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»Ja, komm schon, jetzt spuck’s schon aus, wo du da dran bist!«, hatte Horst seinen Kollegen aufgefordert, nachdem der ihm endlich sein Herz ausgeschüttet und die Ursache aufgezeigt hatte, weshalb er auf sein Gegenüber so merkwürdig gedrückt und verändert gewirkt hatte.
»So ein bisschen im Nebel rumstochern und da ein Wort fallen zu lassen und dort was anzudeuten, das bringt doch nix! Du brauchst doch ganz eindeutig Hilfe und solltest die ganze Geschichte mal richtig durchsprechen, und zwar von A bis Z, sonst kommst du da nie auf einen grünen Zweig. Und nachdem du in der Direktion keinem mehr traust, ja, da ist es sowieso vielleicht ganz gut, wenn du das mit einem Außenstehenden mal durchkaust, der einen völlig unverstellten Blick in dieser ganzen Chose hat. Also komm – schieß los!«
Doch Thomas hatte nur traurig gelächelt und andeutungsweise den Kopf geschüttelt. »Du hast doch Urlaub, Hotte! Ich will dir doch deine paar schönen Tage am See nicht versauen – und außerdem glaube ich irgendwie, dass es besser wäre, wenn ich dich nicht da mit reinreite!«
»Blödsinn!«, hatte Horst geantwortet. »So weit kommt’s noch, dass wir den Beamten raushängen lassen und unser Hirn abends an der Pforte abgeben! Du sagst mir jetzt, was Sache ist, oder es setzt was!«
Zögernd hatte der Hauptkommissar danach einige Fakten angedeutet. Und wenn von den Vermutungen und Anhaltspunkten, die Thomas Grundler mit seiner gewohnt sorgfältigen und vorsichtigen Arbeitsweise in den letzten Monaten gesammelt hatte, auch nur die Hälfte zutraf, dann hatte er offensichtlich einen Volltreffer gelandet. Horst hatte staunend die Luft eingesogen und sich nachdenklich zurückgelehnt: »Dann stehst du ja praktisch mit beiden Beinen mitten auf dem Wespennest! Mein lieber Mann, das gibt aber ein mittleres Erdbeben, wenn du die Geschichte erst mal wasserdicht gemacht hast!« Und mit einem sorgenvollen Blick auf Thomas fügte er leise hinzu: »Da muss man bloß gewaltig aufpassen, dass man von den Wespen vorher nicht gestochen wird!«
Wie recht er doch mit dieser Feststellung behalten sollte …
7
»Also – alles roger? Ja?« Thomas warf einen weiteren prüfend-skeptischen Blick auf Horsts Ausrüstung.
Horst nickte. »Alles okay! Alles an Bord: Flasche, Anzug, Flossen, Maske, Handschuhe, Lampe, Blei. Und auf geht’s!«
Thomas warf den Kopf ins Genick und verdrehte vielsagend die Augen. »Also gut. Nur sag ja nicht hinterher, es hätte dich keiner gewarnt! Also ich an deiner Stelle würde schlichtweg erfrieren, ohne Trockentauchanzug. Und selbst mit dem Trocki ist es noch lausig kalt. Und da nimmst du den 7-mm-Nasstauchanzug, also ich weiß nicht! Lass dir’s noch mal sagen: Da unten ist es stockdunkel und es hat grade mal 6 Grad – wenn’s hoch kommt!«
Horst zuckte wegwerfend die Schultern. »Weiß ich doch! Haben wir jetzt doch schon 150 Mal durchgekaut! Du weißt doch: Ich bin ein Warmblüter – das klappt schon! Im Baggersee war ich mit meiner Ausrüstung auch schon auf 25 Metern – da kommt’s auf die paar Meter mehr oder weniger auch nicht mehr an!«
Thomas deutete auf Horsts Flossen: »Aber was ist damit? Das ist doch wohl nicht dein Ernst, mit den Dingern da runterzutauchen?«
»Natürlich ist es das! Jetzt zerbrich dir mal nicht meinen Kopf!« Horst fühlte sich allmählich wie im Kindergarten. »Ich bin schließlich alt genug und hundert Tauchgänge habe ich auch auf dem Buckel. Genug, um einschätzen zu können, was geht und was nicht geht!«
Thomas unternahm einen weiteren Anlauf: »Aber der Bodensee ist anders als irgendein popeliger Baggersee. Der Bodensee ist der Bodensee!«
Horst spielte den Überraschten. »Was du nicht sagst!«
»Jetzt werd nicht läppisch! Ich meine es ernst! Ich hab schon Dinger erlebt, sag ich dir … Also komm – jetzt probier wenigstens, ob dir meine gebrauchten Füßlinge mit den Flossen passen. Ich geb sie dir gerne. Also – ich habe Schuhgröße 40/41, das müsste eigentlich gehen.« Prüfend musterte er Horsts Füße.
»Na gut – dann hat die arme Seele Ruh! Ich hab zwar Größe 43, aber bitte schön, quetsch ich halt meine Zehen in deine Fußpilzbomber rein! Zu Risiken und Nebenwirkungen beklagen Sie sich bei ihrem Freund und Tauchpartner!« Insgeheim musste er zugeben: die Hartnäckigkeit von Thomas war in diesem Fall durchaus angebracht. Denn auch Horst schauderte es ehrlich gesagt bei der bloßen Vorstellung, ohne Neoprenfüßlinge mit quasi bloßen Füßen sich in eiskaltem 6-Grad-Wasser auf fast 40 Meter Tiefe hinunterzuzittern. Aber der Schwabe in ihm hatte mal wieder die Oberhand über alle taucherischen Vernunftmaßregeln gewonnen: Um nichts in der Welt hätte er sich im Vorfeld dazu bewegen lassen, sich in einem der zahlreichen Tauchshops am Bodensee mit Füßlingen und dazu passenden offenen Flossen einzudecken. Das hätte ja immerhin runde 200 Mark gekostet – nein danke! Zu viel war eben zu viel!
Bei diesem Stand der Diskussion – und sie hatten sie im Vorfeld bereits mehr als nur einmal miteinander geführt – hatte Thomas wie immer in einer Geste der schieren Verzweiflung die Hände zusammengeschlagen und den Blick in stummer Verzweiflung gen Himmel gerichtet: »Nicht zu fassen! Deutschland, deine Schwaben!!«
Und Horsts Replik war programmgemäß so gekommen, wie sie in jenen Gesprächen pflichtschuldigst immer kam: »Wir sind halt Schwaben und keine solchen Verschwender wie ihr Badenser! Der Schwabe als solcher …«
»… lebt, um zu arbeiten, während der Badener arbeitet, um zu leben!«, wurde er an dieser Stelle – wie immer – von Thomas unterbrochen.
»Eben – sag ich doch! Was würdet ihr auch anstellen, ohne unser Geld aus Stuttgart! Typisch Badenser: Immer über uns schimpfen, aber unser Geld, das nehmt ihr, ohne Danke zu sagen!«
»Ist ja auch immer noch zu wenig«, hieb Thomas weiter in seine Anti-Schwaben-Kerbe. »Aber dafür bekommt ihr ja schließlich unser Bodensee-Wasser. Ganz Stuttgart würde ja auf dem Trockenen sitzen, wenn wir euch nicht das gute Bodensee-Trinkwasser liefern würden, in das wir vorher noch mal schnell reinpinkeln! Aber für die Schwaben langt’s auch so: Hauptsache, viel, und Hauptsache, billig!«
In der Zwischenzeit hatte sich Horst in die ausrangierten Füßlinge von Thomas gezwängt und ihm zu verstehen gegeben, dass sie zwar mehr schlecht als recht, aber ihm dennoch irgendwie passten. Das war das Zeichen zum Aufbruch. Thomas, der sich parallel zu ihrem üblichen Baden-kontra-Württemberg-Disput seinen fast noch nagelneuen Trockentauchanzug übergestreift hatte (ein Teil, das sich Horst, davon war er felsenfest überzeugt, niemals anschaffen würde – gut und gerne 2.000 Mark hatte das Ding mit allem Drum und Dran gekostet!), zog die Starterleine am Außenborder ihres Leihbootes und schon nach dem zweiten Versuch gab der Motor nach ein, zwei holprig spuckenden Stottergeräuschen ein tiefes gleichmäßiges Brummen von sich.
Ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf Thomas’ Gesicht. Horst atmete innerlich durch: Wenigstens am heutigen Nachmittag schien sein Kollege deutlich ruhiger und ausgeglichener als am Abend zuvor. So ein Gespräch, bei dem man einem Freund endlich mal das Herz ausschütten konnte, war offenbar doch immer noch Gold wert. Also dann – Horst blickte über die im diffusen Licht der letzten sich gerade verziehenden Regenwolken schwarzgraublau schimmernde Fläche des Bodensees hinüber in Richtung Meersburg. Immer wieder eine schöne Kulisse, dieses Meersburg mit der alten Burg, dem riesigen Schloss, dem Fährhafen und der Schifflände – selbst vom relativ weit entfernten Schweizer Ufer bei Bottighofen aus.
Sanft schaukelte das Boot mit den beiden Tauchern, als sie ablegten. Rund einen Kilometer in Richtung Nordosten würden sie zurücklegen müssen, bis sie an der Stelle Anker werfen konnten, an der im Februar des Jahres 1864 der Raddampfer »Jura« im dichten Nebel von der »Stadt Zürich« gerammt und in den eisigen Fluten des Bodensees versenkt worden war. In wenigen Minuten würden sie ankommen und sich dann so schnell wie möglich auf die gut 36 Meter Tiefe »fallen lassen«, in der die »Jura« seit fast 140 Jahren im Schlick des Bodensee-Untergrunds ihr dunkles Grab gefunden hatte. Das Abenteuer konnte beginnen!
8
Thomas drosselte den Außenborder und spähte angestrengt auf eine fiktive Landmarke hinter sich. »Da ungefähr müsste es sein. Ich denke, ich habe die Stelle ziemlich genau getroffen. Also dann, gib mir bitte mal den Anker rüber.« Im selben Moment stellte er den Motor ab, griff nach dem winzigen Anker, den Horst vorsorglich bereits aufgeklappt hatte, und warf ihn über Bord. Schon beeindruckend, in welcher Windeseile sich das Nylonseil, an dem der Anker befestigt war, in die Tiefe abrollte. Meter um Meter verschwanden unter dem Boot in der vom Auge undurchdringbaren Tiefe des Sees. Horst begann zu frösteln. Warum nur hatte er sich auf dieses Abenteuer eingelassen? Hätte er doch damals dankend abgelehnt, als ihm Thomas beim Lehrgang in Wertheim den Vorschlag zum gemeinsamen Bodensee-Wracktauchen im Juli gemacht hatte!
Wieder zog sich ein leichter bohrender Schmerz durch seinen Kopf und schien ihn wie mit einer Schraubzwinge zusammenzupressen. Immer noch die Nachwirkungen der vergangenen, allzu kurzen Nacht mit ihren allzu vielen Gläsern Weißherbst! Aber ein Zurück gab es jetzt nicht mehr. Augen zu und durch! Tatsächlich kniff er einen Moment lang die Augen zu, was Thomas, dem die gequälte Miene seines Gegenübers nicht verborgen geblieben war, zu der sorgenvollen Frage veranlasste: »Alles in Ordnung mit dir, Hotte? Du siehst irgendwie nicht gut aus!«
»Danke für die Blumen«, knurrte der sich ertappt fühlende Horst zurück. »Too much wine and too much song – aber ansonsten bin ich fit wie ein Turnschuh!«
»Na, hoffentlich! Du weißt, 40 Meter bei der Temperatur sind kein Pappenstiel – und außerdem ist es stockdunkel da unten. Da solltest du schon deine fünf Sinne beisammen haben! Wenn nicht, dann drehen wir lieber um und kommen in zwei oder drei Tagen noch mal. Bevor jetzt aus falsch verstandenem Heldenmut irgendein Blödsinn passiert … Also ich habe nämlich keine Lust, dich nachher in die Druckkammer nach Überlingen verfrachten zu müssen!«
»Blödsinn«, brummelte Horst und wies mit einer raschen Kinnbewegung auf den linken Unterarm von Thomas. »Wenn einer wie du tauchen kann, obwohl er die Krätze hat, dann wird’s bei mir mindestens genauso gut gehen!«
Augenblicklich zog Thomas seine Rechte vom Unterarm, an dem er sich, durch den Tauchanzug hindurch, heftig gekratzt hatte. »Ist schon nicht so tragisch! Ich weiß auch nicht, was da los ist, wahrscheinlich hab ich tatsächlich was Falsches gegessen: irgendwelche ungewaschenen gespritzten Erdbeeren oder so!«
»Und das als WKDler«, grinste Horst. »Das passt ja wie die Faust aufs Auge!«
»Mach dich nur lustig über mich. Also: Hast du deine Flasche schon aufgedreht? Okay, wie viel Luft ist drin?«
Horst warf einen prüfenden Blick auf seinen Druckanzeiger, dann nickte er zufrieden. »220 bar, kann man nicht meckern. Das müsste eigentlich reichen für einmal runter und einmal rauf. Also – alles klar. Und bei dir?«
Thomas runzelte die Stirn, drehte noch einmal am Ventil seiner Pressluftflasche und drückte anschließend auf die Luftdusche seines Mundstücks. Wieder starrte er auf seinen Druckanzeiger. »Komisch, irgendwie haben es die Jungs von der Tauchbasis mit mir diesesmal nicht so gut gemeint. 170 bar nur! Da müssen wir uns sputen! Ich sag’s ja: so eine Doppelflasche, die wär hier schon viel eher das Richtige. Aber gut, jetzt ist es halt, wie’s ist, und das heißt wirklich: Rein ins Wasser und ruckzuck runter an der Ankerleine. Aber mehr als zehn Minuten Grundzeit sollten wir nicht riskieren, was meinst du?«
Horst warf zur Sicherheit nochmals einen Blick auf die Deko-Tabelle, die er, Tauchcomputer hin oder her, grundsätzlich bei jedem Tauchgang mit sich führte. Dann nickte er zustimmend. »Seh ich genauso! Rein-runter-rauf-raus! Aber auf sechs Meter und auf drei Meter machen wir jeweils fünf Minuten Sicherheitsstopp – und wenn’s uns auch noch so friert. Einverstanden?«
Auch Thomas nickte. »Ist in Ordnung! Also dann: Haube auf, Handschuhe an, Flasche drauf und runter! Ich bin ja wirklich gespannt, was du sagst, wenn wir wieder oben sind! Jede Wette, dass du das mindestens genauso klasse finden wirst wie das Tauchen in irgendeinem Korallenmeer. Diesen Kick, den kriegst du nämlich nur hier, und nicht in irgendeiner lauwarmen Badewanne!«
Das mit dem Kick sollte sich wenig später als absolut zutreffend erweisen, das mit der Wette war eine ganz andere Sache …
9
Schon kurz nach dem Hineinspringen fühlte Horst die eisige Kälte, die sich um ihn herum ausbreitete und die ihn regelrecht zu erdrücken schien. Dazu kam bereits nach fünf oder sechs Metern absolute Dunkelheit, das grünlich-braune Dämmerlicht kurz unter der Wasseroberfläche war schnell einem merkwürdig gräulichen Blau gewichen, bevor er von völliger Dunkelheit umgeben war. In Anbetracht der Tatsache, dass sie mit ihrem begrenzten Luftvorrat beschlossen hatten, zügig abzutauchen, hatte sich Horst zwei Kilogramm Blei mehr als üblich in die Seitentaschen seines Jackets gesteckt.
Verdammt! Wo war denn eigentlich die Ankerleine, an der sie abgetaucht waren, und vor allem: Wo war Thomas? Horst schaltete die Lampe an, doch das Licht des Scheinwerfers reichte schätzungsweise gerade einmal drei Meter weit. Die zahllosen Schwebteilchen schienen das Licht geradezu aufzufressen, und so fühlte er sich wie gefangen in einem undurchdringbaren schwarzen Käfig, in dessen enger Mitte ein trübes grüngelbes Irrlicht tanzte!
12, 13, 14, 15 Meter: der Tiefenmesser auf seinem Tauchcomputer am Handgelenk bestätigte Horsts Eindruck.
Er sank schnell, so schnell, dass er ständig damit beschäftigt war, gegen den sich permanent aufbauenden Druck in den Ohren anzupressen. Die unangenehme klamme Kälte machte den Ohren zusätzlich zu schaffen, aber jetzt bloß nicht verkrampfen und bloß nicht in Panik geraten!
Leichter gesagt als getan! Und immer noch: Wo um alles in der Welt war Thomas? Er knipste die Lampe aus und spähte angestrengt in die ihn umgebende angsteinflößende Dunkelheit. Keine Spur von seinem Kollegen! Weit und breit kein Lebenszeichen, nichts … Vielleicht wäre es besser, Luft ins Jacket zu pumpen und einfach noch mal hoch an die Oberfläche zu steigen. Und dann von oben noch einmal kontrolliert mit dem Abstieg zu beginnen, dann aber wirklich direkt und unmittelbar an der Ankerleine. Quatsch, verwarf er augenblicklich diesen Gedanken. Bis er jetzt oben wäre und die Luft herausgeblasen hätte, um dann wieder nach unten zu sinken, also das wären mindestens drei Minuten, die er dann auf Thomas verloren hätte. Und das bei dessen sowieso schon knappem Luftvorrat und bei ihrer maximalen Grundzeit von zehn Minuten. Womöglich mussten sie das Wrack am Grund erst einmal suchen, da bliebe ja dann nicht einmal mehr … Da, war da nicht grade eben eine Art Blitz ganz schwach durchs Wasser geschossen?
Augenblicklich verwarf er seine Gedankengänge und konzentrierte sich auf die Stelle, an der er gemeint hatte, den Lichtblitze gesehen zu haben. Aber da war nichts mehr außer tiefer schwarzer Dunkelheit! Halt! Doch! Wieder ein Blitz und jetzt, eine Sekunde später, zuckte der nächste durch das Wasser! Das musste Thomas sein, der jetzt seinen Blinker für Nachttauchgänge eingeschaltet hatte. Dessen Blitzlicht war so stark, dass es sogar die undurchdringlich scheinende Dunkelheit zu durchschneiden vermochte – wenngleich auch immer nur für Sekundenbruchteile, aber andererseits lange genug, um ihm den Weg zu seinem Tauchpartner zu weisen.
Im selben Moment verspürte Horst einen leichten Widerstand an seinen Flossen und gleich danach sank er rücklings auf den Boden. Anscheinend war der »Sinkflug« zu Ende und er war nun auf dem Grund des Sees angekommen. Hastig tastete Horst nach seiner Lampe und schaltete sie ein. Igitt – was war das denn?! Offensichtlich lag er hier in fast 40 Metern Tiefe mitten im zentimeterdicken Schlick, den er mit jeder Fuß- oder Handbewegung zusätzlich aufwirbelte. Eine Wolke aus Sediment und Schwebteilchen, die das bisschen Sicht, das der See überhaupt bloß zuließ, vollends zunichtemachte! Na bravo: ein wunderschöner Tauchgang! Da lag er also nun auf 40 Meter Tiefe im Schmodder, umgeben von Wolken eiskalten-schlammigen Wassers!
In diesem Moment erreichte ihn der Strahl einer Lampe: Unmittelbar vor seiner Maske tauchte der Kopf von Thomas auf. Er sah ihm forschend in die Augen, klar, Horst gab wahrscheinlich nach seiner Landung im Schlammbad einen derart jammervollen Anblick ab, dass die Vermutung nahelag, irgendetwas sei mit ihm nicht in Ordnung. Wie ein Maikäfer rücklings auf dem Misthaufen, schoss es ihm durch den Kopf und trotz der Kälte und der unangenehmen Dunkelheit musste er bei dieser Vorstellung lächeln.
Thomas presste die Spitzen von Daumen und Zeigefinger aufeinander und symbolisierte damit ein O, das international gebräuchliche Unterwasserzeichen für die Frage »Ist alles okay – ist alles in Ordnung?« Horst nickte und tat es seinem Tauchpartner nach. Das war die Antwort: »Alles okay.« Und den Umständen entsprechend war es ja auch so, obwohl er sich an schönere Tauchgänge erinnern konnte.
Horst griff mit der Rechten an den Inflatorschlauch seines Jackets und ließ mit zwei kräftigen Stößen Pressluft in die Weste strömen. Bei dem gewaltigen Druck in dieser Tiefe konnte das im Sinne einer besseren Tarierung auf gar keinen Fall schaden. Dann stieß er sich mit derselben Hand leicht vom Untergrund ab: ekelhaft, wie er dabei mit dem Handschuh in den morastigen Schlick einsank. Aber immerhin, er »stand« dank dieses Manövers nun wieder senkrecht im Wasser. Vorsichtig schwenkte er die Lampe ringsum. Tatsächlich, da war ja die Ankerleine, an der sie abgetaucht waren. Sie hatten es also geschafft, exakt unter ihrem Boot hinunterzudriften. Immerhin!
Thomas hob den Zeigefinger und deutete damit auf seinen Blinker, der nach wie vor eingeschaltet war und seine weithin sichtbaren Blitzsignale aussandte. Dann deutete er auf die Ankerleine und schwamm auf sie zu. Aha – das war klasse und das war absolut richtig gedacht, angesichts dieser eingeschränkten Sicht war es auch das einzig sinnvolle: Thomas befestigte den Blinker an der Ankerleine. Es wäre ihnen also nun dank der regelmäßigen, strahlend hellen Blitze ein Leichtes, ihre Auftauchstelle wiederzufinden, selbst wenn die Sicht noch so bescheiden wäre. Horst nickte anerkennend. Erfahrung hatte Thomas, und zwar nicht zu knapp! Eine solche Umsicht zeichnete einen guten Taucher aus und trennte auch in dieser Hinsicht die Spreu vom Weizen: Donnerwetter – wieder etwas gelernt!
Thomas hatte den Blinker mit zwei, drei raschen Handbewegungen an der Leine festgemacht und warf einen prüfenden Blick auf seinen Tauchcomputer. An der linken Hand spreizte er darauf Daumen, Zeige- und Mittelfinger ab: drei Minuten waren also schon vergangen. Horst signalisierte »verstanden«. Viel Zeit blieb also nicht mehr, um die »Jura« zu inspizieren. Wo war das Wrack denn überhaupt? Suchend schaute er sich um, langsam den Lichtkegel seiner Lampe verfolgend, der einen fast aussichtslosen Kampf mit der sie umgebenden gnadenlosen Dunkelheit auszufechten schien. Thomas gab ihm ein Zeichen und winkte mit dem Lichtstrahl seiner Lampe (Das war die ganz eindeutig wesentlich stärkere! Schon wieder also an der falschen Stelle gespart!) nach rechts vorne.
Und tatsächlich: In einer Entfernung von vielleicht drei, vier Metern schimmerte das Heck eines in den Schlick gesunkenen hölzernen Schiffes auf. Beinahe machte es den Eindruck, als sei es erst gestern verunglückt, wie es da unmittelbar vor Horsts Augen lag. Konnte es sich bei diesem Schiff tatsächlich um die vor fast 140 Jahren gesunkene »Jura« handeln? Kaum zu glauben, aber Thomas hatte ihm ja schon bei einer ihrer letzten Unterhaltungen erzählt, wie unversehrt der alte Raddampfer im Grunde noch war – einmal abgesehen von den Beschädigungen, die ihm unachtsam geworfene Anker oder Souvenirjäger zugefügt hatten. Das hing ganz eindeutig mit der Kälte im See und der hier auf dieser Tiefe herrschenden ewigen Dunkelheit zusammen: ideale Konservierungsvoraussetzungen für das Wrack der »Jura«.
Vorsichtig paddelte Horst am Rumpf des fast eben auf seinem Kiel stehenden Schiffes entlang, fasziniert von
dem schemenhaft-unheimlichen Anblick, der sich ihm im Schein der Lampe darbot. Hier musste der Bug des Wracks kommen. Tatsächlich: Sogar Schnitzereien waren im Holz noch zu erkennen! Zufrieden lächelnd blickte Horst sich um und deutete mit der ausgestreckten Hand auf seine Entdeckung. Ob Thomas diese Schnitzereien bei seinen früheren Tauchgängen an die »Jura« auch schon aufgefallen waren? Thomas! Wo war Thomas! Horst drehte sich um und ließ den Strahl seiner Lampe am Schiffsrumpf entlangwandern, so gut das bei diesen Sichtverhältnissen eben möglich war.
Innerlich fluchend machte er kehrt. Vor lauter Spannung und Konzentration auf sich selbst hatte er seinen Tauchpartner aus den Augen verloren! Und das in dieser Tiefe und bei diesen schauderhaften Bedingungen! Eigentlich unverzeihlich, bodenlos leichtsinnig und dumm, denn wie sollte man einander helfen, wenn keiner auf den anderen achtgab. Und in dieser Tiefe konnte verdammt schnell verdammt viel Unangenehmes passieren! Andererseits passte das doch ganz und gar nicht zu dem sonst so vorsichtigen und erfahrenen Thomas, ihn alleine vorneweg schwimmen zu lassen und ihn nicht ständig im Blickwinkel zu behalten. Aber wo war Thomas?!
Mit beunruhigender Regelmäßigkeit zuckten die Blitze des vorhin an der Ankerleine festgemachten Blinkers durch das schwarze Wasser, fast wie die Blinklichter eines Notarztwagens. Horst schauderte. Ein Blick auf den Computer signalisierte ihm, dass ihnen noch maximal eine Minute Grundzeit blieb, spätestens dann war es höchste Zeit, wieder aufzutauchen. Aber wo verdammt noch mal war Thomas? Thomas!!
Wie ein stummer Schrei fraß sich der Name seines Kollegen in Horsts allmählich von beklemmender Panik gemartertem Gehirn fest. Thomas – wo war Thomas? Weshalb hatte der ihn einsam und alleine hier in der gnadenlosen, eiskalten und schwarzen Tiefe zurückgelassen – mutterseelenallein? So verlassen und derart preisgegeben, wie Horst sich fühlte, konnte sich kein zweiter Mensch im gesamten Universum vorkommen!
Von äußerster Panik vorwärtsgetrieben, bewegte er sich mit hektischen Paddelbewegungen auf die Richtung zu, aus der die vom Blinker ausgesandten grellen Lichtsignale in die Dunkelheit zuckten.
Wo aber war Thomas? Was war mit Thomas passiert? Thomas!!!!!!!!!
10
»Tut mir leid! Wirklich!« Der Arzt schien tatsächlich geknickt und deprimiert, als er Horst am Tag danach die niederschmetternde Wahrheit zu offenbaren hatte. Immerhin hatte es der Professor höchstpersönlich für nötig erachtet, Horst im Druckkammerzentrum für verunglückte Taucher des Kreiskrankenhauses Überlingen die bittere Erkenntnis mitzuteilen: Exitus!
»Da war nichts mehr zu machen – überhaupt nichts mehr! Ihr Kollege war schon tot, als er an die Oberfläche geschwemmt worden ist!«
Horst fasste sich mit beiden Händen an den Kopf: Er konnte einfach nicht glauben, was er da gerade eben gehört hatte! Exitus! Aus! Schluss! Vorbei! Thomas war tot! Gestorben bei einem Tauchgang, auf dem er, Horst, ihn begleitet hatte! Unmöglich! Ein Unding! Das konnte nicht, das durfte einfach nicht wahr sein!
»Und der Herr Dr. Bär hat auch schon angerufen! Auch ihm habe ich natürlich nichts Besseres mitteilen können.« Rastlos wanderten die Augen des Chefarztes zwischen Horst, dem Fenster und der mittlerweile sperrangelweit offen stehenden Tür der Druckkammer hin und her. Dort hatte er sofort nach seiner Ankunft mit dem Notarztwagen vorsichtshalber die letzten 24 Stunden verbringen müssen, dort hatte man seinen Körper wieder auf die Druckverhältnisse in der Tiefe konditioniert und den Druck dann ganz allmählich vermindert. Er hatte gewaltiges Glück gehabt – das hatten ihm die behandelnden Ärzte mehr als nur einmal kopfschüttelnd versichert. Aus dieser Tiefe nach einer Grundzeit von knapp zehn Minuten so blitzschnell an die Oberfläche durchzuschießen: Das hätte leicht mit einer schweren bleibenden inneren Verletzung, Querschnittslähmung oder gar mit dem Exitus enden können!
Exitus! Das Wort schoss blitzartig wie eine Harpune durch sein Gehirn, um wenig später in einem grellen Blitz in seinem Kopf zu explodieren. Ihm wurde schwindlig. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich mit den Händen an der Lehne des vor ihm stehenden Stuhles festklammern. Die Bilder würden ihm zeitlebens nicht mehr aus dem Kopf gehen. Während man ihm Infusionen angelegt und ihn für die Zeit in der Druckkammer vorbereitet hatte, konnte Horst neben sich die Liege erkennen, auf der ein nach wie vor lebloser Körper, gespickt mit Infusionen, Pflastern und Reanimationsgeräten, von hektisch sich bewegenden Ärzten und Schwestern umringt war: Thomas! Keiner hatte ihm in den letzten Stunden die Frage beantwortet, was denn mit seinem Freund geschehen war, ob er noch lebte, weshalb man nicht erst einmal ihn in der Druckkammer behandelt hatte, ob es denn tatsächlich so schlimm um ihn stünde, wie es den furchtbaren Anschein hatte.






