellt hatte, hinzu. »Habt ihr gesehen, wie die anderen uns angeglotzt haben, als wir ausgestiegen sind? Die haben sicher gleich die Polizei angerufen und gesagt, da sind ein paar Typen auf dem Schiff, die haben grade einen Crash gebaut!«
Horst rollte die Augen. »Also ehrlich gesagt habe ich für heute und für die ganze Woche Polizei genug genossen! Ich glaube, das war mehr als eine Überdosis! Mir reicht’s jetzt wirklich!«
Damit setzte sich der Wagen in Bewegung und rumpelte langsam über den stählernen Bug der Fähre auf die Straße.
»Sag mal«, Claudia sah ihren Mann fragend an und deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die Meersburger Unterstadt direkt neben dem Fährhafen. »Hat der Thomas nicht da drüben gewohnt?«
Horst durchlief ein eisiger Schauder. Thomas! Schon bei der bloßen Erwähnung des Namens zuckte er zusammen. Traurig nickte er mit dem Kopf. »Stimmt! Da drüben, in der Wohnung neben dem Torbogen. Da, wo das Licht noch brennt!« Er spähte hinüber zu dem Fenster, hinter dem noch vor ein paar Tagen sein Freund Thomas Grundler gewohnt hatte.
»Arme Susanne!«, murmelte Claudia. »Was sie wohl gerade macht? Anscheinend kann sie nicht schlafen! Du«, damit drehte sie sich wieder zu Horst hinüber. »Sollten wir sie nicht morgen einmal besuchen? Was meinst du?«
Horst streckte abwehrend die Hände von sich. »Lieber nicht! Ehrlich gesagt habe ich immer nur Kontakt zu Thomas gehabt. Mit Susanne bin ich nie so richtig warm geworden. Und seitdem die ihre Ehekrise hatten, habe ich sie sowieso nicht mehr gesehen. Im Nachhinein ist mir schon klar, weshalb sie nie zu Hause war, wenn ich Thomas mal besucht habe. Aber der ist erst bei unserem letzten Treffen mit der Sprache rausgerückt und jetzt«, er schüttelte betrübt den Kopf, »jetzt ist es ja sowieso zu spät!«
»Na ja, dann lassen wir’s eben!« Claudia nickte. »So angenehm sind Kondolenzbesuche auch wieder nicht! Ich habe nur gedacht, falls du sie näher gekannt hättest … Ich selber habe sie ja nur ein einziges Mal getroffen …«
Horst nahm Claudias Hand und drückte sie sanft. »Ist schon recht! Ist ja nett von dir! Aber mir wird’s, ehrlich gesagt, ganz anders im Magen, wenn ich nur an die Beerdigung denke …«
Claudia erwiderte den Händedruck leicht. »Klar! Das verstehe ich! Steht denn schon ein Termin fest?«
Horst wiegte den Kopf. »Also gelesen habe ich noch nichts. Ich denke aber, das müsste am Dienstag oder am Mittwoch sein! Jetzt, wo sie die Leiche freigegeben haben, wie man uns heute erzählt hat. Nachdem es offiziell ein Selbstmord war …«, fügte er bitter hinzu.
Protnik musterte ihn fragend aus dem Rückspiegel. »Sag mal, Horst! Hat der Thomas eigentlich Kinder gehabt?«
»Nein! Er wollte zwar immer Kinder, aber Susanne war offenbar dagegen. Im Nachhinein: Gott sei Dank! Nicht das auch noch!«
Der Wagen verlangsamte seine Fahrt und stoppte kurz darauf vor dem Eingang des Parkhotels. Überrascht sah Horst auf. »Wir sind ja schon da! Das ist aber schnell gegangen!«
»Na ja«, Protnik machte eine abschätzende Handbewegung. »Für mich ist der Abend noch nicht ganz vorbei. Ich muss noch ein gutes halbes Stündchen weiterfahren – zurück zum Wildenstein!«
»Blödsinn!«, widersprach Horst. »Du kommst jetzt mit und wir schauen, ob die noch ein Zimmer für dich haben. Und wenn nicht, dann schmuggeln wir dich zu uns mit rein und legen dich halt bei uns aufs Sofa! Du fährst mir nach dem Tag jetzt nicht mehr!« Energisch winkte er Protnik mitzukommen.
Doch der schüttelte entschieden den Kopf. »Kommt gar nicht infrage! Die paar Kilometer schaffe ich schon noch und Millionär bin ich auch keiner«, lächelte er mit einem vielsagenden Blick auf die mit dickem rotem Teppich ausgelegte Eingangshalle des Parkhotels. »Und als Bettwurst bin ich wahrscheinlich auch nicht unbedingt zu gebrauchen! Nein, danke fürs Angebot, aber das schaffe ich schon noch!« Wie zur Unterstützung seiner Worte ließ er den Motor kurz aufheulen.
Claudia, die bei dem Gedanken an eine Nacht zu dritt, mit Protnik in einem Zimmer, leicht zusammengezuckt war, schien erleichtert. »Na gut, dann eben nicht!«, erwiderte sie. »Wann sehen wir dich dann wieder?«
Protnik wiegte den Kopf. »Wie wär’s mit morgen am späten Nachmittag? Dann könnte ich nämlich vorher mal richtig ausschlafen – sofern das auf einer Jugendherberge wie dem Wildenstein überhaupt möglich ist«, setzte er hinzu. Nach Horsts Meinung durchaus zu Recht: in Sachen Ausschlafen wäre er vorsichtshalber skeptisch! Protnik schien zu überlegen. »Aber wie gesagt: so gegen Nachmittag, sagen wir 16 Uhr? Wie wär’s da mit einem Eis auf der Meersburger Promenade?«
»Einverstanden!« Claudia fand den Vorschlag akzeptabel. »Aber lass es uns um eine Stunde nach hinten verschieben, dann können der Horst und ich vorher noch schön ins Ostbad gehen. Da war ich schließlich schon ewig nimmer. Da freue ich mich schon die ganze Woche darauf!«
»Meinetwegen – ist mir auch recht! Dann kann ich vorher noch eine Runde mit dem Fahrrad im Donautal drehen! Gut – also 17 Uhr! Und wo treffen wir uns?«
»Ach, das ergibt sich! So groß ist die Promenade in Meersburg auch wieder nicht. Ich würde sagen, wer zuerst da ist und einen Platz findet, reserviert für die anderen. Wir werden einander schon finden!«
Protnik war überzeugt. »Also gut. So machen wir’s. Morgen Nachmittag um 17 Uhr irgendwo in irgendeinem Eiscafé in Meersburg, vorne am Wasser! Also: jetzt muss ich aber los! Macht’s gut, ihr beiden!« Damit legte er den Gang ein und fuhr los.
»Armer Protnik!« Claudia warf dem zerbeulten Wagen einen mitfühlenden Blick hinterher. »Wo er doch immer so stolz auf sein Auto war und jeden Zentimeter poliert hat! Tja …«, Horst wusste, was jetzt kommen würde – und es kam: »… wenn man euch beide einmal alleine lässt!« Kopfschüttelnd nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich in die Eingangshalle des Parkhotels.
23
Der nächste Morgen begann vielversprechend. Gleißend heller Sonnenschein drang durch die Vorhänge in das Hotelzimmer. Zufrieden gähnend streckte sich Horst auf dem Bett aus. »War das schön! Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier!« Er drehte sich in Claudias Richtung und tastete mit dem Arm auf die andere Seite. Doch außer der Bettdecke spürte er nichts. Verdutzt richtete er sich auf und stierte auf das leere Bett neben ihm. Claudia war anscheinend schon längst aufgestanden.
»Na, du Siebenschläfer!« Grinsend kam sie aus dem Badezimmer – fix und fertig angekleidet, geschminkt und frisiert. »Das wird ein wunderschöner Tag heute – Zeit zum Aufstehen!« Energisch ging sie zum Fenster und zog die Vorhänge zurück.
Horst blinzelte seiner Frau unsicher zu. »Du meine Güte, bist du aber ungemütlich. Da habe ich mich auf ein entspanntes, stressfreies, gemütliches Aufwachen gefreut, und jetzt tobst du schon im Zimmer herum wie aufgedreht!« Er streckte die Arme weit auseinander. »Komm doch erst mal zu mir und lass dich drücken!«
Doch Claudia schüttelte energisch den Kopf. »Kommt überhaupt nicht infrage! Jetzt wird aufgestanden, aber zack-zack! Der Tag ist viel zu schön, als dass man ihn im Bett verbringen sollte! Außerdem ist heute Samstag, da ist sicher nachher im Strandbad die Hölle los. Also, wenn wir nicht um spätestens 11 Uhr dort sind, dann kriegen wir mit Sicherheit keinen Parkplatz mehr.« Sie warf einen kritischen Blick auf ihre Armbanduhr. »Da, bitte. Jetzt ist es schon halb neun. Höchste Zeit, aufzustehen! Das Frühstück wartet!« Damit packte sie Horsts Bettdecke und zog sie auf den Boden.
Der stöhnte gequält. »Halb neun! Ich fasse es nicht! Und das mitten im Urlaub!« Wieder streckte er die Arme aus. »Komm doch erst mal zu mir und gib mir einen Guten-Morgen-Kuss!«
Doch da war nichts zu machen! Wieder Kopfschütteln! »Nichts da! Raus aus den Federn! Außerdem habe ich mir heute Nacht überlegt, dass wir nach dem Frühstück noch zu Frieder nach Nußdorf fahren müssen! Dem sollten wir eine gute Flasche Wein mitbringen, um den Schaden, den du da angerichtet hast, wenigstens einigermaßen wiedergutzumachen! Und dann können wir ja auch nicht gleich wieder verschwinden, das heißt: Das alles kostet eine Menge Zeit! Und ums Rumgucken ist es dann 11 Uhr und der Strandbad-Parkplatz ist megavoll!« Streng blickte sie auf ihren Ehemann herunter und verzog leicht ihre Mundwinkel. »Mein Mann, das unbekannte Wesen! Kaum allein, schon demoliert er Autos und Wohnwagen, vergrault seinen besten Freund und lässt sich eine Abmahnung verpassen: mitten im Urlaub! Und nebenbei ersäuft er auch noch fast im Bodensee! Also!«, sie machte eine energische Handbewegung, »raus jetzt zum Essenfassen! Auf, zu neuen Taten!«
Mit einem Seufzer ergab sich Horst in sein Schicksal und schwang sich aus dem Bett. »Damit die arme Seele Ruhe hat!«
Wenn er gewusst hätte, wie stürmisch dieser Tag verlaufen würde – keine zehn Pferde hätten ihn dann aus der Koje gebracht!
24
Mit leicht erhöhtem Puls bog Horst in Nußdorf um die Kurve, hinter der sich das Gelände des Bauernhofes befand, in dem Frieder seinen Wohnwagen abgestellt hatte. Hoffentlich hatte der sich in der Zwischenzeit einigermaßen beruhigt und überdies seine Rostlaube wieder herstellen können. In einem Überlinger Getränkehandel am Burgberg hatten sie extra noch drei Flaschen Rotwein besorgt, Frieders Lieblingsmarke, um sich den gefrusteten Wohnwagenbesitzer damit wenigstens wieder ein wenig gewogen zu machen.
»Mit Speck fängt man bekanntlich Mäuse!«, hatte Claudia verlauten lassen und ihrem Gatten gleichzeitig einen strengen Blick zugeworfen, als der nach einem Überprüfen der Preisschilder am Rotweinregal des Getränkemarktes zu bemerken gewagt hatte, dass er eigentlich schon zu Beginn seines Aufenthaltes am Bodensee in weiser Voraussicht eine ganze Batterie Lemberger trocken im Wohnwagen gelagert hätte. Und seiner Meinung nach brauche man sich da doch bloß aus dem bestehenden Vorrat zu bedienen und dem Frieder drei Flaschen davon in die Hand zu drücken. »Kommt überhaupt nicht infrage, die Sparaktion da! Was ist das denn für ein Bild, wenn wir mit leeren Händen vor dem Frieder auftauchen!«
»Aber der hat doch im Wohnwagen …«, ein weiterer Blick von Claudia genügte, um Horst verstummen zu lassen. Ergeben fügte er sich fürderhin in sein Schicksal, auch wenn ihm die 49,90 Mark (Sonderangebot hatten die das genannt!) für drei Flaschen Lemberger trocken, Heilbronner Staufenberg Spätlese, doch reichlich heftig erschienen waren. Hätte er den Frieder doch vor Jahren bei seinem Trollinger im wahrsten Sinn des Wortes versauern lassen: die Literflasche um 4,50 Mark (und das auch noch inklusive Pfand)! Aber nein, er hatte ja im Überschwang seiner Heilbronner Lemberger-Begeisterung gemeint, ihn unbedingt bekehren zu müssen! Selber schuld! Das hatte er nun davon!
Sie stellten den Wagen am Haus des Bauernhofes ab und Horst nahm die drei Flaschen vom Rücksitz. In diesem Moment wurde die Tür des Hauses geöffnet und der Besitzer des Stellplatzes kam eilfertig auf die Meyers zu. »Herr Meyer, Herr Meyer! Da sind Sie ja endlich!« Aufgeregt wedelte er dabei mit einem Briefumschlag in der Luft herum.
Verdutzt schauten sich die beiden an. Hatten sie denn eine Verabredung mit dem Bauern gehabt oder weshalb hatte der es denn plötzlich so eilig?! Der war doch sonst nicht gerade von der schnellen Truppe!
»Da schauen Sie, das ist gestern für Sie abgegeben worden!« Hektisch deutete er dabei mit dem Zeigefinger auf den Briefumschlag. »Ein Brief für Sie! Und wenn ich nicht zufällig da gewesen wäre, dann hätte ihn der Briefträger wieder mitgenommen! Weil der doch Ihren Namen gar nicht gekannt und deshalb gemeint hat, er sei falsch adressiert gewesen! Aber da bin ich gerade noch rechtzeitig dazugekommen und habe ihm dann auch gleich sagen können …«
Horst unterbrach den Wortschwall seines Gegenübers: »Ein Brief? Für mich? Sind Sie sicher?«
Der Bauer nickte heftig. »Natürlich für Sie! Horst Meyer, Kriminalkommissar! Das sind Sie doch, oder?« Kumpelhaft kniff er mehrfach sein rechtes Auge zu, wie um Horst Vertraulichkeit zu signalisieren.
Der jedoch war immer noch nicht überzeugt. »Komisch! Wer weiß denn schon, dass ich hier bin? Lassen Sie mal sehen!« Damit nahm er den Briefumschlag in die Hand und betrachtete ihn eingehend.
»Tatsächlich – Horst Meyer, Kriminalkommissar, zurzeit Nußdorf …«
»Von wem ist er denn?«, mischte sich nun auch Claudia in die Debatte ein.
»Keine Ahnung!« Horst drehte den Briefumschlag um, aber auch da war kein Absender zu finden. »Hmm«, schnaubte er ärgerlich. »Das haben wir ja gern! Auch noch ein anonymer Absender!«
»Vielleicht steht der drin, lassen Sie mal sehen!« Der Bauer schien gespannt zu sein wie ein Flitzebogen und machte Anstalten, Horst den Brief wieder aus der Hand zu nehmen.
Der Kommissar bemerkte das Vorhaben noch rechtzeitig und drehte sich mit dem Oberkörper rasch in Richtung Claudia. »Mal sehen«, brummte er und riss den Briefumschlag mit dem Zeigefinger auf. Angestrengt starrte er auf das zusammengefaltete Briefpapier, auf dessen linker oberer Ecke der Absender in kaum leserlicher winziger Kursivschrift eingedruckt war. Er musste das Blatt näher an die Augen halten, um die Schrift entziffern zu können. Wahrscheinlich war es allmählich doch so weit, dass er eine Brille brauchte! Er stieß ein ärgerliches Grunzen aus, aber da war halt wohl nichts zu machen.
»Oh!« Claudia hatte den überraschten Ausruf von sich gegeben. Sie und Horst hatten praktisch gleichzeitig registriert, um wen es sich beim Absender des Briefes handelte.
»Das ist doch der, den ihr gestern …«
Gerade noch rechtzeitig legte Horst den Zeigefinger an die Lippen und ließ Claudia einen warnenden Blick zukommen.
Ein eiskaltes Grausen überfiel ihn. Der Brief eines Toten, adressiert an ihn, Horst Meyer. Ein Brief von gestern oder vorgestern, obwohl sie noch vorgestern ausgemacht hatten, sich gestern treffen zu wollen. Doch da war es schon zu spät gewesen! Der Brief stammte von Alex Winter, dem Journalisten, der offenbar mehr gewusst hatte, als seiner Gesundheit zuträglich gewesen war …
Hastig überflog er den mit engem Zeilenabstand in sichtlicher Zeitnot geschriebenen Brief. Danach ließ er die Hand, in der er den Brief gehalten hatte, sinken und atmete tief durch. Claudia schaute ihn betroffen an, sagte aber nichts, sondern ließ ihm Zeit, um das gerade Gelesene zu verarbeiten.
»Na, Herr Meyer, alles klar?« Forschend blickte ihm der Bauer ins Gesicht und schreckte Horst so aus seinen Gedanken.
Ohne auf die Frage einzugehen, nickte er Claudia eine stumme Aufforderung zu und drehte sich um. Nur Sekunden später schoss der Wagen der Meyers mit aufheulendem Motor um die Kurve zurück in Richtung Überlingen, gefolgt von einem verwunderten Kopfschütteln des Stellplatzvermieters. »Leute gibt’s …« Na ja, der sollte bloß noch einmal kommen und irgendwas von ihm wollen! Damit schlurfte der Bauer ins Haus zurück! Und dem Frieder mit seinem Wohnwagen, mit dem würde er auch noch ein Hühnchen zu rupfen haben: also solche Typen, unfreundlich und außerdem noch schlampig – man musste ja bloß an das kaputte Fenster denken – die brauchte der einem nicht mehr anzuschleppen! Nicht auf seinem eigenen Grund und Boden! Sonst war Schluss mit der Wohnwagenherrlichkeit, aber ruckzuck!
Wenige Hundert Meter hinter dem Bauernhof brachte Horst den Wagen wieder zum Stehen. »So ein neugieriges Aas aber auch! Der hätte mir glatt den Brief aus der Hand genommen und hinterher im ganzen Dorf herumerzählt, was da drinsteht!« Mit einer entschiedenen Handbewegung holte er das Handy aus dem Handschuhfach und sah Claudia entschuldigend an. »Tut mir leid, aber jetzt muss ich die Lawine ins Rollen bringen. Okay?«
Claudia nickte. »Verstehe ich! Das muss jetzt schnell gehen! Aber unter einer Bedingung: Ich lasse mich nicht wieder absetzen wie gestern, wie einen nassen Sack! Ich komme mit!«
»Aber …« Doch Horsts Widerspruch wurde schon im Keime erstickt.
»Ich komme mit und damit basta!« Da war nichts mehr zu machen – und ehrlich gesagt – warum denn eigentlich nicht?
Horst tastete nach einem Zettel, der ebenfalls im Handschuhfach deponiert war. »Also gut, abgemacht! Dann sag mir doch gleich mal die Nummer, die auf dem Zettel steht!«
Er tippte die Ziffern, die Claudia ihm nannte, in sein Handy. Dann drückte er die grüne Wähltaste. Es dauerte nur Sekunden, bis sich am anderen Ende der Leitung die Vermittlung der Polizeidirektion Konstanz meldete. »Ihren Chef, bitte, den Herrn Ströbel! Oder seinen Stellvertreter! Und schnell, bitte! Es ist dringend!«
25
Als Horst und Claudia eine knappe Stunde später vor dem Büro des Kiesunternehmens in Gottmadingen eintrafen, erfassten sie mit einem Blick, dass hier schon seit geraumer Zeit ganz offensichtlich die Hölle los war. Die Polizei in Konstanz hatte nach Horsts Gespräch mit Polizeioberrat Ströbel anscheinend blitzschnell reagiert. Ein halbes Dutzend Streifenwagen mit blinkenden Blaulichtern, flankiert von gut noch einmal einem halben Dutzend ziviler Einsatzfahrzeuge, standen kreuz und quer auf der Straße vor der Firma und hatten die Einfahrt zum Bürotrakt der »Bodenseekies« hoffnungslos blockiert.
»Das war aber Maßarbeit!«, murmelte Horst überrascht, nachdem er sich einen ersten Überblick über die Situation verschafft hatte. Er deutete auf uniformierte Polizeibeamte, die, bis unter das Kinn beladen, Hunderte von Aktenordnern aus dem Büro herausschleppten und sie in ihren Fahrzeugen verstauten. »Die scheinen ja einen Staatsanwalt von der ganz fixen Truppe gehabt zu haben, wenn der innerhalb von nicht mal einer Stunde einen Durchsuchungsbefehl unterschreibt und sich die Truppe dann auch schon in Marsch setzt! Donnerwetter!«
Auch Claudia schien beeindruckt. »Donnerwetter! Als wenn sie regelrecht in den Startlöchern gestanden und nur auf deinen Anruf gewartet hätten!«
»Stimmt! Das ist mir als Erstes auch durch den Kopf geschossen, als ich das hier gesehen habe. Also eines wird mir immer klarer: Da stinkt es irgendwo ganz gewaltig und ich fürchte«, damit drehte sich Horst zu Claudia herum und musterte sie ernst, »ich fürchte, der Gestank kommt nicht nur aus dieser Tür heraus!«
Claudia nickte zustimmend. »Da scheinst du recht zu haben. Aber ich bin gespannt, was jetzt als Nächstes passiert!«
Sie erfuhr es augenblicklich: Im selben Moment nämlich stürmte der Preisboxer, der Horst und Protnik gestern Abend nach allen Regeln der Kunst einen Kopf kürzer gemacht hatte, aus der Tür des Bürogebäudes, gefolgt vom inzwischen wohlbekannten Duo Hofer/Schlotterbeck, und musterte die beiden Neuankömmlinge finster.
»Na, da haben Sie schwer etwas losgetreten«, bellte er Horst ins Gesicht, ohne sich auch nur im Geringsten um irgendeine Begrüßungsfloskel zu bemühen. »Ich kann Ihnen sagen: Wenn das alles eine Ente gewesen ist, dann Gnade Ihnen Gott, dann können Sie künftig Mülltonnen leeren oder Gehwege fegen!« Böse glotzte er ihm in die Augen.