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Sie nickte.
»Wo haben Sie angerufen, Frau Gehrke. Bei den Orangen Engeln?«
»Natürlich«, hauchte sie. »Wo sonst? Wer vertraut denn nicht auf Engel?«
Das Kribbeln wurde wärmer und breitete sich in seinem Körper aus. Seine Augen hingen an dem sinnlichen Lächeln ihres Mundes, der von einem zartrosa Lipgloss glänzte. Die letzten Strahlen der Abendsonne zauberten Reflexe in ihre grünen Katzenaugen und feurige Strähnchen in ihre weinroten, zu einer pfiffigen Hochsteckfrisur gebändigten Locken, als sie nun die Kapuze nach hinten streifte. Ihr Augenaufschlag brachte Linus für einen Augenblick völlig aus dem Konzept. Hatte sie ihm gerade vertraulich zugezwinkert? Du meine Güte, flirtete sie etwa mit ihm?
Blödsinn! Das lag bestimmt daran, dass er so sehr auf dieses Date fixiert war, dass seine Sinne völlig verrückt spielten.
So verlegen hatte Linus sich schon lange nicht mehr gefühlt. Nur mit Mühe gab er sich einen Ruck, schaute auf das Display seines Handys, drückte die Kurzwahl und gab die Information an die Zentrale weiter. Als er es wieder in die Brusttasche stecken wollte, ertönte Maiks spezifische Erkennungsmelodie.
»Sekunde, ich hab’s gleich«, erklärte Linus der jungen Frau und ergänzte geistesgegenwärtig: »Ein Kollege.«
Zu seiner Erleichterung zeigte ihre Miene keine Zeichen von Ungeduld. Im Gegensatz zu ihm hatte sie heute vermutlich nichts mehr vor.
»Also Alter, nochmal zu deinem Anliegen: du willst wirklich, dass ich dahin gehe und dich vertrete?« Statt Spott meinte Linus jetzt pure Neugierde aus Maiks Stimme herauszuhören.
»Ja, sicher«, erwiderte Linus und kehrte zwei Schritte zu seinem Wagen zurück, um ungestörter sprechen zu können. »Du würdest mir wirklich einen Riesengefallen tun. Erklär’ ihr die Situation. Irgendwie. Bitte. Sag ihr, wie leid es mir tut. Das ist zumindest persönlicher als zu schreiben.«
»Na gut, du verrückter Idiot. Ich mach’s. Allerdings musst du mir noch erklären, warum du mein Foto verwendet hast.«
Er macht’s, dachte Linus mit einem Anflug von Euphorie und befürchtete, augenblicklich in Ohnmacht zu fallen. Er sah schon die Schlagzeilen vor seinem geistigen Auge: Oranger Engel fällt auf Standstreifen um … Jetzt reiß dich mal zusammen! Mann oder Memme?
Ein kurzer Blick auf das Display genügte. »Maik, es ist keine Zeit für Erklärungen. Du hast noch genau fünf Minuten.«
Ein gequältes Lachen war zu hören. »Also im Prinzip gar keine Zeit, Umziehen ist da nicht mehr drin.«
Daran hatte Linus überhaupt nicht gedacht. Hoffentlich jagt er ihr keinen Schock ein und trägt nicht ausgerechnet heute eine von seinen schmuddeligen Jeans mit abgetretenem Saum, dazu ein löchriges Shirt mit einem scheußlichen ausgewaschenen Aufdruck.
Die Frage nach Maiks Outfit wagte er nicht zu formulieren. Es war ohnedies schon fast zu spät, um die Situation zu retten.
»Aber dass dir eins klar ist, die Sache mit dem Foto hat noch ein Nachspiel. Von wegen Datenschutz und so. Da bist du mir was schuldig!«, knurrte Maik. »Also, sie erkennt mich, und was ist mit mir? Wie sieht SIE aus? Und wie heißt sie überhaupt?«
Linus’ Mund war so trocken, dass er kaum in der Lage war zu antworten. Maik würde es tun! Der Jubel in seinem Inneren wollte kein Ende nehmen. Er wird es tatsächlich für mich machen! Allen Ungläubigen zum Trotz, sein Horoskop würde sich heute erfüllen!
»Maureen. Sie heißt Maureen. Ich schick dir gleich ihr Foto. Und Maik – danke!«
Die Antwort war ein undefinierbarer Ton zwischen freundlichem Knurren und einer nicht in Worte gefassten Drohung. Dann hatte sein Kumpel aufgelegt.
Linus scrollte schnell durch seine Liste, um die Nachricht mit dem Foto weiterzuleiten. Stunden hatte er damit verbracht, auf dieses Gesicht zu schauen, während sie miteinander gechattet hatten. Wie sich wohl ihre Stimme anhörte? Für heute Abend hatte er sich einen Kuss erhofft, von diesen schön geschwungenen Lippen, oder auch mehr. Noch einmal atmete Linus tief durch, ehe er sich wieder der Autofahrerin zuwandte.
»Tut mir leid, dass Sie warten mussten.« Sein Blick schweifte über den Mini. Nicht ganz neu, aber gut gepflegt, das sah er trotz der wetterbedingten Schmutzpartikel. »Jetzt erzählen Sie mal, Frau …«
»Gehrke, Lola Gehrke«, half sie ihm.
»Okay, Frau Gehrke, was für Probleme macht denn Ihre Knutschkugel?«
Du meine Güte, das hatte er überhaupt nicht sagen wollen! Seine Hormone schienen völlig mit ihm durchzugehen.
Ihr glucksendes Lachen nahm der Situation ein wenig die Peinlichkeit. »Knutschkugel – das hab’ ich ja noch nie gehört! Nun, jedenfalls rollt sie nicht mehr. Plötzlich war der Schwung weg. Der Motor lief, aber – Gaspedal durchtreten half nichts, dann hab’ ich’s gerade noch auf die Standspur geschafft, ehe mein Schätzchen ausgegangen ist.«
Das klang nicht gut. Linus fielen sofort mehrere Möglichkeiten ein, woran es liegen könnte, von denen sich einige leicht, andere hier vor Ort gar nicht beheben ließen. Für einen Mini allerdings eher ungewöhnlich.
»Steigen Sie bitte ein und ziehen Sie den Hebel für die Motorhaube?«
Die junge Frau nickte, ging um den Wagen herum und stieg ein, die Tür ließ sie einen Spalt weit offen.
Immer noch schob sich die Autoschlange an ihnen vorbei, nur hatte das Tempo inzwischen ein wenig zugenommen. Der Stau schien wieder in Fluss zu kommen.
Maik müsste jetzt gerade das Restaurant betreten.
Ein Klacken verkündete das Lösen der Sperre, Linus griff unter die Haube, um diese anzuheben und zu justieren. »Wie viel Benzin ist noch im Tank?«
»Halb voll«, kam die prompte Antwort.
Das also war es nicht. Zwei halbvolle Benzin- und Dieselkanister hatte er für den Notfall immer dabei, auch wenn es nicht allzu oft vorkam, dass jemand wegen eines leeren Tanks liegenblieb.
»Starten Sie mal bitte?«
Es klang jämmerlich. Beim dritten Versuch sprang der Motor zwar an, aber nur, um gleich wieder mit einem kläglichen Röcheln abzusaufen.
»Okay, reicht schon. Ich werde die Batterie Ihres Wagens mal an meine Messeinheit anschließen. Hört sich an, als ob sie leer ist.«
»Aha«, murmelte Gehrke, die wieder ausgestiegen war. »Kann denn das sein? So alt ist die Batterie doch noch gar nicht.«
»Ist nur eine Theorie. Manchmal macht die Winterkälte den Batterien zu schaffen«, erwiderte Linus, während er die Klemmen an der Batterie befestigte. »Ich vermute aber mal, dass Ihr Wagen nachts in einer Garage steht?« So gepflegt wie er trotz der Wetter bedingten Schmutzspritzer aussieht, fügte er im Stillen hinzu.
»Ja, ich hab einen Tiefgaragenstellplatz«, erwiderte sie. »Zum Glück. Sonst müsste ich im Winter jeden Morgen Eis kratzen. Das wäre echt ätzend.«
Linus nickte. Leider bestätigte sich seine Vermutung nicht, dass der Fehler bei der Lichtmaschine zu suchen wäre. In diesem Fall hätte er die Batterie aufgeladen, und seine Kundin hätte vielleicht selbst bis zur nächsten Werkstatt fahren können.
»Wohin müssen Sie denn heute noch?«
»Feldkirchen.«
»Kenne ich gut. Sie wohnen dort?«
»Ja.«
Aha, vermutlich war sie eine von Hunderten, die sich täglich auf dieser Strecke bewegten. Als Engel der Straße war ihm nur allzu bekannt, dass die Staus im Feierabendverkehr zwischen München und Ingolstadt zum Großteil durch Pendler verursacht wurden. Obwohl Linus selbst viel Zeit auf der Straße verbrachte, war er froh, dass er diesem allmorgendlichen und allabendlichen Stress selten ausgesetzt war. Zum Glück gehörte wenigstens die Riesenbaustelle inzwischen der Vergangenheit an, bei der man den Standstreifen zu einer vierten Fahrspur ausgebaut hatte, um den Verkehr etwas zu entzerren. Die Unfallhäufigkeit hatte dies nur unwesentlich herabgesetzt.
Selbst die neue Software seines Analysegerätes, das Linus im Heck seines Wagens mit sich führte, brachte ihm keine neue Erkenntnis. Zwar konnte er sich nicht in jegliches System perfekt einloggen, wenn die Hersteller keinen entsprechenden Zugang freigegeben hatten, aber selbst wenn – wie heute – so musste er nicht zwingend fündig werden.
Auch weitere Untersuchungen und Fremdstarts mittels Überbrückungskabel lösten das Problem nicht. Der Motor des Kleinwagens erstarb jedes Mal nach wenigen Sekunden. Es wurmte Linus, dass er nicht erfolgreich war. Einer der Klassiker unter den Ursachen war eine gelöste Kabelverbindung. Heute aber hatte sich offenbar mehr als nur sein geplatztes Date gegen ihn verschworen. Wohl oder übel musste er einsehen, dass er nichts für die junge Dame tun konnte.
»Tja, tut mir leid, Frau Gehrke. Aber das Problem scheint tiefer zu sitzen. Ganz untypisch für Knutschkugeln«, versuchte er ihre betrübte Miene aufzuheitern und tatsächlich kicherte sie über seine Bemerkung. »Also, ich kann Ihnen einen Abschleppdienst rufen und der bringt Sie zusammen mit Ihrem Wagen zu der Werkstatt Ihrer Wahl, und von dort können Sie mit einem Leihwagen oder Taxi heimfahren. Die Kosten dafür übernimmt natürlich der Club für Sie als Mitglied.«
»Schade«, erwiderte sie. Die Enttäuschung war ihr ins Gesicht geschrieben. Inzwischen war es dunkel und um einiges kälter geworden, und es war nicht zu übersehen, dass sie fror. Ihre schöne modische Jacke war sicherlich für die Fahrt in einem beheizten Auto ausreichend warm, jedoch nicht, um längere Zeit draußen herumzustehen.
»Wissen Sie was, setzen Sie sich in meinen Wagen. Ich lass die Standheizung ein wenig laufen, während wir warten. Dann wird es schnell warm.«
Nachdem Linus angerufen, die Motorhaube geschlossen und auch in seinem eigenen Wagen alles wieder versorgt hatte, nahm er auf dem Fahrersitz Platz und knipste das Licht über dem Spiegel an.
»Was glauben Sie, wird das eine teure Reparatur?«
Schulterzuckend schaute er sie an. »Schwer zu sagen. Kann etwas Mechanisches sein oder ein Elektronikfehler. Fahren Sie jeden Tag diese Strecke?«
»Ja, ich arbeite in Manching, als Sachbearbeiterin.«
Linus nickte wissend. »Flugzeugbranche?«
Gehrke grinste. »Sie kennen sich aus.«
»Nervt das nicht, jeden Tag dieser Stress auf der Straße?«
»Wenn’s so läuft wie heute, dann schon. Ich habe auch schon mal überlegt, nach Ingolstadt zu ziehen.«
»Das wäre um einiges näher.«
Irgendwie wusste er nichts mit seinen Händen anzufangen und legte sie daher auf das Lenkrad. Die junge Frau war dezent geschminkt und ihr Gesicht war von einer angenehm natürlichen Schönheit, die selbst von ein paar Sommersprossen nicht getrübt wurde. Wenn sie ihn ansah, strahlten ihre grünen Augen im Licht der Innenbeleuchtung wie zwei Smaragde.
»Ja, aber – die Mieten in Ingolstadt sind inzwischen auch sehr hoch und eine schöne Wohnung habe ich dort nicht gefunden. Außerdem wohnen meine Eltern und meine Freunde auch alle in München und Umgebung. Die Entscheidung ist echt schwer.«
Das hörte sich ein bisschen an, als würde sie alleine leben, sonst hätte sie bestimmt einen Partner oder eine eigene Familie erwähnt.
»Ingolstadt ist also keine Option«, stellte Linus abschließend fest.
»Nein, zumindest nicht im Augenblick.«
Würde sie in Ingolstadt wohnen, könnte sie morgens ein wenig länger schlafen. Aber dann säße sie vermutlich jetzt nicht neben mir. Irritiert über seinen Gedanken, schaute er kurz auf das Lenkrad, dann wieder zu ihr hinüber. Sie war sympathisch, sehr sogar. Eine hübsche, natürlich wirkende junge Frau.
Ein Glücksimpuls durchfuhr ihn und entspannt legte er seine Hände auf die Oberschenkel. Warum beruhigte ihn die Annahme, dass sie Single war? In wenigen Minuten würde der Abschleppwagen kommen. Dann trennten sich ihre Wege und sie würden sich nie wieder sehen.
Ihre Lippen wirkten ein wenig trocken, und als hätte sie seinen Gedanken gehört, zückte sie einen Labello aus der Jackentasche. Er sah ihr dabei zu, wie sie mit dem Stift ihre Lippen nachfuhr. Verdammt, war das sexy. Zu gerne würde er mit seiner Zunge … Nun reiß dich mal zusammen!
Seine Augen wollten nicht von ihr weichen. Ihre von einem Haargummi kaum gebändigte feuerrote Lockenpracht entfaltete sich über ihren Schultern. Die Frau war eine Nixe! Soviel stand für Linus fest. Was für ein Anblick!
Der Schweiß brach ihm in den Handflächen aus und verstohlen wischte er sich über die Schenkel.
»Also, wenn Sie möchten, dann – können Sie mit mir mitfahren. Wir folgen dann einfach dem Abschleppwagen.«
Ihr Lächeln war umwerfend.
»Gerne. Aber haben Sie denn nichts anderes vor? Ihre Familie wartet doch bestimmt schon auf Sie?«
»Nein, ich lebe zur Zeit alleine.«
»Ach so, Strohwitwer.«
Du meine Güte, sie hatte ihn missverstanden. Allein ihr direkter Blick brachte ihn schon völlig durcheinander, und nun sollte er am besten gleich diesen Irrtum klar stellen. Verdammt, warum eigentlich? Das ging sie doch überhaupt nichts an, ebenso wenig wie ihn ihr Privatleben!
»Äh nein, ich meine, ich lebe überhaupt alleine.«
Nun senkte sie kurz die Lider, als wäre sie ein wenig verlegen. Hatte sie ohne Nachzudenken gefragt, aus purer Neugierde?
»Sie müssen also kein schlechtes Gewissen haben, aber wenn Sie lieber in den Abschleppwagen umsteigen?« Ein kurzer Blick in den Seitenspiegel zeigte ihm, dass dieser sich auf der Standspur näherte.
»Nein! Nein, ich würde sehr gerne bei Ihnen mitfahren.«
»Prima. Ich steig schon mal aus und helf dem Fahrer beim Aufladen. Sie können gerne sitzen bleiben.«
»Danke.«

6
Kopfschüttelnd betrachtete Maik das Konterfei seines Freundes in der Kontakteliste. Idiot, formulierten seine Lippen stumm. Das Handy beiseite legend versuchte er sich wieder auf seine Programmierung zu konzentrieren, was ihm nach Störungen jeglicher Art normalerweise mühelos gelang, als überlegte sein Gehirn in einem automatikgesteuerten Paralleluniversum weiter. Einsatzbereit lagen seine Finger auf den Tasten, bereit seine Anweisungen synchron zu übertragen. Aber – nichts. Sein Blick schweifte am Monitor vorbei durch den nüchtern gestalteten Raum, dessen einziger optischer Reiz in mehreren stachligen Kakteen bestand, die sein Kollege Tim auf dem Fensterbrett pflegte.
Der breite Bürostuhl mit dem abgewetzten Leder auf den Armlehnen klappte nach hinten. In der ansonsten funktional und modern eingerichteten Büroumgebung machte sich das Monstrum mit den deutlichen Abnutzungsspuren wie ein Fremdkörper aus. Trotzdem hatte der Chef schulterzuckend dem Einzug von Maiks persönlichem Baby zugestimmt, vielleicht weil er ahnte, dass sein Programmiergenie auf diesem Stuhl zu Höchstform auflief.
Schnaufend streckte dieser nun seine Beine von sich, legte den Kopf zurück und die Hände über dem Bauch zusammen, um nachzudenken.
»Was ist denn mit dir los? Funkloch?«, fragte Tim, einen kritischen Blick zu Maik hinüber werfend.
Funkloch war für sie ein Synonym gleichbedeutend damit, dass die Programmierung oder ein anderer Arbeitsvorgang gerade mangels Ideenansatz stoppte. Das konnte jedem Mal passieren. Schließlich waren sie immer noch Menschen, keine Roboter, auch wenn andere das gelegentlich abschätzig behaupteten, weil sie manchmal den ganzen Tag in ihre Tastatur hämmerten, ohne dass man den Eindruck hatte, sie würden atmen oder hätten andere menschliche Bedürfnisse.
Für gewöhnlich redeten Maik, Tim und die beiden Grafiker Melanie und Thorsten, die dasselbe Büro teilten, nicht viel miteinander. Zwar halfen sie sich bei Problemen, manchmal arbeiteten sie sogar am selben Projekt, aber zumindest Maik und Tim lagen nicht auf derselben Wellenlänge. Ihr Umgang war sachlich und reduziert, aufs Notwendigste beschränkt. In einer nicht ausgesprochenen stillen Vereinbarung waren sie übereingekommen, sich einfach in Ruhe zu lassen und zu respektieren, so dass private Informationen völlig außen vor blieben.
Deshalb empfand Maik die Frage seines Kollegen im Augenblick als lästig und erwiderte einsilbig: »Just a break.«
Er schloss die Augen, um nochmal den Wortlaut des Telefonats zu überdenken. Warum hatte Linus ihn nicht ins Vertrauen gezogen? Sie waren dicke Freunde seit der Grundschule, hatten jede Ferien miteinander verbracht, trafen sich mindestens einmal die Woche. Nicht ein einziges Wort hatte Linus über diese Partnervermittlung verloren. War es ihm einerseits so wichtig, die Frau fürs Leben zu finden, andererseits dieser Weg zu peinlich, um ihn seinem besten Freund anzuvertrauen? Und warum zum Teufel hatte er nicht sein eigenes Foto verwendet?
Eigentlich war dies doch nichts anderes als ein Blind Date. Vielleicht hatte die Frau ja ebenfalls ein falsches Foto gepostet, falsche Informationen eingegeben, angepasst an das, was Linus ihr unwissentlich als Köder geliefert hatte. Was, wenn Linus sich in seinem unbeirrbaren, unsäglichen Glauben an dieses dämliche Horoskop Hals über Kopf in ein Liebesabenteuer stürzte, das ihm das Herz brach?
Maik setzte sich wieder auf und betrachtete sein Spiegelbild in der glänzenden Scheibe des Monitors, der sich mittlerweile zu einem schwarzen Bildschirmschoner gedimmt hatte, der nichts als die aktuelle Uhrzeit anzeigte. Er selbst empfand sich nicht als schlecht aussehend und er hatte auch kein Problem damit, pummelig zu sein. Seine Eltern hatten stets hinter ihm gestanden und ihm geholfen, ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Auch bei seiner Freundschaft mit Linus waren Äußerlichkeiten nie ein Thema gewesen. Sie verstanden sich einfach gut, heckten zusammen Streiche aus, vertrauten sich – bis jetzt.
Warum hat er mein Foto verwendet? Maik zog die Stirn in Falten. Bei allem Selbstbewusstsein war ihm durchaus klar, dass er es mit Linus’ Erscheinungsbild nicht aufnehmen konnte. Sein Freund war so attraktiv, dass die Frauen ihn anhimmelten, aber das genügte nicht. War es das? Hoffte Linus auf eine weniger oberflächliche Beziehung, indem er sich als äußerlich weniger optimiert ausgegeben hatte?
Eigentlich sollte er deswegen sauer auf ihn sein. Aber Maik hatte ein großes Herz, er konnte einfach nicht. Und wenn es so war, wie kam Linus darauf, dass dies eine gute Idee sei? Denn wenn – na, dann hätte doch Maik inzwischen längst selbst die Liebe seines Lebens gefunden. Dem war jedoch nicht so. Ihn nahmen die Frauen nicht ernst. Er war wohl nichts mehr als ein gemütlicher Teddybär, und wenn sie davon genug hatten, sehnten sie sich nach einem Mann, der vorzeigbarer war. Vermutlich spätestens dann, wenn ihre innere Uhr die Auswahl für den späteren Samenspender ihres Nachwuchses in Frage stellte. Wie auch immer. Solange Maik von Zeit zu Zeit ein erotisches Abenteuer erlebte, bei dem er auf seine Kosten kam, war ihm eine echte Beziehung nicht wichtig. Im Grunde genommen war er doch eher mit seiner Arbeit verbandelt. Bei richtiger Eingabe machte das Programm genau das, was er wollte. Von Frauen ließ sich das nicht behaupten.
Egal. Was war das für eine Frau, die sich angeblich in dieses rundliche Gesicht mit der Stupsnase, der eher blassen Haut mit unzähligen Sommersprossen, und dem kleinen Mund verguckt hatte, hinter dem sich ein paar unkonventionell stehende Zähne offenbarten? Was für Absichten verfolgte sie wirklich?
Noch ehe Maik zu Ende gedacht hatte, wurden seine Finger wie von selbst auf dem Handydisplay aktiv. Es galt, seinen Freund vor dessen grenzenloser Naivität zu schützen und diese Frau in Augenschein zu nehmen, die ihn ins Unglück stürzen könnte.

»Also Alter, nochmal zu deinem Anliegen: du willst wirklich, dass ich dahin gehe und dich vertrete?«, fragte Maik, kaum dass das Wählsignal verstummt war.
»Ja, sicher, du würdest mir wirklich einen Riesengefallen tun. Erklär’ ihr die Situation. Irgendwie. Bitte. Sag ihr, wie leid es mir tut. Das ist zumindest persönlicher als zu schreiben.«
Anscheinend war sein Freund jetzt schon gespannt auf die Reaktion seines Dates.
»Na gut, du verrückter Idiot. Ich mach’s. Allerdings musst du mir noch erklären, warum du mein Foto verwendet hast.«
Er hörte, wie Linus einen Seufzer von sich gab. Tja Alter, du hast dir das eingebrockt, nun mal raus mit der Wahrheit.
»Es ist keine Zeit für Erklärungen. Du hast noch genau fünf Minuten.«
Maik gab ein gequältes Lachen von sich. »Also im Prinzip gar keine Zeit, Umziehen ist da nicht mehr drin.« Er sah an sich herab. Na ja, wenigstens war da kein Ketchup-Fleck vom Mittags-Hamburger auf dem Shirt. Zwar legte er auf seinen Kleidungstil nicht so viel Wert, aber durchaus auf Sauberkeit, vor allem wenn es darum ging, eine Frau zu treffen. »Aber dass dir eins klar ist, die Sache mit dem Foto hat noch ein Nachspiel. Von wegen Datenschutz und so. Da bist du mir was schuldig!«, knurrte er verärgert. »Also, sie erkennt mich, und was ist mit mir? Wie sieht SIE aus? Und wie heißt sie überhaupt?«
»Maureen«, stieß Linus atemlos hervor.
Mann, dem ging wohl ganz schön die Düse. Musste ja eine mächtig attraktive Braut sein, wegen der er so einen Aufstand machte. Allmählich wurde Maik neugierig auf dieses Treffen.
»Sie heißt Maureen. Ich schick dir gleich ihr Foto. Und Maik – danke!«
»Mmmmh.«
Maik legte auf und wischte sich über die Stirn. Wenige Sekunden später meldete sein Handy fiepend den Eingang einer neuen Nachricht.
»Wow!« Sein Puls beschleunigte sich in Sekundenschnelle. Eins zu Null für die Frau. Leuchtend blaue Augen strahlten mit einem sympathischen, selbstbewussten Zahnpastalächeln um die Wette. Das dezent geschminkte Gesicht wurde von ellenlangen schwarzen Haaren umrahmt.
»Maureen«, murmelte Maik, während er seinen Bildschirm sperrte, aufstand und in seine Jeansjacke schlüpfte. Plötzlich konnte er es kaum erwarten, bis der Aufzug ihn die sechs Stockwerke des Medienhauses hinabgebracht hatte. Wie lange hatte er kein Date mehr gehabt? Also ein eigenes. Egal.
So schnell es seine Beine zuließen und ohne dabei zu sehr außer Atem zu geraten, nahm er den Weg Richtung Restaurant. Weit in der Ferne wurden eine Handvoll Wolken von der Sonne, die schon hinter den Dächern verschwand, in intensivem Rot angestrahlt. Ein letztes Zucken vor der nächtlichen Dunkelheit. Verdammt, war das kalt. Hatte er nicht heute Morgen einen Schal dabei gehabt? Egal, der würde bestimmt irgendwo im Büro liegen.
Maik fuhr sich mit den Fingern durch seine Igelfrisur und über die Augen, prüfte den Sitz seines Gürtels und ob der Reißverschluss seiner Hose geschlossen war. Man konnte ja nie wissen.
Er wich ein paar jungen Leuten aus, die ihm entgegen kamen, ausgelassen, fast hüpfend, ohne auf andere Passanten zu achten. Ein Mädchen streifte seinen Arm. »Entschuldigung«, murmelte es erschrocken, ehe es weiterging.
Maik lächelte ihr hinterher. »Schöne Frauen sollte man eigentlich nicht warten lassen«, flüsterte er und kicherte in sich hinein. Ein aufgeregtes Kribbeln bemächtigte sich seines Körpers und versetzte ihn in eine erwartungsvolle Stimmung. Er würde Maureen nicht einfach nur Linus’ Bedauern aussprechen und die Situation erklären. Wenn er sich schon für einen solch’ ungewöhnlichen Freundschaftsdienst opferte, dann würde er diesen Abend auf jeden Fall genießen!
Rund zehn Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt traf Maik am Assado ein. Das war fast noch besser als seine normale ›Pünktlichkeit‹, mit der er es nie besonders genau nahm. Er blieb stehen, zupfte an seiner Jacke. Zweimal tief durchatmen und die Luft bis zum Letzten ausstoßen. Dann zog er die gläserne Eingangstür auf und ging hinein.
Es war schon eine Weile her, dass Maik hier gewesen war. Um alleine auszugehen war das Assado zu stilvoll. Hier ging man nicht nur hinein, um zu speisen, sondern um einen schönen Abend in geselligem Miteinander zu verbringen.