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Die Uhr zeigte ein Uhr morgens an. Gähnend legte er das Smartphone zurück auf seinen Platz. Verschlafen öffnete er die Tür und ging auf den dunklen Flur hinaus in Richtung des Badezimmers. Nachdem er seine Blase entleert und seine Zähne geputzt hatte, kehrte er auf den Teppichboden des Flurs zurück. Seine Schritte waren lautlos auf dem grauen weichen Boden, der sich über den gesamten Flur sowie die drei Schlafzimmer erstreckte. Er ging an dem Schlafzimmer seiner Mutter vorbei und blieb vor dem Schlafzimmer seines kleinen Bruders stehen. Die Tür war einen spaltbreit offen. Das Licht des Vollmondes schien durch das dreckige Fenster des Zimmers und machte einen kleinen Teil des Raumes sichtbar. Das vorher noch wild auf dem Boden verteilte Spielzeug war verschwunden. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er gab sich einen Ruck und öffnete die Tür noch eine Hand breit und wünschte sich schon kurz darauf, es nicht getan zu haben. Das Bett war das Erste, das ihm sofort auffiel. Auf ihm befanden sich eine frisch bezogene Decke und ein neues Kopfkissen. Vor dem Fuß des Bettes, standen zwei große Spielzeugkisten, die bis obenhin gefüllt waren. Die Bücher, die aufgeschlagen auf dem Boden verstreut waren, befanden sich nun fein säuberlich aufgestellt in den Bücherregalen. Nichts war mehr an dem Platz, wo es sich vor wenigen Stunden noch befunden hatte. Stattdessen war das ganze Zimmer in beste Ordnung gebracht worden. Ängstlich starrte er in den Raum, der früher einmal das Reich seines damals elfjährigen Bruders gewesen war. In dem Moment, als er das Zimmer noch weiter betreten wollte, hörte er sein Handy aus seinem Zimmer klingeln. Er zögerte einen Augenblick. Vermutlich hatte seine Mutter bereits vor einigen Tagen aufgeräumt, und ihm war es einfach nicht aufgefallen, sagte er sich in dem Wissen, dass das nur eine billige Ausrede sich selbst gegenüber war. Doch er schaffte es, sein Wissen in den Hintergrund rücken zu lassen und begnügte sich mit der eigenen Lüge. Die Zweite von 25 Sünden innerhalb der letzten acht Stunden, dachte er und musste Trae unbewusst Recht geben. Seine eigenen Lügen zu glauben und für wahr zu erklären, ließ sich nicht so einfach rechtfertigen. Aber sollte er sich jetzt unnötigerweise noch mehr Angst einjagen? Bei diesen recht überschaubaren Auswahlmöglichkeiten fiel ihm seine Entscheidung nicht sonderlich schwer. Entschlossen und von seiner kleinen Ausflucht überzeugt, schloss er die Tür wieder. Mit schnellen Schritten ging er in sein Zimmer und nahm, ohne auf das Display zu schauen, den Anruf an.
„Hey Trae, wieso hast du so lange gebraucht? Du glaubst nicht, wie ich mich grade erschrocken habe“, begrüßte er ihn.
„Gefällt es dir?“, antwortete eine kindliche Stimme am anderen Ende.
„Wie bitte? Wer ist da?“, fragte er stutzig.
„Ich hab mein Zimmer aufgeräumt, damit Mommy nicht wieder so schimpft. Gefällt es dir, David?“, entgegnete die Stimme, ohne genau auf seine Frage einzugehen.
„Wer zum Teufel ist da?“, fragte David ein weiteres Mal, obwohl er glaubte, die Antwort darauf schon längst zu kennen.
„Tut mir leid, dass ich eben so einen Krach gemacht habe, aber die Schranktür ist aus den Angeln gefallen, als ich meine Kuscheltiere darin versteckt habe“, fuhr die Person weiter fort, ohne auf Davids Frage einzugehen. Erschrocken drehte David sich um. Seine Augen fixierten seine weiß angestrichene Zimmertür.
„Bobby? Bist du es?“ Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. „Ich hab dich vermisst, David. Hast du mich auch vermisst?“
„Ja Bobby, das habe ich. Das habe ich so sehr. Wo bist du?“, fragte er weiter. Doch die Tatsache, dass es Bobby war, jagte ihm nur noch größere Angst ein. Seine Stimme klang wie damals, als er noch ein Junge im Alter von elf Jahren war. Doch das war nicht möglich. Inzwischen müsste seine Stimme erheblich tiefer und reifer geworden sein. Außerdem war da noch die schlichte Tatsache, dass Bobby vor Jahren verschwunden war. Sein Kopf ratterte und suchte angestrengt nach einer logischen Erklärung, fand aber keine. Er hörte, wie sich eine Tür im Haus öffnete. Welche es war, konnte er nicht zuordnen, jedoch konnte er fast sicher sagen, dass es eine im Untergeschoss sein musste.
„Ich hatte Hunger“, antwortete Bobby zaghaft. Ein Topf fiel hörbar unter ihm in der Küche zu Boden.
„Bobby. Wo bist du grade?“, fragte David ein letztes Mal ernst und versuchte, seine Angst zu unterdrücken, damit man nicht direkt hören konnte.
„Es ist einsam hier drüben, David. Ich möchte zu dir rüberkommen.“
„Was willst du, Bobby?“
Hastig drehte er den Schlüssel im Schloss seiner Tür herum. Dann eilte er zu seinem Fenster und verschloss auch dieses eilig.
„Ich möchte zu dir, David. Mach mir bitte auf“, bat ihn die kindliche Stimme seines Bruders. Bevor er etwas erwidern konnte, begann etwas, an dem Griff seiner Tür zu rütteln. Sie wackelte stark, aber hielt trotzdem weiterhin Stand.
„Bitte lass mich rein“, wiederholte Bobby freundlich und dennoch wütend zugleich.
„Oh mein Gott“, krächzte David. Seine Panik hatte ihm die Stimme zum größten Teil genommen und ihn unfähig gemacht, einen verständlichen Laut von sich zu geben.
„Ich habe Angst alleine, David, bitte mach mir auf“, rief sein kleiner Bruder ein weiteres Mal aus dem Handy in Davids Hand.
Die Tür vibrierte förmlich unter der Gewalt, mit der jemand versuchte, sie aufzubrechen. Ohne einen Ton von sich zu geben, sank David auf sein Bett zurück und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Sein Handy fiel ihm aus der Hand und landete auf dem Fußboden. Schwer atmend und leicht schluchzend, starrte er die immer noch wackelnde Tür an. Ein letztes Mal hörte er leise aus den Lautsprechern seines Handys die Aufforderung, die Tür aufzumachen. Mit einem Male verstummte alles. Die Tür war wieder so fest in ihrem Rahmen wie zuvor, und aus seinem Smartphone tutete das Freizeichen.
Einen Moment lang schien die Welt sich so weiterzudrehen wie sie es immer tat. Ohne gruselige Anrufe von verschwundenen Geschwistern, die mitten in der Nacht versuchten, in das Zimmer einzudringen. Panisch sah er sich in seinem Zimmer um. Es war genauso leer und unaufgeräumt wie immer. Nach ein paar tiefen Atemzügen begann sein Puls, sich wieder in den Normalbereich zu bewegen. Ein Alptraum, mehr nicht, sagte er sich überzeugt. Einige Momente verbrachte er noch sitzend in seinem Bett, ehe er sein Mobiltelefon vom Boden aufhob und es ausschaltete. Nur, um auf Nummer sicher zu gehen natürlich. Verzweifelt und immer noch ein wenig ängstlich rollte er sich in seine Decke ein und legte sich auf die Seite. Müdigkeit überkam ihn auf der Stelle. Etwas raschelte hinter ihm. Als er sich halb umgedreht hatte, sah er genau in die Augen seines kleinen leichenblassen Bruder, der aufgerichtet im Bett saß. Das Blut gefror ihm in den Adern. So wie seine Augen, sah auch alles andere an ihm tot aus und stank geradezu nach Verwesung. Doch das Schlimmste waren seine kristallklaren Augen, die ihm direkt in die Seele zu schauen schienen. Das Mondlicht reflektierte so stark in ihnen, dass sie weiß aufblitzten. Grinsend sah er seinen, vor Angst erstarrten, großen Bruder an. Zwischen seinen Lippen schimmerten weiße Zähne hindurch. Viel glänzender und reiner, als man sich die Zähne eines Kindes eigentlich vorstellte.
„Freust du dich, dass ich wieder da bin?“, fragte Bobby ihn freudestrahlend und offenbarte die ganze Pracht seines Gebisses. Sein Grinsen hatte bei weitem nichts freundliches mehr an sich, sondern hatte das Ausmaß einer Horrorfratze, wie man sie sonst nur in Filmen sah. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Ding auf seinem Bett an. Es trug dieselben Sachen wie sein Bruder. Es sprach und bewegte sich sogar wie er. Es war wie eine perfekte Kopie des elfjährigen Bobby Williams, nur eben etwas toter.
„Du freust dich nicht, oder?“
Die Mimik auf dem Gesicht des toten Bobby änderte sich schlagartig. Das diabolische Grinsen war verschwunden und hatte einem enttäuschten und traurigen Ausdruck Platz gemacht. David konnte nicht antworten. Der bloße Anblick der Gestalt, die auf seinem Bett wie aus dem Nichts aufgetaucht war und ihn seither ununterbrochen beäugte, schnürte ihm seine Kehle zu und machte jeden Versuch, etwas zu sagen, zunichte.
„Freust du dich denn gar nicht, großer Bruder?“, fragte der kleine Junge traurig in Erwartung einer Reaktion. Doch die gab es nicht. Der erschrockene und ängstliche Gesichtsausdruck hatte sich auf Davids Gesicht eingebrannt wie ein Brandzeichen auf dem Schenkel eines Pferdes. Seine Lippen klebten aneinander, als hätte man sie mit festem Garn zugenäht und hinderten ihn daran zu schreien.
„Liebst du mich nicht mehr?“
Mehr als ein leichtes Kopfschütteln brachte David nicht zustande. Bobbys Hände schossen hervor und griffen nach den Schultern seines großen Bruders.
„Liebst du mich nicht mehr?!“, schrie er ihn an und vergrub seine Finger immer tiefer in seine Schultern. Ein stummer Schrei entfuhr David. Die Finger in seinen Schultern fühlten sich an wie Nägel, die ihm gewaltsam eingeschlagen wurden. Plötzlich begann sich das Gesicht des leichenblassen Bobbys zu verändern. Seine strahlend weiße Haut zerfiel in Fetzen und offenbarte einen Teil seiner Gesichtsmuskeln. Kleine Löcher klafften in seinen Wangen und in seinen Armen. Ein Teil seiner Oberlippe verschwand, als hätte sie jemand mit einem Radiergummi einfach ausradiert. Er schien völlig in sich zu zerfallen. Er beugte sich ganz nah über Davids Gesicht und schrie ihn ein weiteres Mal an, wobei er seinen Mund – Maul würde es besser treffen – so weit aufriss, dass sein Kiefer längst hätte ausklinken müssen. Er spürte, wie etwas auf sein Gesicht hinuntertropfte. Speichel, vermutete er. Doch als das Ding, in Gestalt seines Bruders, zumindest das was von ihm übrig war, etwas von ihm zurückwich, sah er, dass es kein Speichel oder etwas in der Art war. Es waren Tränen. Tränen, die aus seinen Augen kullerten und von seiner Wange herunterfielen. Grade, als David es endlich über sich bringen konnte, etwas zu sagen, begann Bobby anstelle seiner Schultern nun seinen Hals zu drücken. Seine kleinen Hände waren wie die Krallen eines Greifvogels, der eine Maus in den Fängen hatte.
„Hab keine Angst. Wenn du so wirst wie ich, wirst du mich wieder lieben können. Dann wird alles wieder gut“, versuchte er den nach Luft ringenden David zu beruhigen und drückte seine Daumen noch weiter in seine Kehle.
„Entspann dich einfach. Gleich hast du es geschafft, dann sind wir wieder zusammen, David“, sagte er liebevoll und weinte noch bitterer.
13
Schweißgebadet wachte er auf. Sein Rücken hatte sein Bettlaken vollkommen durchnässt und klebte nun an seinem Rücken. Erleichtert stellte er fest, dass er, soweit er das sagen konnte, alleine war. Das Einzige, was gleich geblieben war, war der Vollmond, der dem Zimmer ein wenig Licht spendete. Ein paar Atemzüge später konnte er sich dazu aufraffen, das verschwitzte Bett zu verlassen. Jedoch kam er nicht drum herum, sich ein weiteres Mal ängstlich im Zimmer umzusehen, um erneut festzustellen, dass niemand außer ihm dort war. Unsicher betrat er den dunklen Flur. Ebenso wie in seinem Traum ging er ins Bad, entleerte seine Blase und putzte seine Zähne. Wenige Minuten später, als er an dem alten Zimmer seines Bruders vorbeiging, konnte er nicht widerstehen, einen Blick hineinzuwerfen. Er bekam eine Gänsehaut, als er nach der Türklinke griff und sie herunterdrückte. Da stand er also. Nachts um ein Uhr im Schlafzimmer seines verschwundenen Bruders und sah sich das Chaos an, das dort drinnen herrschte. Actionfiguren, die auf dem Boden verstreut waren, Kuscheltiere, die neben und nicht auf dem Bett lagen. „Der Zauberer von Oz“, lag aufgeschlagen auf dem Bett. Eine Version mit vielen großen Bildern und wenig Text. Es hatte vorher David gehört. Sein Vater hatte es ihm geschenkt. Deswegen wunderte es David auch recht wenig, dass es ausgerechnet dieses Buch war, das dort auf dem Bett lag, obwohl Bobby eigentlich schon viel zu alt dafür war. Beruhigt, aber dennoch traurig, schloss er die Tür wieder und überließ es für immer der Einsamkeit. Als er wieder auf den Flur hinaustrat, hörte er erneut das Klingeln seines Handys. Zögerlich und mit einem gewissen Unbehagen, ging er zurück in sein Zimmer und schaltete das Licht an. Der Moment, der Menschen, die Angst haben, am meisten Angst einjagte. Der Moment, in dem man damit rechnete, sein persönliches Schreckgespenst in der nächsten Sekunde vor sich stehen zu haben. Doch dort war niemand. Weder Bobby noch sonst irgendeine angsteinflößende Gestalt, die ihn mit hungrigem Blick anstarrte. Er war alleine. Alleine mit seiner Angst. Vorsichtig bewegte er sich zu seinem Nachttisch, auf dem sein Handy lag und pausenlos klingelte. „Trae“ stand in weißer Schrift auf dem Display. Einen Moment lang haderte er mit sich, doch dann nahm er den Anruf entgegen.
„Yo, sorry, dass es so lange gedauert hat, Bruder. Vinnie ist vollkommen durchgedreht, und wir mussten ihn in den Griff bekommen, bevor der Pfarrer uns wieder das Kreuz Christi einprügelt“, meldete sich Trae etwas aufgewühlt.
David fiel ein Stein vom Herzen. Er tat einen langen Atemzug, als würde er an einer Zigarre ziehen und fühlte sich sofort leichter. Seine verkrampften Muskeln und Gesichtszüge entspannten sich langsam, und seine angespannte Haltung löste sich schlagartig.
„Alles klar bei dir?“, fragte Trae verwirrt über Davids Reaktion.
„Ja. Ja, alles in Ordnung. Nur ein Alptraum. Nichts weiter“, antwortete er und atmete ein weiteres Mal tief durch.
„Mann, was ist denn passiert? Du klingst echt fertig.“
„Das bin ich auch. Ich erzähl es dir morgen. Ich glaube, wenn ich jetzt noch einmal daran denken muss, dann bekomme ich einen Herzinfarkt.“
„Klar, kein Problem, Kumpel.“
„Danke. Das hier nimmt mich ganz schön mit, weißt du. Ich komm einfach nicht mehr klar damit“, erzählte David ihm im Vertrauen.
„Ist heftig für dich Bruder, glaub ich dir. Vielleicht wäre es doch besser wenn…“
„Tut mir leid, aber ich kann im Moment keinen klaren Gedanken mehr fassen. Lass uns das morgen besprechen, in Ordnung?“
„Natürlich. Ist vielleicht auch besser so, mir geht’s grad nicht anders.“
Das bezweifle ich sehr, dachte David und belächelte innerlich Traes angebliche Verfassung. Seit sie sich kannten, hatte er ihn nicht einmal in einer psychisch labilen Verfassung erlebt. Ihn konnte praktisch nichts aus der Ruhe bringen, geschweige denn wirklich Angst einjagen. Seine Träume waren das Einzige, das er fürchtete, und selbst diese Furcht hatte er zum Großteil überwinden können. Sein Gemüt war quasi wie von einer Kettenrüstung umgeben, welche hinter einem Brustpanzer getragen wurde. Kaum zu durchdringen oder zu zerbrechen. Doch durch jede noch so gute Rüstung konnte früher oder später ein todbringender Pfeil hindurchdringen. Aber das erschien David ziemlich unwahrscheinlich, dass das passiert sein konnte. Jedenfalls blendete er diese Möglichkeit, in Anbetracht seines eigenen Zustandes, weitestgehend aus.
„Was ist los?“
„Nichts wichtiges, brauchst dir keine Sorgen machen“, lenkte er vom Thema ab.
„Okay, falls du reden willst, sag Bescheid.“
„Mach ich.“
Trae hatte sich seinen Hocker aus Holz neben das Bett gestellt, saß nun vor seiner Tür und betrachtete die Bilder, die dort hingen.
„Worüber hatten wir vorhin nochmal geredet, bevor du weggegangen bist?“, fragte David, der durch seinen Alptraum schon wieder alles vergessen hatte.
„Im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt“, erwiderte Trae lachend und hustete einige Male. Mit elf hatte er angefangen zu rauchen, was ihm bis jetzt nichts außer schlechter Kondition und einen gewaltigen Raucherhusten gebracht hatte. Besonders lange würde er es, dank seinem hohen Zigaretten- und Drogenkonsums, vermutlich auch nicht mehr machen, dachte David. Das hatte er ihm auch schon des Öfteren gepredigt in der Hoffnung, dass Trae seine Lebensweise vielleicht noch einmal neu überdenken würde. Aber Trae dachte nun mal nicht so wie er. Für ihn zählte nicht, wie lange er leben würde, sondern wie er leben würde. Frei und uneingeschränkt. In allem, was er tat. Das war das, was ihm wichtig war. Ob ihm das mit 30 das Leben kosten würde, spielte keine Rolle.
„Ach genau. Wir sind alle Sünder und kommen in die Hölle“, erinnerte sich David und legte sein Handy wieder mit Lautsprecher auf den Nachttisch.
„So siehts aus“, bestätigte Trae ihn schmunzelnd.
„Worüber diskutieren wir denn nun, Herr Pontifex?“, stichelte David ihn an, während er das Laken seines Bettes abzog.
„Mach dich nur lustig über mich. Wenn wir beide uns in der Hölle wiedersehen, verlange ich eine Entschuldigung.“
„Wenn wir beide in der Hölle landen, wird keiner von uns beiden Gelegenheit haben, sich bei irgendwem zu entschuldigen. Dann werden wir bis ans Ende aller Tage gefoltert und erleiden Qualen, schon vergessen?“, scherzte er und suchte in seinem Schrank nach einem neuen Bettlaken.
„Blödsinn. Warum sollte der Teufel diejenigen foltern und quälen, die nach seiner Ideologie leben? Wieso sollte er uns bestrafen, wenn wir doch genau das tun, was ihn ausmacht?“
„Du solltest dein Drogengeschäft aufgeben und Philosoph werden bei dem ganzen Kram, über den du nachdenkst“, riet er ihm.
„Es ist besser, die rechte Hand des Teufels zu sein, als ihm im Weg zu stehen.“
„Wie originell, jetzt zitierst du auch noch aus <
„Anscheinend bin ich nicht der Einzige. Schließlich weißt du ja, was ich zitiere“, entgegnete Trae ebenfalls lachend.
„Da hast du wohl Recht“, gab David amüsiert zu. Das Gespräch mit Trae stellte seinen furchtbaren Alptraum in den Hintergrund und lenkte ihn von der inneren Unruhe ab, die er trotzdem weiterhin verspürte. Entspannt legte er sich mit seinem Smartphone in der Hand in sein neu bezogenes Bett. Viertel vor zwölf zeigte die Uhr auf dem Display an. Es waren keine drei Stunden seit ihrem vorherigen Telefonat vergangen, doch gefühlt lag ein gesamter Tag zwischen ihren Unterhaltungen. Eine halbe Stunde dauerte es, bis beide sich darauf einigten, sämtliche Gespräche zu einem späteren Zeitpunkt fortzuführen und etwas nächtliche Ruhe zu finden. Besonders David war froh, hoffentlich den erhofften Schlaf finden zu können. Doch bereits kurze Zeit nachdem er aufgelegt hatte, rückte sein Alptraum erneut in den Vordergrund und ließ ihn beim bloßen Gedanken daran erschaudern. Umso beruhigender war es für ihn, dass er, nachdem er seine Tür und seine Fenster vorsichtshalber versperrt, sowie sein Handy auf stumm gestellt hatte, schneller als erwartet den ruhigen Schlaf fand.
2.Kapitel
You never know how strong you are
until being strong is the only choice you have. Bob Marley
1
Müde und mit Augenringen, die in etwa so groß waren wie die riesigen kreisrunden Ohrringe seiner Mutter, stieg David in den schwarzen Chevrolet Orlando, der vor der Haustür parkte. Hinter sich zog er einen blauen Hartschalenkoffer mit 4 Rädern aus der Tür. Auf seinem Rücken trug er einen schwarzen Rucksack, der äußerlich nicht viel hermachte, jedoch erstaunlich robust war. Der gestrige Tag war anstrengender gewesen, als er angenommen hatte. Nachdem er bei Zoe angerufen hatte, um zu fragen, wie es ihr ging und um ihr zu beichten, dass er die Ferien über doch nicht zuhause verbringen würde, hatte wie aus heiterem Himmel ihr Vater vor der Tür gestanden, um sich bei ihm zu entschuldigen. Jedoch war dieser näher am Wasser gebaut als er je hatte durchblicken lassen und ergoss seinen Scham über seine Handgreiflichkeit in wahren Niagarafällen vor Davids Augen. So musste er nicht nur Zoe trösten, sondern auch ihren weinerlichen, reuevollen Vater. Zudem stellte sich heraus, dass seine Mutter offenbar doch nicht so gut über die Schule Bescheid wusste, wie sie wohl dachte. Also packte er neben seiner Kleidung und Handtüchern auch noch Bettzeug und Geld für die Kantine ein, falls er es denn brauchen würde.
In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte er zwar keine Begegnung mit Bobby, aber Schlaf konnte er trotzdem keinen finden. Er war viel zu nervös und aufgewühlt wegen des heutigen Tages gewesen, als dass er ans Schlafen auch nur hätte denken können. Erst in den frühen Morgenstunden war es ihm gelungen, etwas zur Ruhe zu kommen. Jedenfalls kurzfristig, bis Faye ihn vier Stunden später wieder geweckt hatte, dass er sich fertig machen konnte. Da saß er also nun. Verschlafen, mit einer Thermoskanne voll Kaffee auf dem Schoß, in dem Wagen seiner Mutter. Sein Gepäck hatte er im Kofferraum verstaut. Er hatte sich sogar entschieden, trotz der Hitze, seine Fleece Jacke von den Sacramento Kings mitzunehmen. Vielleicht sei die Sommerschule eine gut Gelegenheit, um mit der Vergangenheit abzuschließen und sich wieder auf das hier und jetzt zu konzentrieren, hatte er Trae am Vortag gesagt, als sie gemeinsam im Asia Restaurant gegessen hatten.
Trae hatte ihm vorher angeboten, dass sie eine Wohngemeinschaft gründen könnten. So könne David dem Ort entfliehen, der ihn gleichermaßen quälte, wie er ihm Sicherheit bot. Aber er hatte abgelehnt und gemeint, er wolle sehen wie sich die Situation nach den Ferien entwickeln würde. Damit war das Thema vom Tisch gewesen. Das Tragen der Jacke, die ihn so an die Ereignisse von vor drei Jahren erinnerte, war für ihn der erste Schritt zum Vergessen der Vergangenheit. Er schraubte den Deckel der Thermoskanne ab und füllte sich die erste Kappe voll. Einen Moment später hatte er sie bereits mit einem Schluck geleert und verschloss die Kanne wieder.
Die Fahrertür wurde geöffnet und seine Mutter stieg in das Auto ein. „Hast du an alles gedacht?“, fragte sie ihn hektisch.
„Ja, habe ich“, beantwortete er gähnend ihre Frage.
„Geld, Bettzeug, Klamotten?“
„Ja, und auch alles, was ich sonst brauchen könnte.“
„Hast du dir auch alle wichtigen Nummern aufgeschrieben?“
David nickte.
„Meine, die von Zoe und die von deinen Freunden?“
„Herrgott ja, ich habe alle“, antwortete er genervt.
„Hör auf, dich aufzuregen. Du hast absolut keinen Grund dazu“, ermahnte sie ihn und warf ihm einen warnenden Blick zu.
„Ich habe jeden Grund dazu“, murmelte er verdrossen und lehnte seinen Kopf an die warme Glasscheibe. Sie tat so, als hätte sie es nicht gehört und schnallte sich schweigend an. Dann drehte sie den Schlüssel im Zündschloss und legte den ersten Gang ein. Gemächlich rollte das schwarze Familienauto aus der Einfahrt hinaus und steuerte den nächsten Interstate Highway an, der Richtung Norden führte.
2
Die erste Stunde verbrachten die beiden schweigend miteinander. David hatte bereits die dritte Kappe Kaffee getrunken, fühlte sich jedoch kein Stück wacher, geschweige denn weniger müde. Faye hingegen schien so wach zu sein wie noch nie zuvor. Trotz ihres Nachtdienstes, den sie in den Knochen hatte, wirkte sie geradezu unverschämt munter und aufgeweckt. Vermutlich konnte sie es einfach nur nicht erwarten, dass sie die gesamten nächsten Wochen ungestört ihre Stecher zu sich einladen konnte und war deswegen so aufgedreht, dachte David sich. Vielleicht reagierte er aber auch einfach nur ein wenig übersensibel aufgrund seines Schlafdefizits, und seine Mutter würde sich wirklich bessern und die Zeit zum Nachdenken nutzen. Doch wer konnte das schon so genau sagen. Fest stand nur, dass sowohl ihre Verfassung, als auch ihre Stimmung, sich deutlich von Davids abhoben.
Das Klicken eines Feuerzeuges durchbrach die Stille im Auto. David drehte den Kopf zur Seite und warf ihr einen Blick zu, der sie darauf aufmerksam machen sollte, wie sehr er ihr Rauchen, wenn sie müde war, hasste. Aber ihre Augen blieben auf dem Interstate Highway haften wie ein altes Kaugummi unter einem Turnschuh. Stöhnend entfernte er den Kopf von seinem Fenster und öffnete es zwei Handbreiten weit, um wenigstens etwas gegen den Geruch ihrer Marlboro Zigaretten anzukommen.
„Was ist los?“, fragte Faye, die sein Aufstöhnen bemerkt hatte.




