- -
- 100%
- +
„Ist ja gut Kleines. Ist alles in Ordnung. Es hört gleich auf zu bluten“, beruhigte David sie und nahm sie auf seinen Arm, wobei er sorgsam darauf achtete, dass er ihre linke Hand nicht bewegte. Ihre Tränen durchnässten den Ärmel seines T-Shirts und vermischten sich dort mit dem aus ihrer Nase laufendem Sekret. Vor dem Sofa blieb er stehen und setzte sie ab.
„Sieh mich an, meine Süße“, sagte er mit beruhigender Stimme während er sich vor sie hockte und begann ihren Kopf zu streicheln. Zoes Blick wanderte zu ihrer verletzten Hand. Sie schien kurz davor zu sein, einen weiteren Heulkrampf zu bekommen.
„Hey, ich bin hier oben“, riss David sie aus ihrem Tunnelblick. „Alles wird gut werden. Deiner Hand wird es bald besser gehen. Hab keine Angst, es blutet bald nicht mehr so schlimm.“
Doch seine beruhigenden Worte hatten keinen Einfluss auf sie. Sie schluchzte und weinte weiterhin in derselben Lautstärke wie zuvor. Im Hintergrund kehrte Faye die Scherben vom Boden auf. Eigentlich wollte sie David eine Szene machen, dass er sich doch gefälligst um sie kümmern sollte, jedoch konnte und wollte sie das nicht mehr, als sie gesehen hatte, dass er beinahe lehrbuchmäßig reagiert hatte. Es gab also keinen Grund, ihm einen Vorwurf zu machen. Ein erfahrener Sanitäter hätte zwar bemängelt, dass er Zoe nicht erklärt hatte, was er tun würde, um sie nicht zu verunsichern, aber sie wusste genau, dass das bei ihr auch nicht nötig war. Zoe vertraute ihm in jeder Situation blind und würde keine seiner Handlungen anzweifeln. Die Scherben klirrten, als sie im Mülleimer landeten.
„Es ist gar nicht viel Blut.“
Zoe hörte plötzlich auf zu schluchzen.
„Keine Sorge. Es wird dir gut gehen, meine Kleine“, fuhr er fort in dem Glauben, sie damit weiter von der Verletzung an ihrer Hand ablenken zu können. Das tat er auch. Die Angst und die Schmerzen ihrer Wunde waren vergessen. Jedoch weckten seine Worte eine neue noch viel größere Angst in ihr. Sie wusste nicht wieso und wollte es auch nicht wissen. Alles was sie wusste war, dass das, was er sagte, ihr mehr Angst einjagte als der Schnitt, der sich durch ihre linke Hand zog.
„Was ist passiert?“, unterbrach seine Mutter ihn. Beide sahen zu ihr auf. Ihre Haare waren zerzaust und klebten an ihrer schweißnassen Stirn.
„Ich hab ein Glas fallen gelassen, und sie hat sich an einer Scherbe geschnitten, weil sie helfen wollte“, log er ihr vor, um Zoe vor seiner Mutter zu schützen. Er konnte jetzt keine wütende Faye Williams gebrauchen, die der ohnehin schon eingeschüchterten Zoe sinnlos noch mehr Angst einjagen würde. Zu seiner Überraschung wurde sie aber nicht wütend. Weder auf ihn noch auf sie. Im Gegenteil. Sie schien beruhigt zu sein. Beruhigt, weil ihr Sohn ohne sarkastische oder beleidigende Bemerkungen mit ihr geredet hatte. Das kaputte Glas war nun eher sekundär in ihren Augen. Auch sie begann, Zoe zur Beruhigung leicht an der Schulter zu streicheln. Hilfesuchend sah Zoe, die auf dem hellbraunen Ecksofa saß, Faye an.
„Es verheilt bald wieder“, tröstete sie das kleine Mädchen und schenkte ihr ein freundliches Lächeln.
„Ich bringe sie besser mal nach Hause“, meinte David und sah seine Mutter in der Hoffnung auf Zustimmung an. Sie nickte verständnisvoll und streichelte ein letztes Mal Zoes Schulter.
„Wollen wir dich zu deiner Mom bringen?“ Sofort bejahte sie seine Frage. Nichts war ihr lieber, als nach Hause zu ihrer Mutter zu gehen, die sich vermutlich vollkommen überarbeitet um den Haushalt kümmerte, während ihr Vater mit einem Bier in der Hand auf dem alten blassgelben Gartenstuhl sitzen und ein Sportmagazin nach dem nächsten durchblättern würde. Ihm wäre es egal, ob sie wieder da wäre oder nicht, doch ihre Mutter würde sich sicher freuen, ihr kleines Mädchen wiederzusehen, bevor sie zu ihrem nächsten Job müsste. Schließlich arbeitete ihr Mann nicht mehr, seit er vor einigen Jahren wegen seinen Rücken- und Schulterproblemen von seinem Arbeitgeber gefeuert worden war. Seitdem hatte er nicht einmal versucht, sich eine neue Arbeitsstelle zu beschaffen, geschweige denn irgendwie anderweitig Geld zu verdienen. Er gab lieber das Geld, das seine Frau verdiente, für Alkohol, Zeitschriften und diverse Sportwetten aus. Wirklich Erfolg hatte er damit aber bisher noch nicht gehabt.
„Irgendwann wird er kommen, Sarah! Der große Coup! Der Tag, an dem ich mit einer Wette endlich abkassiere und keiner von uns mehr arbeiten muss. Vertrau mir! Ich brauche nur noch etwas Geld, um die Wetten zu finanzieren“, hatte er sie jedes Mal angebettelt nach einer vergeigten Wette und sie jedes Mal überzeugen können. Trotz seiner schlecht platzierten Wetten und seinem verschwenderischen Umgang mit dem Geld, das ihm formal nicht einmal gehörte, schlug sie ihm nie einen Wunsch ab. Ihre blinde Vernarrtheit in sein früheres Ich, das noch Erfolg im Leben hatte und sich nicht mittags um zwölf seine erste Dose Bier öffnete, war das Fundament ihrer Ehe. Früher einmal galt er als gefragter Security bei höheren Anlässen und war auf dem besten Weg, nach ganz oben aufzusteigen. Doch eines Tages nahmen seine körperlichen Beschwerden überhand, und er bekam noch im Krankenhaus sein Kündigungsschreiben. Einen physisch eingeschränkten Security konnte man schließlich nicht gebrauchen. Ein paar wenige Male hatte er versucht, als Türsteher bei einem miesen Nachtclub wieder den qualifizierten Security zu mimen, doch bereits die erste Auseinandersetzung machte sein Rücken nicht mehr mit, und er gab das Security-Dasein auf. Von dem Tag an saß er zuhause rum und vertrieb sich die Zeit mit Trübsal blasen und eine Dose Budweiser nach der nächsten in sich hinein zu kippen. Wie jeder andere in dem kleinen Dorf hatte also auch er eine Geschichte, die nicht als Komödie sondern als Tragödie zu erzählen war.
Zoe erhob sich leicht schniefend vom Sofa und versuchte, in ihre halboffenen zitronengelben Schuhe einzusteigen.
„Warte, ich helf dir“, bat David ihr an und weitete die Schuhe mit beiden Händen, um ihr den Einstieg zu erleichtern. Langsam steckte sie erst ihren rechten und dann ihren linken Fuß in die Schuhe, welche David dann mit dem vorhandenen Klettverschluss schloss.
„Bin gleich wieder da, Mom“, verabschiedete er sich kurz angebunden und zog sich nun auch seine Skechers an.
„Ich sauge die übrigen Splitter in der Zeit weg“, sagte sie, und ein Hauch von Zufriedenheit mischte sich in ihren Satz ein. Der Stolz darauf, wie ihr Ältester reagiert hatte, schien noch etwas vorzuhalten.
„Danke“, erwiderte er trocken und öffnete Zoe, der es immer noch aus Angst die Sprache verschlagen hatte, die Tür. Dann verließen sie gemeinsam das Haus und ließen eine unentschlossene Faye zurück, die sich im Unklaren war, ob sie es übers Herz bringen würde, ihren Sohn weg zu schicken. Wäre es ein ganz normaler Ort an den sie ihn schicken würde, würde ihr die Entscheidung leicht fallen. Aber da man so allerhand hörte und mitbekam von anderen Eltern, war die Wahrscheinlichkeit nicht sonderlich hoch, dass er je zurückkehren würde. Sie holte den Staubsauger aus der Besenkammer und dachte nicht weiter über diese Frage nach, sondern beschäftigte sich mit der Problematik, wie sie, ohne sich Socken oder Schuhe holen zu müssen, nicht in die kleinen Splitter trat, die die Größe eines Reiskorns hatten und weit auf dem Boden verstreut lagen.
8
„Hey, meine Süße“, begrüßte Mrs. Hillton ihre kleine Tochter, die eilig durch das Gartentor auf sie zu lief.
„Guten Abend Mrs. Hillton“, rief David Zoes Mutter zu und blieb im offenen Tor stehen.
„Hallo David“, antwortete sie ihm lächelnd. Ihre hellblonden Haare waren zu einem Dutt zusammengebunden, der ebenso perfekt aussah wie ihre makellose, strahlend weiße Haut. Genau wie ihre Tochter hatte sie einen Eisenmangel, gegen den sie nicht wirklich etwas taten, weswegen keiner von beiden wirklich braun wurde, sondern sie ganzjährig blass wie Vampire blieben. Als ihre Mutter grade auf den Verband aufmerksam wurde, sah David bereits, wie ihr Vater sich schon von seiner Zeitschrift abwand und das Geschehen beobachtete.
„Mädchen, komm her!“, brüllte er seine Tochter an. Auch er hatte den Verband entdeckt.
„Cal, bitte hör auf!“, herrschte seine Frau ihn an. Sie wusste, wie er war, wenn er betrunken und frustriert war, wie genau jetzt in dieser Situation. Dadurch, dass es schon nach sechs Uhr war, arbeitete er immerhin schon seit fast sechs Stunden seinen Vorrat an Bierdosen ab. Zudem war er erst recht aufgestachelt, weil seine Frau ihn vorhin, als die kleine Göre weg war, nicht rangelassen, sondern nur gemeint hatte, dass sie nicht könne, weil sie sich um die Wäsche kümmern müsse. Dämliches Weibsbild. Wieso musste er auch immer so gnädig sein und ihr eine Wahl lassen, ob sie denn mit ihm schlafen wolle oder nicht. Schließlich war sie mit ihm verheiratet und hatte ihre eheliche Pflicht zu erfüllen. Keiner könnte ihn anzeigen, dass er sie vergewaltigen würde, es gehörte zu ihrer Pflicht, sich es von ihm besorgen zu lassen.
„Komm her, hab ich gesagt!“, wiederholte Cal sich lautstark und ungewollt lallend. Allgemein betrachtet ließen sich alkoholisierte Menschen in zwei Kategorien einteilen. Zum einen gab es berauschte Personen, die, wie Paul Williams, anhänglicher wurden und den Gegenüber nicht mehr loslassen wollten. Und zum anderen gab es Personen, wie Cal Hillton, die anfingen, aggressiv zu werden und ihren Gegenüber nicht umarmen sondern am liebsten dessen Auto – oder noch besser dessen Gesicht – mit seinem BB-10 Profi Baseballschläger von barnett (Modell 210 -4) ein neues, in seinen Augen optimiertes, Aussehen verpassen würden. Zögerlich ging Zoe auf ihn zu. Davids Blick und der ihrer Mutter folgten ihr sorgend.
„Was ist das?“, fragte ihr Vater und zeigte auf den Verband. Das Bild, das er bot, war das eines klischeehaften Arbeitslosen. Schlecht rasiert, Dreitagebart, glasiger Blick, das weiße Unterhemd spannte über den immer größer werdenden Bierbauch und seine Schultern wurden von einem aufgeknöpften, kurzärmligen, grün weiß karierten Hemd verdeckt. David musste sich an Mrs. Prentons Taschentuch erinnern, das sowohl dieselbe Farbe, als auch dasselbe Muster wie das Hemd des betrunkenen Cal Hillton hatte. Man könnte meinen, sie hätte es sich aus den fehlenden langen Ärmeln seines Hemdes selbst herausgeschnitten.
„Ich hab mich geschnitten“, erzählte sie kleinlaut. Sie hatte Angst, ihm in die Augen zu sehen. Außerdem konnte sie den strengen Biergeruch aus seinem Mund nicht ertragen, jedoch würde sie das nie offen zugeben, ansonsten würde er wieder einen seiner Anfälle bekommen, wie ihre Mom es ausdrückte.
„Wer hat das getan?“, fragte er weiter. Man konnte förmlich spüren, wie die Wut in ihm aufstieg. Zwar gab es keinen Grund dafür, doch nachdem seine Frau sich nicht hatte anfassen lassen, musste er seinen Frust an etwas auslassen. Auch wenn dies seine eigene Tochter war.
„David hat das gemacht“, antwortete Zoe ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass ihr Vater die Verletzung und nicht den angelegten Druckverband meinte. Keine Sekunde später hatte Cal seinen Sündenbock gefunden, an dem er seinen Frust auslassen konnte.
„Hast du meine Tochter verletzt?!“, brüllte er dem verwirrten David entgegen und erhob sich von seinem Thron, in Form eines gelben durchgesessenen Gartenstuhles. David wusste nicht, was er antworten sollte. Wie angewurzelt stand er auf den aus Muschelkalk gefertigten Pflastersteinen, welche den Weg vom Gartentor bis zur Haustür zierten. Bevor ihm überhaupt bewusst wurde, was sich in diesem Moment in Cals Kopf abspielte, hatte dieser bereits die Hälfte des gepflasterten Weges zurückgelegt.
„Was hast du meiner Tochter angetan?!“, brüllte er ihn immer noch lallend und voller aufgestauter Wut an. David wich ein paar Schritte vom Tor zurück.
„Daddy, er hat mir nicht weh getan!“, kreischte Zoe ihm in Angst um David hinterher.
„Cal, lass ihn in Ruhe!“, mischte sich nun auch seine Frau ein.
„Halt dich da raus, du Schlampe!“, peitschte er seiner Frau entgegen. Selber Schuld. Hättest du dich einfach von mir ficken lassen, dann wäre das hier auch nicht notwendig gewesen. Denn genau das war es. Notwendig. Irgendwie musste er ja seinen sexuellen Frust abbauen können. Dass es in dem Fall nun David traf, der ihm absolut nichts getan hatte, war halt einfach Pech für den Jungen.
„Ich habe Ihrer Tochter nichts…“, doch weiter kam er nicht, da Zoes aufbrausender Vater das Tor erreicht hatte und ihn nun am Kragen packte.
„Was hast du meiner Tochter angetan, du verdammter Hurensohn?!“
„Nichts, Mr. Hillton!“, antwortete David mit sicherer Stimme. Die Sicherheit in seiner Stimme stachelte Cal noch weiter auf. Wie konnte der Bengel es wagen, keine Angst vor ihm zu haben? Nahm er ihn etwa nicht ernst? Hielt er ihn für einen Witz? Für einen Trunkenbold, der einfach in eine Zwangsjacke gehörte und nichts tat, außer Reden zu schwingen? Für einen abgehalfterten Ex-Security, der nicht einmal mehr in der Lage war, sich selbst gegen einem Teenager zu verteidigen?
„Hör auf zu lügen!“ Er zerrte an seinem Kragen, der bereits deutlich weiter war, als es eigentlich vom Hersteller vorgesehen war.
„Na warte! Ich prügle dir deinen kranken, pädophilen Tick aus deinem beschissenem Hirn!“ Mit diesen Worten holte er aus und schlug ihm mit der Faust, trotz seines hohen Promillegehalts, zielsicher auf sein linkes Auge. Der Schlag war nicht wirklich das, was man einen Kanonenschuss nennen würde, aber auch nicht das was man als Windhauch bezeichnen würde. Man konnte deutlich merken, dass er nicht mehr in der Form war, in der er sich befunden hatte, als er auf dem Höhepunkt seiner Security Laufbahn angekommen war.
„Cal, hör auf!“, kreischte seine Frau hinter ihm, traute sich jedoch nicht an ihn heran. Zoes betrunkener Vater wollte grade zum zweiten Schlag ausholen, als David überraschenderweise zum Gegenschlag ausholte und ihm mit voller Wucht einen sauberen Haken verpasste. Mr. Hillton taumelte ein paar Schritte rückwärts, dann fiel er auf den Boden, wobei er sich zumindest so abfangen konnte, dass er auf seinem Hintern landete und nicht mit dem Kopf auf den harten Pflastersteinen. Er gab ein kurzes würgendes Geräusch von sich und erbrach eine galleähnliche Flüssigkeit, in der ein Stück seines Schneidezahns schwamm. Wegen seines hohen Alkoholkonsums und seinem geringen Konsum von fester Nahrung hatte er lediglich etwas Magenflüssigkeit erbrechen können. An dem Erbrochenen traf David keine Schuld. Cal hätte sich so oder so übergeben müssen, darauf hatte Davids Notwehr keinen Einfluss gehabt. An dem Stück Zahn, das darin schwamm jedoch schon. Der Kinnhaken, den David ihm verpasst hatte, hatte einen seiner oberen Schneidezähne so hart auf die unteren prallen lassen, dass dieser zur Hälfte abbrach und mit einer ordentlichen Portion seines „leeren“ Mageninhalts hinausbefördert wurde. Zoe stürmte auf David zu und klammerte sich mit ihrer gesunden Hand an seinem rechten Bein fest. Ihre Angst vor ihrem Vater war vergessen. Jetzt hatte sie nur noch Angst um David. Sie wusste, dass ihr Vater nicht so reagiert hatte, weil er sie beschützen wollte und sich um sie sorgte. Wenn er das wirklich machen wollen würde, hätte er sie nicht so oft geschlagen und ihr wehgetan. Mrs. Hillton lief währenddessen zu ihrem auf dem Boden sitzenden Mann, welcher schwer atmete und nach Luft zu ringen schien.
„Ruhig atmen, Cal. Atme ein“, sie holte Luft. „Und atme aus“, sagte sie und stieß die eben eingeatmete Luft wieder aus.
„Es tut mir so leid, Mr. Hillton! Ich wollte Sie nicht verletzen!“, entschuldigte er sich eifrig, wahrte aber weiterhin den Abstand zu ihm.
„Verschwinde Junge“, keuchte er, während er immer noch damit kämpfte, seine Atmung wieder regulieren zu können. Mrs. Hillton drehte sich zu David herum und nickte ihm mit einer unterschwelligen Entschuldigung zu, dass es besser wäre, wenn er jetzt gehen würde. Zoe aber hinderte ihn daran, indem sie sich noch fester in sein Bein krallte und ihn flehend ansah, bei ihr zu bleiben.
„Rufst du mich morgen an?“, fragte sie ihn traurig und legte ihren besten Bettelblick auf.
„Versprochen“, sagte er und tätschelte ihren Kopf. Ihr Klammergriff lockerte sich, womit sie ihn offiziell zu seinem Nachhauseweg entließ.
„Bis morgen, Kleine.“
„Machs gut, David“, erwiderte sie.
„Mach dir keine falschen Hoffnungen! Ich werde dafür sorgen, dass dieser Perverse nie wieder ein Wort mit dir reden wird!“, hörte er Cal wutentbrannt sagen, während er sich vom Grundstück der Hilltons entfernte. Im Stillen hoffte er, dass Cal heute noch ein paar Bier mehr trinken würde und heute in der Nacht, während er schlief, sein eigenes Erbrochenes ihm die Luftzufuhr abschnüren würde.
9
Stille herrschte in dem Haus der Williams, als David die Eingangstür öffnete. Er zog seine Schuhe aus und stellte sie sorgfältig unter die Garderobe zu den High Heels seiner Mutter. Echte Markenschuhe aus schwarzem Leder von Christian Louboutin. Normalerweise standen sie in ihrem Kleiderschrank, damit sie bestmöglich vor Schmutz und anderen unschönen Verunreinigungen geschützt waren. Sie standen aus dem Grunde dort, weil Faye die letzte Nacht gemeinsam mit ihrer Cousine – der Direktorin von Davids High School – im Club, welcher sich etwas außerhalb des Dorfes befand, durchgetanzt hatte. Geschlafen, beziehungsweise gewartet, bis sie wieder halbwegs nüchtern und imstande gewesen war, sich auf den Heimweg zu begeben, hatte sie bei ihrer Cousine, die nur einen knappen Kilometer von dem Club entfernt wohnte. Praktisch, wenn man Single war und keine anderen Interessen hatte, außer sich zu besaufen und sich auf der Tanzfläche einen attraktiven – oder auch weniger attraktiven, was machte das schon, wenn man sternhagelvoll war - Mann zu suchen und mit diesem im Besten Falle schnell nach Hause ins heimische Bett steigen zu können. Als Faye gegen neun Uhr zuhause angelangt war, kümmerten sie die Schuhe keinesfalls mehr. Sie wollte nur noch ins Bett und ihren Rausch ausschlafen können. Nachdem David seine Schuhe ausgezogen hatte, begab er sich in die Küche und öffnete den Tiefkühlschrank. Sofort spürte er die Kälte, die er abgab und seine überhitzte Haut zumindest kurzfristig auf eine angenehme Temperatur herunterkühlte. Er öffnete das Mittlere der fünf Fächer und holte einen Beutel heraus, in welchem sich eine Mischung aus diversen tiefgefrorenen Waldbeeren befand. Das gesamte Fach war bis oben hin gefüllt mit den blauen Plastikbeuteln. Eigentlich war fast der gesamte Tiefkühler gefüllt mit gefrorenen Früchten und Beeren jeder Art. Die Ausnahme stellten ein paar „Ben & Jerry’s Cookie Dough“ Eisbecher in der obersten Schublade dar. Faye hatte sie sich nach Pauls Trennung gekauft, um klischeehaft gegen den Frust und die Trauer anzuessen. Jedoch hatte sie bereits bei dem ersten Becher nach der Hälfte aufgehört, zu essen und somit das Drama beendet. Seitdem standen die übrigen zwei Eisbecher dort unberührt. Auch David wollte sie nicht anrühren, da sie ihm erstens einfach viel zu süß waren, und zweitens wurde sein persönliches Numbing selbst durch diese Masse aus Zucker, Vanilleextrakt, Kakao und Eiern ausgelöst. Zwar würde kein Psychologe der Welt es wirklich als Numbing in der Situation bezeichnen, sondern als Assoziierung mit einem schmerzlichen und bisher unverarbeiteten Ereignis kennzeichnen, aber dieses Wort verfolgte ihn immer und überall. Numbing war der Grund für seine zerrüttete Familie, somit gehörte es auch ein Stück weit zu ihm.
David drückte die Packung mit den Beeren auf sein linkes Auge, welches vor wenigen Minuten der betrunkene und gefrustete Cal Hillton versucht hatte, zu malträtieren. Inzwischen war es etwas angeschwollen und färbte sich bereits unter dem Augapfel leicht bläulich. Mit Schwung warf er die Tür zu.
„So eine Scheiße!“, brüllte er sich selbst an und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Küchenablage auf. Der gesamte Tag war ein einziges Desaster, und mittlerweile war er noch gereizter als heute Nachmittag, als seine vom Feiern übermüdete Mutter ihn aufgefordert hatte, sich für sein Verhalten und seine berechtigten Kommentare zu entschuldigen.
„Schatz, was ist los?“, fragte seine Mutter, die um die Ecke kam und immer noch dasselbe Outfit wie vor einigen Stunden trug.
„Wonach sieht es denn aus?“, entgegnete er genervt und starrte die blassgelbe Küchenwand vor sich an.
„Was meinst du?“ Verbittert erhob er sich aus seiner gebeugten Position und offenbarte seiner Mutter sein wachsendes Veilchen am linken Auge.
„David, was ist passiert?“, fragte sie erschrocken, „Bist du dem Abhängigen über den Weg gelaufen? Hat er dir das angetan?“
„Verdammte Scheiße, Nein! Lass doch endlich Trae aus deinen Fantasien raus, Mom!“, brüllte er ihr wütend entgegen und stützte sich wieder mit den Ellenbogen auf der Ablage auf. Seine Mutter war zwar verärgert über seinen Ausbruch, brachte dem jedoch nichts entgegen, da sie selbst wusste, dass es ungerecht war, direkt auf Trae zu schließen. Schließlich macht der Drogenkonsum einen Menschen nicht automatisch zum Schläger oder zu einem schlechten Menschen.
„Mr. Hillton hat mich geschlagen. Er war betrunken und dachte, ich hätte Zoe verletzt und sie absichtlich mit einer Glasscherbe geschnitten. Er hält mich für irgend so einen Pädophilen, glaube ich, der seine Tochter anfasst und irgendwelche kranken Fetische an ihr ausüben würde“, erklärte er seiner Mutter mit gedrosselter Lautstärke. Wie erwartet reagierte seine Mutter nicht. Alles, was sie tat, war ihm sanft den Arm um die Schulter zu legen. Keine tröstenden Worte oder eine Empörung über sein Verhalten. Einfach nur ihr Arm und seine Schulter. Genau wie früher schon, war sie unfassbar schlecht darin eine Mutter zu sein und sich wie eine zu verhalten. Sie scheute sich nicht einmal davor, ihr Desinteresse offen zu zeigen. Der einzige Versuch, einen Hauch an Interesse vorzutäuschen, bestand darin, dass sie sich überhaupt dazu herabließ, ihn zu fragen, was passiert sei.
„Wie ist es ausgegangen?“, erkundigte sie sich, wobei die Frage nach dem Ausgang der Situation aus ihrem Munde so klang, als würde sie nach den Ergebnissen vom Sport fragen, und nicht nach der körperlichen Auseinandersetzung ihres Sohnes mit dem betrunkenen Mr. Hillton.
„Ich habe versucht, mich zu wehren“, erzählte er.
„Ich habe ihm einen Kinnhaken verpasst. Er fiel hin und musste sich übergeben. Ich habe ihm scheinbar einen Zahn ausgeschlagen, jedenfalls hat er ein Stück davon ausgespuckt.“
Enttäuscht von sich selbst senkte er den Blick. Sein Vater hatte ihm früher beigebracht, dass, wenn jemand ihm auf die Wange schlägt, er auch die andere hinhalten solle. Er hatte gesagt, dass das eine von Jesus‘ Lehren aus der Bibel sei und er sich daran halten müsse und keinem Schaden zufügen dürfte, schließlich sei er ein guter Christ, was er in Wirklichkeit ganz und gar nicht war. Was er ihm jedoch nicht erzählt hatte, war, dass Jesus, wenn ein übergewichtiger, wütender Ex-Security auf ihn einschlagen würde, er sich diese Worte wahrscheinlich noch einmal gut überlegt hätte.
„Ich bin stolz auf dich“, sagte seine Mutter, womit sie erneut ihre Unfähigkeit bestätigte. Kein vernünftiges Elternteil würde seinem Sohn sagen, dass es stolz auf ihn wäre, wenn er einen Mann, der ihn geschlagen hatte, zurückgeschlagen hätte. Ein verständnisvolles „es war nicht deine Schuld, du hast dich schließlich nur gewehrt“ wäre die deutlich neutralere und pädagogisch wertvollere Aussage gewesen.
„Als ob du wüsstest, was es heißt, stolz auf mich zu sein“, entgegnete er ihr schlagkräftig und entzog sich ihrer Umarmung.
„Was soll das schon wieder heißen?“, fragte Faye aufgebracht.
„Sag mal, ist eigentlich alles, was ich sage, so ein großes Rätsel für dich?“
Seine Mutter reagierte nicht.
„Du hast doch keine Ahnung was es heißt stolz zu sein! Was du als Stolz bezeichnest, ist einfach nur deine Ignoranz und deine elende Vorstellung, alles zu wissen und jedem etwas vormachen zu können!“ Während er seine Schimpftirade hielt, entfernte er sich immer weiter von ihr, wobei er ihr jedoch weiterhin in die Augen sah. Er wollte, dass sie sah, wie ernst es ihm war. Ansonsten würde sie wieder mithilfe ihrer Klatschblattweisheiten schlussfolgern, dass er, wenn er sich von ihr abwendete, einfach zeigte, dass er verletzt wäre. Dies müsste dann nicht einmal auf sie zurückzuführen sein, hatte sie gelesen. Jedenfalls redete sie sich das ein, denn in Wahrheit hatte sie noch nirgendwo gelesen, dass der Angesprochene somit von jeder Schuld ausgenommen werden konnte.




