- -
- 100%
- +
„Es begann im 13. Jahrhundert, als der Wald und dieses Tal noch nicht in der Form existierten, wie sie es heute tun. Damals war das alles hier nicht mehr als Gras- und Buschland. Der Wald begann erst viele Kilometer weiter nördlich von dem Platz entfernt, wo wir jetzt grade sitzen, und unten im Tal gab es einen Fluss mit einem großen See“, erzählte er und zeigte auf eine große Mulde inmitten des flachen Waldgebietes. „An diesem See lebten die Shasta Indianer, die der Sprachfamilie der Sioux angehörten. Ihr Reservat reichte vom See bis zum Ende des Waldes. Ihre Unterstämme jedoch, die Achomawi und die Atsugewi lebten weiter im Süden des Landes, in der Nähe des Pit Rivers und am Hat Creek. So hatten die Shasta ein riesiges Territorium, welches sie frei besiedeln konnten. Das taten sie auch und schlugen großen Nutzen aus der Umgebung, die sie gewählt hatten. Nahrung fanden sie in Fischen aus dem See und den Beeren und Wurzeln der Büsche um sie herum. Aus dem Holz der Bäume bauten sie Kanus, um mit den Indianerstämmen im südlichen Oregon und an der Westküste Handel betreiben zu können. Sie handelten mit Muscheln, Fischen, Salz und manchmal sogar mit den Kanus selbst. Von der Westküste bekamen sie beispielsweise Obsidian, um Pfeilspitzen für die Jagd anfertigen zu können. Das ging auch viele Jahre lang gut so, und sie hatten keinerlei Probleme oder Mängel, über die sie sich hätten beklagen können. Doch eines Tages kam es wie es kommen musste, und das Leben, wie sie es kannten, änderte sich für immer. Von dort an, bis in alle Ewigkeit, galt dieses Ereignis als einer der größten Entdeckungen und Verbrechen zugleich.“
„Die Entdeckung Amerikas?“, fragte David und sah Mr. Brenner interessiert an.
„So ist es. Verzeihung, darf ich?“ Er zeigte auf die zweite unberührte Flasche Wasser, die in Davids Rucksack steckte.
„Klar.“
„Sehr nett von dir, danke“, bedankte Mr. Brenner sich und griff nach der Flasche. Er nahm einen Schluck daraus und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.
„Als Christoph Kolumbus damals bei seiner eigentlichen Route nach Indien unerwartet auf einen ihm unbekannten Kontinent stieß, bewies er nicht nur, dass die Erde keine Scheibe ist. Er bewies auch, wie gierig und egoistisch die Menschen sind. Die Entdeckung Amerikas ist eine wahre Bluttat, für die viele Menschen der indigenen Bevölkerung ihr Leben lassen mussten. Nach und nach drangen Spanier, Portugiesen, Niederländer, Franzosen und Engländer immer weiter in das Land ein. Die Spanier und Portugiesen beuteten die Ureinwohner regelrecht aus und nahmen ihnen alles, was ihnen lieb war. Keiner der eigenen Landsleute hatte moralische Bedenken dabei, schließlich waren es Heiden und Wilde. Ihre Gesetze erlaubten es ihnen sogar, weil es dem eigenen Land eine wirtschaftliche und politische Stärkung brachte. Auch die Kirche befürwortete die Ausbeutung. Man solle den Heiden alles nehmen, um sie für ihre Vergehen der Gottesleugnung und -lästerung gerecht zu bestrafen und dann zum christlichen Glauben zu bekehren.“
Mr. Brenner trank einen weiteren Schluck Wasser.
„Gesetzlich und religiös korrekter Völkermord. Ein wahres Paradoxon, nicht wahr?“
David nickte.
„Die Ironie ist beachtlich“, stimmte er ihm zu.
„So kann man es ausdrücken, ja“, bestätigte Brenner ihn und stellte die Wasserflasche neben sich auf den staubigen Boden.
„Was ist mit den Indianern im Tal passiert? Wurden sie auch ausgebeutet und versklavt?“, fragte David neugierig.
„Nun ja. Es gab nicht nur Mord und Totschlag bei der Invasion Amerikas. Die Franzosen zum Beispiel waren den Einheimischen nicht so feindlich gesinnt, wie die Portugiesen. Sie betrieben Handel mit ihnen, akzeptierten sie als Menschen und nutzten ihre Verbundenheit auch beim Siebenjährigen Krieg in Nordamerika. Die Shasta Indianer hatten das große Glück von ihnen und nicht von den plündernden Südeuropäern entdeckt zu werden. Trotz der Geschichten, die sie über die weißen Männer hinter dem großen See gehört hatten, begegneten sie ihnen offen und tolerant. Eine Tages kam es dazu, dass der führende General der Franzosen, Mathis
„Einer von Dubois Männern hatte mit einer Indianerfrau geschlafen?“
„Nicht wirklich.“
Mr. Brenner drehte sich zu David um.
„Dubois selbst war es. Und es war nicht nur irgendeine x-beliebige Squaw. Oh nein, ganz sicher nicht. Ausgerechnet Talutah, die Tochter des Häuptlings, war seine heimliche Liebe. Es war wie bei so vielen berühmten romantischen Paaren nichts weiter, als eine einzige Tragödie. Eine Tragödie mit einem tödlichen Ende“, erzählte er wissend.
„Wie kam es dazu?“, fragte David, der gebannt seinen Worten lauschte.
„Witashnah, eine unbedeutende Schönheit des Stammes, erfuhr von ihrer versteckten Liebe. Die Eifersucht hatte sie gepackt, da sie selbst heimlich ein Auge auf den jungen, französischen Soldaten geworfen hatte. In ihrem Zorn berichtete sie Canowicakte von dem Bruch der Abmachung mit den Franzosen und zerstörte damit alles. Der Häuptling beschloss, sich an dem ahnungslosen Dubois für seinen Verrat zu rächen. Gemeinsam mit dem Rat der Ältesten, stellte er ihm eine Falle, die ihm das Leben kosten würde. Bei einer scheinbar üblichen Besprechung überwältigten die Indianer ihn und warfen ihn in den See. Aufgrund der Ausbreitung der Pest hatten viele Menschen, so wie auch er, nie wirklich schwimmen gelernt. Für wenige, glückliche Augenblicke, die er mit Talutah gehabt hatte, musste er qualvoll sterben. Musste warten, bis sich seine Lungen so mit Wasser gefüllt hatten, dass er endlich sterben konnte. Das ist ein Tod, dessen Qualen für einen unbegreiflich sind, bis man sie selbst erlebt und förmlich bettelt, dass es aufhört, und man endlich sterben darf.“
Er legte eine Pause ein, sodass David darüber nachdenken konnte, ehe er ihm das Ende der Geschichte erzählen würde.
„Was passierte dann? Was war mit Talutah und was hat das mit dem Grund zu tun, warum die Schule mitten im Wald steht?“
„Nach dem Tod von Dubois brach ein Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen aus. Während die Weißen den Tod ihres Anführers rächen wollten, sahen die Roten in seinem Tod die Rache für die Schändung ihres Stammes. Ein tagelanger Kampf brach aus, aus dem die Weißen, dank ihrer Feuerwaffen, als Sieger hervorgingen. Niemand, außer Talutah, hatte von den Shasta überlebt. Sie hatte sich, nach dem Tod ihres Geliebten, entschieden, die Seite zu wechseln und war bei Ausbruch des Kampfes längst nicht mehr in den Reihen ihres Volkes. Wenige Monate, nachdem die Franzosen ihren ermordeten Anführer erfolgreich gerächt hatten, bekam sie ein Kind. Ein Halbblut. Es wurde in Frankreich, der Heimat ihres Vaters, zur Welt gebracht. Doch Talutah war krank. Ihr Immunsystem war überfordert mit den Krankheiten, die es in Europa gab und auf die es nicht vorbereitet war. In ihren letzten Sekunden, die sie noch unter den Lebenden weilte, schaffte sie es grade noch, den Namen ihres Kindes zu sagen. Lauriea.“
Davids Gesicht hellte sich auf. Allmählich begann er zu verstehen, wieso Mr. Brenner ihm die Geschichte über die Indianer und die Invasion Amerikas erzählt hatte.
„Lauriea war ein wundervolles Mädchen. Schlau, wunderschön und wissbegierig. Als sie erwachsen war, erfuhr sie, wer ihre Eltern waren und welches Schicksal beide ereilt hatte. Mit dem Wunsch nach Antworten kehrte sie zurück in das Land, in dem einst ihre Mutter gelebt hatte. Zu dieser Zeit war der Wald bereits etwas gewachsen und reichte fast bis an das ehemalige Lager der Shasta heran. Auf der Suche nach ihrer Herkunft stieß sie auf Jean Michel, einer der Soldaten, die vorher ihrem Vater gedient hatten. Er erzählte ihr alles über das Verhältnis ihrer Eltern, den Verrat an ihrem Vater und schließlich auch über dessen Ermordung. Sie erkannte, dass der wahre Grund für die Ermordung ihres Vaters nicht die Pein des Häuptlings, sondern schlichte Intoleranz war. Zusammen mit Michel fasste sie den Gedanken, ein Zeichen für die Toleranz und das Gedenken ihrer Eltern zu setzen. Ihre Idee war es, zwischen den beiden Lagern ein Gebäude zu errichten, in welchem Menschen jeder Hautfarbe, Herkunft und Besonderheit Akzeptanz finden würden. Ein Gebäude, in dem ihnen gelehrt werden konnte, wie wichtig es sei, offen und tolerant anderen gegenüber zu sein. Ein Ort des Wissens.“
„Eine Schule“, vollendete David, der die Geschichte nun endgültig verstanden hatte.
„Ich weiß. Die Entstehung der Schule ist voll von kitschigen Klischees und klingt so, als würde man sie in einer typisch romantischen Tragödie finden. Doch sie ist wahr und gilt bis heute. Jeder ist gleich und wird bei uns aufgenommen und akzeptiert. Es ist das Vermächtnis, welches Lauriea uns hinterlassen hat und wir bis heute fortführen, weil es wichtig ist, dass es Orte gibt, an denen niemand nach weiß oder schwarz, groß oder klein, dick oder dünn unterschieden wird. An Orten wie diesen ist jeder Mensch einfach Mensch“, beendete er seine Geschichte.
„Und der Wald? Sie haben gesagt, er war nicht immer hier. Und was ist mit dem See und dem Fluss passiert?“
„Kurze Zeit, nachdem Lauriea die Schule offiziell für eröffnet erklärt hatte, wurde weiter im Norden ein Staudamm errichtet. Der See und der Rest des Flusses trockneten aus. Lange Zeit später wollten Naturschützer den Bestand an Mammutbäumen sichern, da diese als bedrohte Art gelten. Ohne wirkliche Rücksicht auf die Schule oder das Leben der Menschen in der Umgebung zu nehmen, sorgten diese selbsterklärten Beschützer von Mutter Natur dafür, dass der Bestand nicht stabilisiert wurde, sondern aus dem Ruder geriet. Die großen Sägewerke begannen, die Aufforstung zu manipulieren und zahlten heimlich Bestechungsgelder an diejenigen, die mit dem Pflanzen der Bäume beauftragt waren. Sie hofften durch die deutlich überschrittenen Vorgaben an gepflanzten Bäumen, Aufträge zum Entfernen und Fällen der ungeplanten Bäume zu erlangen. Anstatt die Schule nur geringfügig im Wald verschwinden zu lassen, wurde sie über die Jahre hinweg immer mehr von geschmierten Naturschutzorganisationen regelrecht von der Außenwelt abgeschnitten. Jedoch hat die Holzindustrie noch nicht einen Cent damit verdienen können. Weitere Jahrzehnte gingen ins Land, und der Wald begann sich von selbst aufs Neue auszuweiten. Man erzählt sich Legenden über den Geist Canowicaktes, der nachts den Wald wachsen lässt, um das Land, auf dem er Rache für die Entehrung seiner Tochter genommen hat, für immer im Verborgenen zu halten. Und eines fernen Tages, wenn es vollständig in Vergessenheit geraten wäre, könne sein Geist zwischen den Stämmen der Bäume, die seine Trauer verstecken, Frieden finden und zur Ruhe kommen“, erklärte er ihm. David erwiderte nichts. Der Glaube an Geister und Übernatürliches war ihm schon immer fern gewesen. Für ihn bedeutete der Glaube an so etwas nur, dass jemand versuchte, eine gute Geschichte erzählen zu können. Sie waren nicht mehr, als ein Mittel zum Zweck. War eine Geschichte schlichtweg uninteressant oder öde, brauchte man sie nur mit Legenden und Mythen über Götter, Geister und anderen magischen Gestalten füllen, und schon war es vorbei mit langweilenden Fakten. Wie viele andere Sachen, waren sie nichts weiter, als ein Gestaltungs- und Unterhaltungsmittel in Erzählungen. So genannte Geisterjäger, die die Existenz von solchen paranormalen Aktivitäten beweisen wollten, glaubten daran, weil es ihnen Aufmerksamkeit und Geld einbrachte. Verängstigte und introvertierte Menschen waren ein gefundenes Fressen für sie. Unerklärliche Geräusche? Gegenstände, die sich von selbst bewegten? Ganz klar war das ein Geist, der sich bei ihnen eingenistet hat und nur gegen eine horrende Summe von den „Profis“ beseitigt oder ruhig gestellt werden könnte. Viele waren lediglich Opfer von Halluzinationen oder Einbildung gewesen, die sich durch den Placebo-Effekt, den die Geistervertreiber nutzten, beenden ließen. Andere nutzten die Einsamkeit der Menschen aus, die weder an Geister glaubten noch irgendetwas Seltsames erlebt hatten. Ihre schlichten Wünsche nach Beachtung und Kommunikation trieben sie dazu, Dinge zu erfinden, bloß, um nicht alleine sein zu müssen.
Mr. Brenner erhob sich und klopfte sich den Staub von der Hose. Auch David stand auf und setzte seinen Rucksack wieder auf seine Schultern.
„Ich denke, wir sollten uns langsam auf den Weg machen, wenn wir es noch rechtzeitig zum Essen schaffen wollen“, sagte Mr. Brenner.
„Keine schlechte Idee“, stimmte David ihm zu, „Wie weit ist es denn ungefähr?“
„Wenn wir dort hinten den schnellen Weg ins Tal nehmen, kommen wir an dem Punkt raus, wo einst das Lager der Franzosen stand. Von dort aus ist es noch etwa einen halben Kilometer bis zur Schule. Alles in allem ist es ein wenig mehr als einen Kilometer, den wir noch vor uns haben.“
David nickte und folgte ihm den Anstieg, den sie vorhin erst hinaufgegangen waren, wieder hinunter.
„Sir?“
„Ja, David?“
„Eine Frage hätte ich noch.“
„Bitte, nur zu. Du kannst mich alles fragen, was du willst.“
Die beiden erreichten den normalen Weg wieder und folgten ihm nun in die entgegengesetzte Richtung.
„Glauben Sie daran? An den Geist des trauernden Häuptlings?“, fragte er mit einem gewissen Sarkasmus in der Stimme.
„Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber wenn ich mich festlegen müsste, würde ich sagen, es gibt ihn“, antwortete Mr. Brenner.
„Meinen Sie das ernst?“, fragte David verwirrt.
„Selbstverständlich. Ich bin kein großer Freund von Mythen und Legenden, musst du wissen.“
„Inwiefern macht dann Ihre Aussage Sinn, dass Sie daran glauben?“
„Abgesehen davon, dass ich eigentlich nie an solche Geschichten glaube, kann ich mir einfach keine andere Erklärung für das Wachsen des Waldes herleiten.“
„Ist es nicht normal, dass sich die Natur ausbreitet, wenn wir Menschen uns nicht einmischen?“
„Das zwar schon. Aber ein Wald, der in 20 Jahren mehrere Kilometer Fläche dazugewinnt? Wie kann da keine übernatürliche Kraft am Werk sein?“
„Ich verstehe nicht ganz. Was ist so besonders an den vielen Bäumen, die dazugekommen sind?“
„Die Antwort darauf ist so kurios, wie sie nur sein könnte. Sie waren allesamt ausgewachsen und so groß wie die bereits über achthundert Jahre alten Bäume. Sie sind nicht einfach gewachsen. Sie sind einfach aus dem Nichts erschienen.“
6
Sie hatte es gewusst. Er wusste nicht wie, aber sie hatte es von Anfang an gewusst, dass es so kommen würde. Er konnte es in ihrer Stimme hören, als sie ans Telefon gegangen war und fragte, wie es ihm gehen würde. Zoe, dieses kleine wundervolle, schüchterne Mädchen hatte gewusst, dass er gehen würde. Dessen war er sich sicher. Nicht erst als er angerufen hatte. Schon am Vortag, als sie beim ihm zuhause saßen und Pfannkuchen gegessen hatten. Je mehr er darüber nachdachte, desto offensichtlicher schien es ihm. Was hatte sie noch gleich gesagt? Dass sie nicht wolle, dass er gehen würde und er bei ihr bleiben solle? Aber was konnte das schon meinen. Sie war ein kleines Mädchen, das sich einfach, ohne einen triftigen Grund, um ihren besten Freund sorgte. Kleinere Kinder beginnen nun mal schnell, in Panik zu geraten oder Angst zu bekommen, wenn sie aus einer Phase heraus handelten. Das rationale Denken war noch nicht sonderlich ausgeprägt oder ausgereift. Emotionen kontrollieren und beherrschen vermehrt das Denken und haben einen größeren Einfluss auf ihre Psyche als sachliche und reelle Fakten. Ein wenig beunruhigte es ihn jedoch schon, dass sie augenscheinlich bereits gewusst hatte, dass er fortgehen würde. Doch das war nur eine der vielen Sachen, die mehr Fragen aufwarfen, als Antworten lieferten.
Des Weiteren ließ ihm Traes angebliche „Vision“ keine Ruhe. Er hatte von einer Schule inmitten eines Waldes gesprochen und von einem blutbeflecktem Mann neben ihm. Zwar hatte er mit der Schule im Wald Recht behalten, doch Mr. Brenner hatte kein Blut an seinen Händen oder an irgendeinem anderen Körperteil. Doch was hatte das zu bedeuten? Wahrscheinlich gar nichts. Es war reiner Zufall. Mehr nicht. Was sollte es auch anderes sein? Etwa eine übernatürliche Kraft, die in Trae durch einen seiner Joints eingefahren war und ihm die Zukunft zeigte? Selbstverständlich nicht. Weder gab es übernatürliche Kräfte noch etwas wie Visionen, die Realität werden würden. So etwas existierte schlichtweg nicht. Das wusste er genauso gut wie jeder normal denkende Mensch. Ebenso gut wusste er, dass es schwachsinnig war, seine Gedanken an solche Fragen zu verschwenden. Schließlich ging es bei den Personen um ein kleines emotionsgesteuertes Mädchen und um einen – so hart es nun mal klang – drogensüchtigen und halluzinierenden Teenager im Alter von 18 Jahren.
„Wenn Sie mich fragen, keine sonderlich glaubwürdigen Zeugen, ehrenwerter Richter George“, tönte es durch seine Gedanken.
„Dem stimme ich zu“, entgegnete Richter George, der etwas wie eine kleine Persönlichkeit in seinem Kopf geworden war. Wenn er Zweifel am empirischen Denken hegte, schaltete er sich ein und erklärte seine Beweggründe für ein Zeichen geistiger Verwirrtheit. Er war sozusagen derjenige, der sämtlichen Firlefanz und Aberglauben, der sich nicht beweisen ließ, abschmetterte und für surreal und dämlich erklärte. Die einzige Ausnahme stellte sein Glauben an das Leben nach dem Tod dar. Schließlich musste auch der strenge Richter George kleine Fantasien und Hoffnungen offen lassen, die er nicht sofort für schwachsinnig und Humbug erklärte, denn dies war leider eine Sache, über die selbst er nicht Bescheid wusste. Doch damit war seine Toleranzgrenze bereits erreicht. Besonders viel Spielraum ließ er ihm nicht, was seine Fantasien und Vorstellungen anbelangte.
„In Anbetracht der mangelnden Beweislage und der Unglaubwürdigkeit der Zeugen, wird der Antrag auf reinen Zufall und nichts als Spinnerei stattgegeben“, verkündete George und ließ seinen Holzhammer auf sein Richterpult knallen.
David entspannte sich ein wenig. Er war froh, dass George ihn bei klarem Verstand hielt und nicht seinen Hang zum überflüssigen Nachdenken und sich Sorgen machen befürwortete. Denn was sollte es sonst sein? Schließlich existieren Visionen und andere derartige Hirngespenste nur in der eigenen Fantasie. Real werden sie nur, wenn man anfängt daran zu glauben.
7
Ein Ast knackte unter den Füßen von Mr. Brenner. Der Weg, den sie ins Tal hinuntergingen, war steil und durch das lange Ausbleiben des Regens, staubtrocken.
„Wir haben Glück, dass es dieses Jahr so wenig geregnet hat. Vorletztes Jahr hatten wir das nicht. Da hatten wir so viele Sommergewitter, dass wir überlegen mussten, die Schule vielleicht ausfallen zu lassen. Dieser Weg hier“, er zeigte nach unten auf die trockene Erde, „war ein einziger Pfad aus Schlamm. Wir mussten die Schüler über einen anderen Weg zur Schule begleiten, der nicht so gefährlich und rutschig ist.“
„Es gibt noch einen Weg?“, fragte David überrascht und stützte sich an einem kleineren Baum ab, um nicht abzurutschen.
„Ja, es gibt einen. Wenn man eine Stunde in Richtung des Rapsfeldes um den Wald herumgeht, ist dort ein weiterer Weg. Er ist schmaler und unebener, aber wenn man ihn erreicht hat, dauert es genau so lange, als wenn man den normalen Weg gehen würde. Im Gegensatz zu dem normalen Weg jedoch, erreicht man über den Umweg den Ort, wo die Indianer ihr Dorf hatten.“
Brenner kam unten auf dem Boden des Tales an und sah zu David hinauf. Der war noch mit dem Abstieg am Kämpfen und begann, gefährlich zu schwanken.
„Halt dich an einem der Äste fest, wenn du glaubst das Gleichgewicht zu verlieren.“
Vielen Dank für diesen Tipp. Da wäre ich alleine bestimmt nie drauf gekommen.
Einen Meter noch, dann wäre er am Boden angekommen. Erleichtert ging er den letzten Meter schräg hinunter. Doch dann trat er mit dem Fuß gegen etwas Festes. Er stolperte, fiel hin und rollte den letzten Meter, der ihm gefehlt hätte, hinunter. Eilig hastete Mr. Brenner auf ihn zu. David war auf seiner rechten Schulter gelandet und mit dem Kopf auf dem trockenen Boden aufgeschlagen.
„David, bist du in Ordnung?“, fragte Brenner hektisch. David stützte sich auf seine Hände und hob seinen Oberkörper vom Boden ab. Staub klebte an seinen Unterarmen und an seinem T-Shirt. Ein pulsierender Schmerz machte sich an seiner Schläfe bemerkbar.
„David?“
Sein Blick war verschwommen. Ein dröhnendes Geräusch drang in seine Ohren und ließ ihn kurze Zeit taub werden. Er blinzelte ein paar Mal und schüttelte seinen Kopf. Als er aufschaute, sah er, wie Mr. Brenner vor ihm stand und ihm einen besorgten Blick zuwarf. Er wandte den Blick von dem besorgten Lehrer ab und sah an ihm vorbei. Etwa fünfzig Meter hinter ihm tauchte eine weitere Person aus dem Nichts auf. Seltsamerweise war die Person das Einzige, was seine Augen zu fokussieren schienen. Trotz der warmen Temperaturen, trug sie eine schwarze Jeans und ein schwarzen Strickpullover. An seinen Füßen trug sie ein altes Paar weißer Turnschuhe, das bereits kleine Löcher hatte. Die Haarfarbe war eine Mischung aus einem steinernen grau und einem schwachen braun. Sie sahen aus, als wären sie in Steinstaub gebadet worden. Man konnte nur noch ein wenig des eigentlichen Brauntons sehen, der unter der Staubschicht hervorschaute. Auf die Entfernung konnte er die Augen des Mannes nicht sonderlich gut erkennen, jedoch konnte er erkennen, dass sie vermutlich eher eine dunklere Farbe hatten. Seine Augenbrauen waren im Gegensatz zu seinen Haaren, die zu einen klassischen Männer Kurzhaarschnitt frisiert waren, eher bräunlicher als grau. Der Bart – falls er überhaupt einen hatte – hatte denselben Farbton wie seine Haare und war aufgrund seiner Kürze kaum zu erkennen. Die Hände hatte er in die Hosentaschen gesteckt. Sein rechter Ärmel war hochgekrempelt und offenbarte eine silberne Uhr an seinem Handgelenk. Seine Körpergröße stimmte ungefähr mit Davids überein. Der Mann lehnte an einem der riesigen Bäume und beobachtete David mit einem Blick, der aus einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Trauer zusammengesetzt zu sein schien.
„David? Ist alles in Ordnung?“, fragte Mr. Brenner, der jetzt neben ihm hockte, erneut und schaffte es diesmal, zu ihm durchzudringen.
„Ja, ja. Alles in Ordnung“, versichert er ihm. Das Dröhnen aus seinen Ohren verschwand langsam, und seine Sicht klarte wieder auf.
„Zeig mal her“, forderte Brenner ihn auf und drehte Davids Kopf leicht zur Seite, um sich seine Schläfe anzuschauen. Blut trat aus der etwa fingerspitzengroßen Verletzung an seinem Kopf heraus.
„Nicht weiter schlimm“, sagte Mr. Brenner und klopfte ihm auf die Schulter, „Dr. Prince wird sie gleich säubern und dir ein Pflaster geben, damit kein Dreck hineingerät.“
„Danke. Ich hab mich ziemlich blöd angestellt.“
„Du konntest nichts dafür. Du bist über eine Wurzel gestolpert. Nichts wofür du dich in einem Wald schämen müsstest“, beruhigte er ihn lächelnd.
Er half David auf die Beine und klopfte ihm den Staub von den Ärmeln.
„Ich glaube, ich hab selten jemanden hierhergebracht, der es geschafft hat, mehr als einmal Schwierigkeiten zu haben“, erzählte Mr. Brenner.
„Warten Sie es ab. Noch sind wir nicht da. Noch kann ich es auch ein drittes Mal schaffen“, witzelte David und richtete seinen Oberkörper, nachdem er seine Hose abgeklopft hatte, wieder auf. Der mysteriöse Mann mit den graubraunen Haaren und der warmen Kleidung war verschwunden. Verwundert blickte David sich um und suchte nach ihm. Doch er konnte ihn nirgends finden.




