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„Vielleicht habe ich das ja auch“, murmelte Trae unverständlich. Er entdeckte die Ecke eines weiteren Bildes, welches hinter einer Zeichnung hervorschaute, die sich in der Nähe des linken Türrandes befand. Obwohl er die Zeichnungen alle selbst entworfen hatte, konnte er sich nicht an alle erinnern. Jeden Tag entdeckte er einen neuen Alptraum, den er zu Papier gebracht hatte. Neugierig griff er nach der Ecke des versteckten Blattes und entfernte den Magneten von dem Bild, welches es verdeckte. Das Vordere befestigte er erneut mit dem Magneten an der Wand.
„Was hast du gesagt?“, fragte David und warf gelangweilt den Basketball in den ähnlich kleinen Korb, der über seinem Spiegel hing.
„Hm? Nichts, alles in Ordnung“, entgegnete Trae abgelenkt von dem Bild in seiner Hand.
„Wenn du meinst.“
„Ja, ja, schon gut. War wahrscheinlich einfach ein Blackout. Die Hitze setzt mir einfach zu, verstehst du?“
Mit dem Bild in der Hand setzte er sich wieder auf sein schmales Bett. Zum Glück war er selbst sehr schmächtig und passte deswegen noch problemlos hinein.
„Wem sagst du das. So geht es uns doch allen im Moment. Wenn man dann auch noch so high ist wie du, dann wundert es mich wenig, dass man einfach mal die Nerven oder das Gedächtnis verliert.“
„Mann, das liegt nicht an dem Stoff. Ich werde einfach nur alt, das ist alles“, erklärte er David scherzend.
„Mit deinen achtzehn Jahren sollte ich dich eigentlich längst ins Altersheim gesteckt haben“, führte David schmunzelnd weiter aus.
„Ist doch geil. Dann krieg ich das Zeug sogar legal und gehe gleich zum nächstbesten Cop, den ich finde und rauche genüsslich vor ihm meinen Joint.“
Die Vorstellung gefiel ihm so gut, dass er das Bild, welches er vor sich auf das Laken gelegt hatte, für einen Augenblick vergaß.
„Wie wärs mit Hank Thompson?“, fragte David und hob den Basketball vom Boden auf. Schallendes Gelächter ertönte aus den Lautsprechern des Handys.
„Billy, du bist genial“, lobte Trae ihn, „Hank Thompson. Die lebendige Mettwurst, die mich beinahe hätte auffliegen lassen. Gut, dass du ihn für seine schmutzigen Geschäfte angezeigt hast.“
„Er hatte es nicht anders verdient.“
„Da sagst du was Wahres, Bruder.“
Den Blick auf das Bild gerichtet, suchte er mit seinen Finger die halb aufgerauchte Packung Chesterfield, die auf seinem Nachttisch lag.
„In wie vielen Fällen haben sie ihn nochmal drangekriegt?“
„Dreizehn in Kinderpornographie, zwei in Kindesmissbrauch und vier wegen sexueller Belästigung“, zählte David auf und warf ein weiteres Mal auf den Korb an seinem Schrank. Zu seiner Enttäuschung musste Trae feststellen, dass sich in der Packung nur noch zwei Zigaretten befanden. Gekonnt schnippte er sich eine in den Mundwinkel und zündete sie mit einem Feuerzeug aus seiner Hosentasche an. Die Letzte ließ er unberührt in der Schachtel zurück. Er entschied sich, sie für eine Situation aufzuheben, in der er sich nur zu gerne an ihr festklammern würde, um Stress abzubauen. Die Schachtel legte er sorgfältig wieder auf den kleinen Tisch, der neben seinem Bett stand. Als er sie dort abgelegt hatte, griff er nach seinem Aschenbecher und stellte ihn neben sich ab. Entspannt nahm er den ersten Zug von seiner qualmenden Zigarette.
„Manche Menschen sind einfach nur krank. Wenn es einen Teufel gibt, dann sind das seine besten Freunde“, erzählte David sich selbst.
„Natürlich gibt es ihn, aber seine Freunde sind wir alle. Wenn wir sterben, landen wir alle in der Hölle, Bruder, so ist das nun mal.“ Ein wenig Asche fiel in den flachen schwarzen Aschenbecher. „Wieso?“, fragte David interessiert. Trae mochte zwar nicht der Klügste oder Hochbegabteste sein, aber manche Sachen, die ihm durch Kopf gingen, hatten viel Wahres und zum Teil auch Weises an sich.
„Komm schon. Nenn mir einen Grund, warum einer von uns beiden in den Himmel kommen sollte“, forderte er ihn auf.
„Vergebung“, antwortete David wie aus der Pistole geschossen. Er hatte sich lange Zeit mit diesem Thema nach den Ereignissen von vor drei Jahren beschäftigt. Sündenvergebung sei der Schlüssel zu Gottes Reich, den nur er uns geben kann, hatte ihm der Pastor der örtlichen Kirche gesagt, welchen er nach der Trennung seiner Eltern aufgesucht hatte. Sonderlich gläubig oder spirituell veranlagt war er nie wirklich gewesen, doch die Gespräche mit ihm hatten David immer einen inneren Frieden und eine Ruhe verschafft, die er bisweilen kaum erreichen konnte. An etwas wie ein Leben nach dem Tod konnte er glauben, doch der Gedanke eines reellen, gutmütigen Gottes schien ihm etwas weit hergeholt. Dafür gab es einfach keine ihm schlüssigen Erklärungen. Dafür gab es zu viel Leid und Ungerechtigkeit auf der Welt. Wenn es einen Gott geben würde, wollte er ihn nicht. Ein Gott, der seine selbst geschaffene Welt zugrunde gehen lassen würde und den Menschen, die auf ihr lebten, so ein schmerzerfülltes Leben gab, hatte für ihn nichts Gutmütiges oder Barmherziges an sich.
„Wie viele Menschen leben auf der Welt? Sieben Milliarden? Acht Milliarden? Gehen wir mal von knapp acht aus. Davon bezeichnen sich über sechzig Prozent als religiös. Das bedeutet vierzig Prozent der Weltbevölkerung beten nicht um Vergebung und sündigen schamlos. Kannst du mir folgen?“
„Klar, sprich weiter“, bat ihn David. Die Neugier hatte ihn gepackt. Er wusste genau, dass Trae wusste wovon er redete. Das wusste er immer. Er überlegte sich immer genau, was er sagte und wenn er es sagte, war er fest davon überzeugt. Man konnte es meist kaum glauben, wenn man mitbekam, was er für einen Stuss redete, wenn er high oder betrunken war, doch wenn er nüchtern war, was relativ selten vorkam, konnte er zum gelehrten Philosophen aufdrehen.
„Das heißt über drei Milliarden Menschen haben einen Freifahrtschein ins Fegefeuer. Es gibt ungefähr zwei Milliarden Christen. Wenn wir das auf uns Christen übertragen, sind das knapp achthundert Millionen Ungläubige.“ Er schnippte etwas Asche von seiner glühenden Zigarette.
„Von den übrigen Gläubigen lassen sich fünfzehn bis zwanzig Prozent scheiden. Wieder mehr als zweihundert Millionen Sünder, die gegen die Gebote verstoßen.“
„Moment Mal“, unterbrach David ihn und jonglierte den Ball in seinen Händen.
„Was ist mit den restlichen sechs Milliarden?“
„Die sind nicht das Problem unseres Gottes, David. Buddhisten, Muslime, Juden. Sie haben andere Heilige, denen sie vertrauen und ihre Sünden beichten. Stell es dir wie eine Schulklasse mit zehn Kindern vor. Jedes der Kinder hat andere Eltern, und jeder hat ein anderes Verhältnis zu ihnen und sieht sie auf eine andere Art. Manche lieben sie, manche hassen sie und manche werden von ihnen verstoßen und verletzt.“
Bläulicher Rauch stieg zur Zimmerdecke empor. Wie so oft, wenn er anfing genauer über etwas nachzudenken und zu philosophieren, hatte er seine Redegewohnheiten abgelegt. In seinen Sätzen verfingen sich keine überflüssigen Ausdrücke oder Bezeichnungen für David. Je mehr ihn etwas beschäftigte, desto ernster und sachlicher redete er darüber.
„Okay gut, aber das sind bloß etwas mehr als eine Milliarde, die in die Hölle kommen. Deine Rechnung geht nicht ganz auf, um nicht zu sagen sie ist weit von dem entfernt, was du beweisen willst“, bemängelte er.
„Warte doch mal ab.“
Es grenzte fast an ein Wunder, dass die Zigarette in seiner Hand das Einzige war, das Rauch abgab und sein ratternder Denkapparat nicht auch noch einen Teil dazu beitrug.
„Was ist denn mit den ganzen anderen Sünden? Jeder Mensch lügt in etwa 25 Mal an einem einzelnen Tag. Das sind 25 kleine Sünden, die jeder Einzelne von uns täglich begeht.“
David musste an die Situation vorhin denken, als er seine Mutter wegen des Glases angelogen hatte. Aber schließlich heiligt der Zweck die Mittel, und der Zweck war es, Zoe vor seiner aufgebrachten Mutter zu beschützen. Manchmal muss man eben eine kleine Sünde begehen, um eine Katastrophe verhindern zu können.
„Meinst du nicht, dass solche kleinen Vergehen kaum eine Rolle spielen werden?“ Nachdenklich nahm er den Ball von der einen in die andere Hand.
„Okay, gehen wir mal davon aus, dass kleine Notlügen vergeben werden können und keine Rolle spielen. Was bleibt dann immer noch?“, fragte Trae David und gestikulierte wild mit der Zigarette in seiner Hand umher. Etwas Asche rieselte auf seine Bettdecke.
„Sag du es mir“, bat er ihn und betrachtete sich im Spiegel seiner Schranktür.
„Erst einmal sind da die 10 Gebote. Auch, wenn wir von einem augenscheinlich korrekten und sündenfreien Christen ausgehen. Du kennst doch bestimmt Charles Bloom oder?“
„Der alte Mann, der ehrenamtlich in unserer Schulbibliothek aushilft?“
„Ja, genau der. Nie geschieden gewesen, nie seine Eltern verschmäht, nie jemanden ermordet, nie jemanden bestohlen, war stets jeden Sonntag in der Kirche. Trotzdem wird er, wie wir auch, nach seinem Tod in die Hölle kommen. Denkst du, er hat sich jemals an die Fastenzeit gehalten? Denkst du, er hat auch nur einmal seinen Rinderbraten an Karfreitag gegen einen Fisch ausgetauscht? Denkst du, er hat nie jemanden zu seinem eigenen Vorteil angelogen oder geflucht? Oder glaubst du, er war noch nie auf irgendetwas oder irgendjemanden neidisch?“
„Natürlich denke ich das nicht“, gab David zu.
„Und warum nicht?“
„Weil es nun mal menschlich ist.“
„Ja, verdammt richtig. Es ist menschlich.“
Begeistert zog Trae ein weiteres Mal an seiner Kippe.
„Es liegt in unserer Natur, Grenzen und Regeln zu brechen. So haben wir uns weiterentwickelt. So konnten wir Großes schaffen. Nimm nur die sieben Todsünden. Jedes riesige Bauwerk, jedes noch so prunkvolle Gebäude und jeder noch so teure überflüssige Gegenstand ist das Ergebnis von Völlerei und Maßlosigkeit. Päpste, Bischöfe, Kardinäle, alle sind sie in der Hölle gelandet, wegen ihrem verschwenderischen Leben, ihrem Geiz und ihrem Übermut. Die, die unsere Kirche und Religion als Stellvertreter Gottes darstellen, predigen Gott als liebenden Vater und gutmütigem Schöpfer. Aber wenn sie nicht das Glück gehabt hätten, solch eine Ausbildung zu erhalten, wo wäre dann ihr liebender Vater, wenn sie bettelarm auf der Straße gelandet wären? Entweder sind sie einfach schlecht in ihrer Aufgabe oder Gott ist grausam. Denn, wenn er tatsächlich so wäre, würde das bedeuten, dass er einen Teil der Menschen bewusst mehr lieben würde und ihnen Reichtum und Macht gibt. Den Rest speist er ab mit dem was übrig ist.“
Er legte eine kurze Pause ein, um sich zu sammeln und fortfahren zu können.
„Das heißt aber, dass ihnen trotzdem vergeben werden kann. Wenn er ihnen ihre Sünden vergibt, kommen sie nicht in die Hölle“, ging David dazwischen. Nach seiner Begutachtung im Spiegel und der Einschätzung, dass er wieder eine Rasur nötig hätte, hatte er sich wieder auf seine Bettkante gesetzt und gebannt Traes Worten gelauscht.
„Denkst du tatsächlich, das will er? Warum sollte er jemanden auf seine Wolke hoch holen wollen? Merkst du nicht, wie es in der Welt zugeht? Krieg, Zerstörung, Gewalt, Armut finden direkt neben den Superreichen und ihren Luxusvillen statt. Der Klimawandel zerstört unsere Welt, auf der immer mehr Menschen leben. In dreißig Jahren wird es zehn Milliarden Menschen geben, die auf der Welt leben. Bis dahin wird unsere Welt noch mehr zerstört sein. Eines Tages werden Staaten vom Meer verschluckt werden, und wir werden immer weniger Land haben, das wir beherrschen können. Irgendwann wird der Tag kommen, wo wir an unserem eigenen Fortschritt ersticken werden, und die Erde wird zu einem Planeten, der frei von der Seuche namens Mensch ist. Der Tag, an dem wir aussterben, wird der Tag sein, an dem Gott sein zweites Paradies errichten kann, aber diesmal ohne Adam und Eva. Denk einmal darüber nach, David. Meinst du wirklich, er will uns retten und uns von unseren Sünden erlösen?“
Ein letzter Zug, dann drückte er die Zigarette im Aschenbecher aus. Angestrengt dachte David nach. Er würde gerne etwas erwidern und das Ganze vielleicht doch noch ins Positive wenden, doch Trae schien so gut wie alle seine Argumente negiert zu haben.
„Vielleicht sollten wir über etwas anderes reden. Etwas mit weniger deprimierenden Aussichten. Davon habe ich heute weiß Gott schon genug erlebt“, sagte David erschöpft und wischte sich ein paar Mal über die Stirn.
„Klar, warum nicht.“ Er merkte, dass es ihn deprimiert hatte, die Diskussion gewissermaßen verloren zu haben.
„Yo Trae!“ Es klopfte ein paar Mal laut. „Was ist denn?“, antwortete er genervt in der Hoffnung, dass man ihn allein lassen würde.
„Mike, Cory und ich wollen draußen ein paar Körbe werfen gehen. Kommst du mit?“
„Verzieh dich, Vinnie!“, rief er durch die geschlossene Tür zurück.
„Penner“, hörte er den Jungen vor der Tür leise murmeln.
„Ich kann dich hören, du Wichser!“ Kurz danach fiel die schwere Eingangstür ins Schloss.
„Tut mir leid, Kumpel. Vinnie geht mir in letzter Zeit ziemlich auf die Eier“, entschuldigte er sich für die benutzte Beleidigung. Auch das tat er häufiger bei David als bei anderen, dass er sich für solche Lappalien rechtfertigte, obwohl dieser eigentlich absolut kein Problem damit hatte.
„Alles gut, kein Problem“, beruhigte er ihn.
„Gut. Lass uns morgen noch was machen, bevor du dich ans Ende der Welt verziehst.“
„Ich muss morgen noch meine Koffer packen und mich von Zoe verabschieden und schauen wie es ihr geht. Sagen wir, ich hol dich gegen vier ab und wir fahren was essen?“ „
Vier Uhr, Neun Uhr, egal wann, ich bin dabei, Bruder“, versicherte Trae ihm. Sein Blick wanderte ein weiteres Mal über das Bild vor ihm auf dem Bett. Irgendetwas daran schien ihn anzuziehen und zu faszinieren. Dabei sah es eigentlich nicht viel anders aus als die anderen, die an seiner Tür hingen. Vielleicht war es einfach nur, weil es sich halb versteckt hinter einem anderen verborgen hatte und ihm so lange Zeit nicht aufgefallen war. Doch dann hätte er auch hinter die anderen Zeichnungen gesehen, ob sich dort noch weitere Alpträume verstecken würden. Verzweifelt suchte er nach einem Grund, warum es ausgerechnet dieses Blatt war, das ihn so in seinen Bann zog, doch er fand keinen.
„Super, dann bin ich morgen pünktlich da und nehme dich mit.“ „Brauchst du vielleicht noch ein bisschen was für die paar Wochen?“ Davids Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht. Er hatte gehofft, dass er ihm diese Frage nicht stellen würde. Es war ihm unangenehm darüber zu reden, nachdem seine Mutter den Geruch sofort erkannt hatte und hysterisch geworden war. Dass es ein Fehler gewesen war, wusste er selbst auch. Ebenso bereute er es auch und wollte nichts weiter damit zu tun haben. Wenigstens konnte er nun mit Sicherheit sagen, dass diese Art der Entspannung keine Option für ihn darstellte.
„Nein, brauche ich nicht. Ich will damit nichts mehr zu tun haben, verstehst du? Ich wollte nur die Erfahrung machen, wie es ist. Nicht mehr und nicht weniger. Danke Trae, aber das ist einfach nichts für mich“, erklärte er ihm kühl.
„Respektiere ich vollkommen. Aber wenn du es dir anders überlegen solltest, sag mir einfach Bescheid.“
„Werde ich. Danke für dein Verständnis.“
„Immer wieder gerne, mein Freund. Du weißt doch auf den alten Trae ist immer Verlass.“ Mit einem Male stockte er. Ruckartig nahm er das Bild in seine Hände und betrachtete es genauer. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinem gesamten Körper aus. Sein Hals wurde trocken, und er begann zu schlucken. Zaghaft strich er über die Linien, die er selbst auf das Papier gebracht hatte, als wollte er sich vergewissern, dass sie wirklich da waren und er sie sich nicht nur einbildete.
„Das weiß ich zu schätzen“, antwortete David, der nicht ahnte, mit welcher Angst sein Gesprächspartner grade zu kämpfen schien.
„Hey, mir ist grade aufgefallen, dass ich Kurt noch seine Bestellung liefern muss. Kann ich dich später wieder anrufen?“
Nun hatte auch er eine von seinen 25 kleinen Sünden ausgesprochen.
„Klar. Ich muss mir eh noch Gedanken machen, was ich alles mitnehme.“
„Gut, dann bis später“, verabschiedete Trae sich flüchtig und legte auf. Mit einem Satz sprang er von seinem Bett und lief zu seinem Schreibtisch hinüber. Eilig schaltete er seine Lampe an und riss ein leeres Blatt von seinem Zeichenblock ab. Hektisch setzte er sich auf den braunen dreibeinigen Holzhocker, den er unter dem Tisch hervorgezogen hatte. Ohne zu zögern, griff er nach dem nächstbesten Bleistift, den er in die Finger bekam. Stärke 6B. Eigentlich nicht optimal für die Vorarbeit von Zeichnungen, doch das spielte in diesem Moment keine Rolle. Er musste das, was er gesehen hatte – oder besser gesagt glaubte gesehen zu haben – so schnell wie möglich auf Papier bringen, bevor er es wieder vergessen würde. Ein letzter Blick auf das Bild, das er neben das leere Blatt gelegt hatte, dann setzte er den Stift auf und begann zu zeichnen.
11
Prüfend betrachtete David sein Veilchen im Badezimmerspiegel über dem Waschbecken. Es war weiter angeschwollen seit seiner Auseinandersetzung mit seiner Mutter. Noch leuchtete es schwach blau, doch bereits morgen würde es die Farbe einer prächtigen Blaubeere haben. Seine Hand griff nach dem schwarzen Nassrasierer, der auf einer kleinen Ablagefläche neben dem Spiegel über dem Waschbecken lag. Seine Bartstoppeln waren bereits mit weißen Rasierschaum überzogen. Das heiße Wasser befeuchtete die Klingen des Rasierers, als er ihn unter den laufenden Wasserhahn hielt. Er könnte etwas an seiner Fitness arbeiten, wenn er an der Sommerschule wäre, dachte er während er oberkörperfrei im Badezimmer stand und den Schaum von seinem Rasierer unter dem Wasserstrahl abspülte. Doch er konnte sich nicht dafür begeistern, genauer über diese Idee nachzudenken. Zu sehr geisterten ihm die Geschehnisse der letzten Stunden, Tagen, Wochen, Monaten und sogar Jahre im Kopf umher.
Pass auf, Daddy! Oh Scheiße! Die Reifen des Mercury Cougar quietschten. Ein lauter Rums fuhr durch den Wagen, der abrupt stehen blieb. Eine Frau begann zu schreien, als Paul aus dem Auto sprang und zu der am Boden liegenden Ms. Dalton hastete.
Er stellte den Wasserhahn auf kaltes Wasser um.
Sie haben eine Posttraumatische Belastungsstörung, Paul. Besonders wichtig ist jetzt für Sie, dass Sie sich von Ihrer Familie und Ihren Freunden helfen lassen und sich nicht von ihnen abkapseln.
David füllte seine Hände mit etwas kühlem Wasser und wusch sich die Reste des Rasierschaums aus dem Gesicht.
Ich hab das im Griff, Faye. Es hilft mir, zu vergessen. Mach dir keine Sorgen, bald wird alles wieder gut.
Er nahm sich eines der Handtücher aus dem kleinen Holzregal, das rechts neben der offenen Tür etwa auf der Höhe von Davids Kopf hing. Das Handtuch war rau und kratzte, als er sich das Gesicht trocknete.
Sag es, Baby. Oh mein Gott Ray du Hengst.
Seine Schwellung begann zu schmerzen, als er mit dem rauen Stück Stoff darüberfuhr. Mit einem schmerzlichen Zischen zog er das Handtuch zurück und hing es an den metallenen Haken neben das Waschbecken.
Ey Mann, was ist los mit dir? Komm erzähl mir, was los ist. Ach ja, ich bin übrigens Trae.
Er hockte sich auf den Boden und öffnete den kleinen Schrank unter dem Waschbecken. Eine blaue Plastikkiste mit der Aufschrift „Salben und Lotionen“ kam hinter ein paar Rollen Toilettenpapier zum Vorschein.
Dein Vater will sich von mir scheiden lassen. Er will uns verlassen.
David holte die Kiste aus dem Schränkchen hervor. Eine Tube Voltaren fiel ihm ins Auge, die er, ohne zu zögern, herausnahm. Seine Mutter hatte ihm regelrechte Vorträge darüber gehalten, welche Salbe und Lotion er wofür nehmen musste. Seine Augen überflogen den Namen und den Text auf der Packung, dann stellte er die Kiste zurück an ihren Platz.
Machs gut, mein Großer. Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Du kannst meinen Wagen haben. Der Schlüssel fiel lautlos in seine Hand.
Die Tür des Schränkchens knallte zu. Langsam erhob er sich und begutachtete sein Auge erneut im Spiegel.
Er ist weg, Mom! Er ist abgehauen, weil du nicht da warst! Du hättest da sein müssen! Das alles ist deine Schuld!
Der Deckel der Tube fiel in das Porzellanbecken. Eine kleine Portion der kühlen Salbe landete auf seinem Zeigefinger, die er sorgfältig in einer dünnen Schicht auf seinem blauen Auge auftrug. Bevor er den Rest von seiner Fingerkuppe wusch, fischte er den Deckel der Tube aus dem Becken und verschloss sie wieder.
Es wird nichts bringen, ihn zu suchen. Er wird schon viel zu weit weg sein.
Mit der Salbe in der einen und seinem Unterhemd in der anderen Hand verließ er das Badezimmer. Sein Zimmer lag mit dem Bad auf einer perfekten graden Linie. Das Bad befand sich direkt links am oberen Ende der Treppe. Von dort aus erstreckte sich der Flur etwa zehn Meter bis zu Davids Zimmer. Zudem befanden sich in der Flurmitte noch zwei weitere Zimmer. Das Zimmer, welches näher am Badezimmer lag, gehörte seiner Mutter und war außerdem das Größte von allen. Wenige Meter zwischen ihrem und seinem Zimmer, lag Bobbys ehemaliges Zimmer. Es war weder leer noch ausgeräumt worden. Seit seinem Verschwinden hatte niemand etwas darin geändert oder umgeräumt. Es war noch genauso mit Spielzeug, Büchern und sonstigem Schnickschnack überfüllt, wie zu der Zeit, als er noch darin gewohnt hatte. Wenn man es betrat und seine Sachen dort so liegen sah, konnte man meinen, dass hier vor wenigen Minuten noch gespielt und getobt wurde. Bobby hatte schon immer eine Vorliebe für jegliche Art von Actionfiguren und diversen anderen Figuren gehabt, die sich, nach seinem Befinden, ausgezeichnet in seine Fantasie einbauen ließen. David bekam es jedes Mal mit der Angst zu tun, wenn er an dem Zimmer seines Bruders vorbeiging. Auch wenn es schwachsinnig und unlogisch war, hatte er eine ungeheure Angst, dass jede Sekunde sein kleiner Bruder hinter der Tür sitzen und nach ihm rufen würde, dass er mit ihm spielen solle. Auch dieses Mal bekam er eine Gänsehaut, als er daran vorbeiging, der Tür den Rücken zukehrte und sie einen Moment aus den Augen ließ.
Das wolltest du doch, nicht wahr? Ein Problem weniger, um das du dich kümmern musst. Du konntest es doch kaum erwarten, dass er die Flucht ergreift.
Seine Hand, in der er immer noch die Salbe hielt, griff nach seiner Zimmertür und schloss sie hinter sich. Gähnend legte er die Tube auf seinen kleinen Nachttisch, der neben dem Bett stand.
Hast du meine Tochter verletzt? Was hast du meiner Tochter angetan, du verdammter Hurensohn?!
Anders als sein T-Shirt, landete sein Unterhemd auf seiner Bettdecke, welche völlig zerwühlt auf dem hellblauen Bettlaken lag. Müde setzte er sich auf seine Bettkante und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
Deswegen, denke ich, brauchen wir etwas Abstand voneinander.
Er kratzte sich am Kopf und warf einen flüchtigen Blick auf sein Smartphone, das neben seinem Unterhemd auf dem Bett lag. Es zeigte sechs Minuten nach neun an. Seine Mutter war also seit etwa einer Stunde aus dem Haus. Er nahm es in die Hand und stellte den Klingelton auf die höchstmögliche Lautstärke. Mit dem Display nach oben legte er es neben die Tube auf den Nachttisch. Er würde sich nur etwas hinlegen und warten, bis Trae ihn wieder anrufen würde. So lange konnte er noch schlafen.
Du hast Dad verscheucht! Bobby ist wegen dir abgehauen, und du hast noch nicht einmal versucht, ihn zu finden!
Mit diesem Satz, der ihm wie die anderen zuvor durch den Kopf geschossen war, legte er sich hin und schlief nur wenige Augenblicke später ein.
12
Ein Donnerschlag ließ David hochschrecken. Angespannt saß er kerzengrade auf seinem Bett und lauschte den Geräuschen, die sich vor seinem Fenster abzuspielen schienen. Kein Regen war zu hören. Kein Blitz durchzuckte die dunkle, sternenklare Nacht. Einen Moment verharrte er und lauschte angestrengt in die Stille der Hochsommernacht hinein. Verwirrt stand er auf und öffnete das Fenster. Die Luft war genauso schwül und stickig, wie wenige Stunden zuvor. Nichts deutete auf ein kühlendes Sommergewitter hin. Vermutlich hatte er sich den Donner nur eingebildet, dachte er sich. Schnell schloss er das Fenster wieder und sah zu seinem vibrierenden Handy hinüber. Die blinkende Lampe neben der Innenkamera signalisierte ihm, dass er eine neue Nachricht erhalten hatte. Trae hatte ihm geschrieben, dass er ihn in wenigen Minuten anrufen würde. Grade, als er sein Handy wieder zurück auf den Tisch legen wollte, tauchte eine neue Nachricht von seiner Mutter auf dem Display auf. Sie wünschte ihm eine Gute Nacht und bedankte sich, dass er ihr gegenüber vorhin so kooperativ gewesen sei. Was blieb mir den auch anderes übrig, dachte er sich. Er hielt sich nur kurz mit der Beantwortung ihrer Nachricht auf und wünschte ihr noch einen ruhigen Dienst.




