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Auch Pascal muss sich immerzu bewegen, als ob er seine Gefühle abschütteln müsste. Dabei liebt sie gerade sein Staunen, seine Versenkung, seine Überraschung, wenn es ihm eben nicht gelingt, seine Gefühle wegzudrücken.
Und Cla. Er ist eins mit seinem Körper, füllt ihn mit seinen Gedanken und Gefühlen aus. Da gibt es nichts Verborgenes, was er zurückhält. Ein perfekter Organismus, der ständig neue Bilder kreiert, in Harmonie mit seiner Umwelt, obwohl er vom Tod lebt. Das versteht sie nicht.
Wieder fahren sie die enge Strasse hoch ins Val Inez. Das Tal wurde vor ein paar Wochen von schweren Erdrutschen heimgesucht. «Das Tal ist schön, aber wenn es wüst kommt, dann richtig», hatte der Postautochauffeur ihr bei ihrem ersten Besuch erklärt. Noch immer türmt sich der Schutt zwanzig Meter hoch. Bagger sind damit beschäftigt, das Geröll abzutragen. Sie fühlt die Energie, die von den Gesteinsmassen ausgeht. Das Tal ist wie elektrisiert von der Naturgewalt. Ihr ist, als ob hier andere Naturgesetze gelten. Sie betrachtet Cla von der Seite. «Wir leben hier mit der Unberechenbarkeit der Natur», sagt er. «Es klingt nach einem Klischee, aber das prägt einen. Man gibt nicht so viel Wert auf die flüchtigen Dinge wie Reichtum und Ansehen. Ich habe ein florierendes Geschäft, natürlich geniess ich das. Aber das entstand hauptsächlich aus der Verbundenheit mit der Familiengeschichte und Tradition, bereits mein Urgrossvater war Metzger, und nicht aus der Motivation heraus, viel Geld zu verdienen.» «Das spürt man», sagt Sarah und ist sich nicht ganz sicher, ob sie Cla seine Bescheidenheit wirklich abnimmt.
Wenn die Menschen erst etwas haben, geben sie es nicht mehr so gerne wieder her.
«Erzähl mir von deiner Kunst», fordert Cla sie auf.
Sarah lacht.
«Das Schlimmste an der eigenen Kunst ist, über sie zu reden. Man fragt sich ständig, ob das überhaupt Kunst ist, was man macht. Man macht etwas, wonach niemand fragt. Es ist wie eine Manie, die einen antreibt, und ständig schwankt man zwischen Euphorie, wenn einem etwas gelingt, und Rechtfertigungsdruck. Zuweilen schäme ich mich für meine Kunst. Gerade Phasen, in denen man keine Ausstellung hat und nichts verkauft, zerren an den Nerven. Wie kann man etwas offensichtlich Sinnloses machen? Was ist der Sinn hinter der Sinnlosigkeit? Andere machen eine Psychotherapie.»
«Es braucht immer Menschen, die Gewohnheiten hinterfragen», lacht Cla.
«Ich sollte Pfeiler haben, auf denen ich meine Kunst errichte, Werte, eine Botschaft. Aber irgendwie suche ich noch danach.»
«Du bist ehrlich», sagt Cla. «Das ist doch schon mal ein ziemlich guter Anfang.»
In Inez angekommen, marschieren sie los Richtung Arvenwald.
«Ich gehe mit einem fremden Mann spazieren», sagt Sarah.
«Sieh es mal so, wir teilen gerade einen Traum. Wir assistieren einander.»
«Was fehlt dir?», fragt Sarah.
«Für die Diagnose scheine ich dich zu brauchen», sagt er.
«Was soll ich tun?», fragt sie.
«Mich ohne Geschichte wahrnehmen. So wie ich jetzt bin.»
«Ok», sagt sie.
«Weisst du denn, was du brauchst?», fragt er.
«Nein», sagt sie. «Ich dachte, ich wüsste es. Bis vorgestern wusste ich es noch.»
«Ich soll dich also vom Weg abbringen?», grinst Cla.
«Ja, bitte», lacht Sarah.
Sie gehen schweigend nebeneinander her.
Er sagt: «Es tut mir leid, aber wenn wir vom Weg abgehen, landen wir höchstens bei den weidenden Kälbern.»
Sie lachen.
Nach einer Stunde erreichen sie die Alp, die schon eingewintert wurde. Hinter einem geschlossenen Fensterladen kramt Cla einen Schlüssel hervor.
«Kaffee ist immer da», sagt er. «Instantkaffee, aber immerhin!» Sie betreten die dunkle Stube. Cla betätigt rechts von der Türe den Sicherungskasten, um die Hütte wieder mit Strom zu versorgen.
«Lass die Läden geschlossen, wenn du keine Lust hast, Leute zu bewirten», scherzt er. «Ich bin öfters hier im Herbst, und wenn du nicht aufpasst, hast du plötzlich zehn Wanderer vor der Türe, die einen Aufstand machen, wenn sie keinen Kaffee bekommen. Wir Jäger haben uns untereinander arrangiert, aber der Alpbesitzer ist etwas kompliziert, ein Arzt aus St. Moritz. Er verpachtet die Alp, will aber stets über alles auf dem Laufenden gehalten werden.»
«Mit anderen Worten ausgedrückt, begehen wir sozusagen gerade Hausfriedensbruch», sagt Sarah.
«Na, so drastisch würde ich das jetzt nicht ausdrücken», schmunzelt Cla.
Er holt Wasser vom Brunnen, steckt das Kabel vom Wasserkocher ein und stellt zwei Tassen auf den Tisch, der in der Mitte des Raumes steht. Er gibt Kaffeepulver in die Tassen. Das Wasser kocht. «Ich möchte dich anschauen», sagt er mit veränderter Stimme.
Sie zieht sich wortlos aus und schaut ihn dabei an, angetrieben von einem unerklärlichen Impuls. Seine Augen funkeln wie die eines Raubtiers. Sie weiss nicht, was sie denken, was sie sagen soll. Sie fühlt sich wie mit zwölf Jahren zum ersten Mal auf dem 10-Meter-Sprungturm. Sie versucht regelmässig zu atmen und verschluckt sich dabei. «Das Wasser kocht», sagt sie.
Sie geniesst plötzlich die eigene Überraschung, nicht zu wissen, was zu tun ist, nackt zu sein. Zu warten. Er giesst das Wasser in die Tassen.
«Es ist seltsam», sagt er. «Ich möchte dich berühren, die Lust ist schon fast schmerzhaft, und gleichzeitig fühle ich bereits die Traurigkeit, dich wieder gehen lassen zu müssen.»
«Wir können uns in den Brunnen legen», schlägt Sarah vor.
«Das ist eine vernünftige Idee», lacht Cla.
Auch er zieht sich aus. Sie betrachten einander schweigend. Clas Körper ist muskulös und kräftig, kein Alter verratend. Dann springen sie hinaus und steigen in den Brunnentrog. Sie kreischen. Das Herbstlicht versprüht eine milchige Wärme. Auf den Zweitausendern liegt über der Baumgrenze bereits der erste Schnee. Grillen zirpen, gedämpftes Vogelgezwitscher dringt an ihr Ohr. Die Luft riecht nach überreifen Zwetschgen. Es gärt in den Speichern des Sommergedächtnisses. Die Erinnerungen warten darauf, getrunken zu werden, und dieser Tag soll den süssen Saft vergolden. Die Wolken erinnern an chinesische Schriftzeichen. «Noch nicht» und «Nichts» steht am Himmel. Sie kreischen und prusten. Der Kälteschock jagt Adrenalin durch ihre Körper. Jauchzend springen sie vor der Hütte auf und ab. Cla holt von drinnen eine Decke. So lassen sie sich Seite an Seite von der Sonne trocknen. Eine Libelle tanzt in der Luft.
«Du hast gefragt, worin der Sinn besteht, etwas Sinnloses zu tun», sagt Cla. «Was, wenn es gar nicht um den Sinn geht, sondern einzig um die Schönheit?»
Sie lächelt.
«Du meinst, wir können stets nur das Schöne erkennen, nicht aber den Sinn?»
«Das Schöne ist vielleicht der Sinn», lächelt Cla.
«Es ist manchmal so schwer zu ertragen!», stöhnt Sarah.
Cla greift nach ihrer Hand. Sein Pulsschlag geht über in ihren.
Sie spazieren durch den Arvenwald zurück. Viele Mythen kreisen um dieses Wäldchen. Hier wachsen die höchst gelegenen Arven, deren Holz die Seele besänftigt. «Nichts», denkt sie. Sarah fühlt sich frisch und gereinigt.
«Hier soll eine Waldfee wirken, welche den Spaziergängern ihre Lebensaufgabe offenbart. Man muss ganz still sein, damit sie sich mitteilen kann. Manchmal spricht sie in Sätzen, manchmal in Bildern. Es gibt Menschen, die sie sogar sehen können.»
«Und wie rufe ich sie?», fragt Sarah.
«Es reicht, wenn du gedanklich das Wort an sie richtest. Aber Vorsicht! Wer sich gegen seine Aufgabe stemmt, dem droht Ungemach. Man darf die Frage nicht vor dem dreissigsten Lebensjahr stellen, so der Volksglaube.»
«Lebensaufgabe», sinniert Sarah. «Während meiner Kindheit und Jugend in Rumänien war irgendwie klar, worin die Lebensaufgabe bestand: Den Kindern sollte es einmal besser gehen als den Eltern. Sie sollten eine gute Bildung bekommen, vielleicht ihr Glück im Ausland versuchen. Und jede Familie hatte ihre Mantren, welche die Grosseltern den Enkeln weitergaben, kleine Weisheiten, die einen durchs Leben brachten. Während meiner Studienzeit in Deutschland stürzte ich mich auf deutschsprachige Sinnsprüche. Ich lernte Goethe auswendig: ‹Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.› Ich war wahnsinnig stolz auf meine Fortschritte, auf mein Verständnis für die Tiefe der Seele. In der deutschen Sprache sah ich beides vereint, Logik und Seelentiefe. Dann merkte ich bald, dass diese Werte nichts mehr zählen sollten. Niemand sprach mehr über Goethe oder Hölderlin. An der Uni lasen wir sogenannte postdramatische Texte, die so viel besagten wie: Es gibt keine Geschichten mehr, keine Wahrheiten, nur noch Diskurse!»
Cla lacht.
«Und dann kommst du in die Natur, und sie beginnt dir unweigerlich Geschichten zu erzählen. Es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht irgendwas lehrt.» Sie atmet den Duft des Waldes ein. «Heil den unbekannten höheren Wesen, die wir ahnen! Ihnen gleiche der Mensch! Sein Beispiel lehr‘ uns jene glauben.» Zum ersten Mal versteht sie diese zweite Strophe von Goethes Gedicht «Das Göttliche». Der tugendhafte Mensch soll den anderen durch sein Vorbild das Göttliche näherbringen, denn das Göttliche wird erst durch den Menschen sichtbar. «Denn unfühlend ist die Natur: Es leuchtet die Sonne, über Bös‘ und Gute, und dem Verbrecher glänzen, wie dem Besten, der Mond und die Sterne.»
Die Sonne taucht die Berge in rosa Licht. Die rot-gelben Blätter rascheln im Wind. Sarah berührt sanft Clas Arm. «Ich danke dir für diesen herrlichen Tag!»
Das Restaurant Inez liegt bereits im Schatten, davor steht neben Clas Geländewagen ein roter Peugeot.
In dem Moment taucht in Sarahs Augenwinkel Pascal auf. Er steuert auf sie zu.
«Pascal!», ruft sie entgeistert.
Er blickt sie wütend an, so wie nur der Liebste blickt, wenn er verletzt wurde. Ein angeschossenes Tier.
«Das ist Cla», sagt sie. «Er hat mir mit den Gedichten geholfen.» – «Mein Freund», sagt sie zu Cla.
«Schön dich kennenzulernen», sagt dieser ruhig.
«Wir sehen uns unten!», sagt Pascal trocken.
«Ich hoffe, du bekommst jetzt keine Probleme wegen mir», sagt Cla.
«Wir haben nichts zu bereuen, oder?», fragt Sarah.
Keiner von ihnen spricht mehr ein Wort. Die Gesteinsmassen drücken. Pascals Eifersucht mischt sich mit ihrem schlechten Gewissen. Sie versucht, die Gefühle auseinanderzudröseln.
Cla streicht ihr ein letztes Mal über die Wange. «Du hast nicht gefragt», sagt er.
Sie lächelt traurig.
Mit hängenden Schultern betritt sie das Haus.
Sie geht die Stufen hoch in ihr Atelier. Wird Pascal gleich mit dem Rad heimkommen? Wird er draussen auf die Nacht warten oder irgendwo ein Bier trinken? Auf dem Schreibtisch liegen Abzüge von Pascals neuster Arbeit. Daneben eine Lupe. Sie lässt sich auf den Stuhl fallen, betrachtet die Bilder des Geräteraumes der Sekundarschule und den Maschinenraum der Bergbahnen. Sie nimmt die Lupe zur Hand. Sie erkennt auf dem Gymnastikpferd ein eingeritztes Herz, darin eingraviert ein Schriftzug: «Sarah». Sie untersucht den Maschinenraum. Dort ist auf einer Schneekanone zu entziffern «I love Sarah».
Sie freut sich auf den ersten Schnee.
Im Windschatten
Sie sitzt gerne auf einer Bank, obwohl das heutzutage niemand mehr tut, der nicht seinen Überfluss an Zeit zur Schau stellen will. Es wäre ja auch etwas unverschämt, über zu viel Zeit zu verfügen. Henriette sinniert gerne. Was das Parkbanksitzen in New York vom Parkbanksitzen in Rucol unterscheidet. Abgesehen von der Natur, um die man im Engadin schlecht herumkommt, es sei denn, man fände einen Reduiteingang, verbrächte die Tage im Stollen, und ignorierte fortan die Tatsache, im Berg zu wohnen, wie die Höhlenmenschen in Platons Gleichnis. In New York geniesst man die Natur im Park und verwechselt den Park mit der Natur. Die Pischana, der stattliche Hausberg Rucols, das ist Natur, aber so ein Central Park? Werden da nicht regelmässig Bomben deponiert?
Henriette besitzt die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Nicht dass sie sich in Luft auflösen könnte, nein, nein. Vielmehr scheint sie alle von ihr ausgehenden Signale ausschalten zu können, um so chamäleongleich mit der Umgebung zu verschmelzen.
Als sie nach und nach ihrem Rätsel auf die Spur kam, dass die Menschen sie nicht ignorierten, sondern sie oft schlichtweg nicht wahrnahmen, begann sie mit ihrer Gabe zu arbeiten. Sie verschaffte sich Zutritt in Regierungsgebäude und drang immer weiter in sensible Bereiche vor. Wurde sie aufgehalten, raunte sie dem Sicherheitspersonal «Passt schon» zu. So war sie jedes Jahr unsichtbarer Gast am Weltwirtschaftsvotum in Savon, wo sie Regierungs- und Konzernchefs bei der Völlerei beobachtete. Ihr Material verkaufte sie an Journalisten, bis sie irgendwann dazu überging, ihre Recherchen selber auf Youtube zu verbreiten. So wurde sie Journalistin wider Willen, da ihre Kollegen sie als Informantin schlecht bezahlten und obendrauf ihr Material als eigenes ausgaben. Alles muss man sich ja auch als Unsichtbare nicht gefallen lassen!
Henriette entwickelte sich über die Jahre hinweg allmählich zum Vollprofi und bietet heute Kurse in Unsichtbarwerdung an.
Die meisten wollen unsichtbar werden, weil sie sich dadurch erhoffen, der Realität entfliehen zu können. Diesen Kandidaten erteilt Henriette eine Absage. Unsichtbar zu sein, erfordert ein Höchstmass an Konzentration und ein reines Herz, um die Macht nicht zu missbrauchen. Bis heute weiss sie nicht, wie viele Agenten fremder Dienste sie ausgebildet hat, sie hofft natürlich keine, aber eine hundertprozentige Garantie hat sie schliesslich nie. Deshalb arbeitet sie am liebsten mit Kindern und Jugendlichen.
Ihre beste Auszubildende ist Louisa. Sie besucht die Sekunda am Hochalpinen Institut in Rtan. Kennengelernt haben sie sich auf der Parkbank beim Schwimmbad Badras. Es scheint einen Code zu geben, der Parkbanksitzende miteinander verbindet.
In der Garage, die Henriette als Seminarraum dient, üben sie heute das Teetrinken; wie man Kekse isst, um die Aufmerksamkeit des Gegenübers ganz auf den Keks zu lenken. Louisa versteht es, den Gesprächspartner alleine durch ihr Fingerspiel zu hypnotisieren.
In wohldosierten Abständen hält Henriette Louisa Bücher zu: «Schuld und Sühne», «Anna Karenina», «Der Postmeister» und andere Schätze der Weltliteratur oder «antiquarische Zen-Übungen», wie Louisa meint. Die altmodische Sprache bereitet ihr noch Mühe. Oft notiert sie sich Ausdrücke in ein Notizheft, um ihre Bedeutung später zu ergoogeln.
Noch ist Louisa nicht klar, dass Lesen den Geist weitet. Um in der Kunst des Unsichtbarseins zu brillieren, benötigt man ein waches Bewusstsein, was die Voraussetzung für die Bewusstseinserweiterung ist. Es genügt nicht, in Phantasie- und Parallelwelten einzutauchen und sie beschreiben zu können. Man muss sie auch miteinander in Verbindung setzen. Seinen Nutzen daraus ziehen. Sich seine eigene Hirnstruktur erschaffen, so wie ein Architekt ein Haus plant. «Und wir wollen ja nicht nur ein Haus, wir wollen einen Palazzo! Stell dir vor, du kommst als reiche Zuckerbäckerin von Italien zurück nach Rucol. Was für einen Tempel errichtest du dir? Du willst doch deine alten Schulfreunde beeindrucken!», lacht Henriette.
Wenn Louisa schlechte Laune hat, gelingt es Henriette oft, ihre Schülerin mit ihren schlichten Anweisungen aus dem Schneckenhaus hervorzulocken. «Wo befindest du dich gerade? Im Keller oder in der Abstellkammer? Wenn ich dir einen Tipp geben darf: Nimm den Staubsauger aus der Abstellkammer und saug mal dein Kellerabteil. Ich bin sicher, wir werden dabei den einen oder anderen Juwel entdecken.» Wenn Louisa lacht, folgt meist eine Quintessenz wie: «Merk dir eins, meine Liebe: Egal wie schlecht es dir geht, sei aufmerksam.»
In der zweiten Lektion betrachten sie jeweils grosse Werke der Kunstgeschichte, um zu verstehen, wie grosse Geister beobachten, auf was sie den Fokus legen und wie sie den Blick des Betrachters lenken. Die Übung dient dem Erkennen grosser Geister. Aber dafür besitzen sensible Menschen wie Louisa bereits in ganz jungen Jahren ein Gespür. «Du musst die blinden Flecken des Gegenübers kennen», erklärt Henriette. «In diesem Windschatten kannst du dich ohne grosse Anstrengung gut aufhalten. Es gibt aber eine einfache Grundregel: Um unsichtbar zu sein, muss deine Energie höher schwingen als die Energie des Gegenübers, das dich nicht entdecken soll.»
Louisa macht sich während solcher Sitzungen jeweils fleissig Notizen, um dann wieder bei null anzufangen, so kommt es ihr oft vor. «Wie erhöhe ich denn meine Schwingung?», fragt sie leicht genervt.
«Zum Beispiel mit Dostojewski», lacht Henriette. «Aber mach dir keine Sorgen. Ich habe das alles mit siebzehn auch noch nicht verstanden. Ich habe versucht, meine Jugend zu geniessen, und dabei viele Dummheiten gemacht. Nun bin ich zur Auffassung gelangt, dass nicht jede Dummheit zur Entwicklung gereicht. Also mögen meine Unterweisungen dazu dienen, deine Entwicklung auf dem einen oder anderen Gebiet ein bisschen zu beschleunigen. Aber die Schwingungserhöhung erfolgt ganz natürlich, wenn du das machst, was dir Spass macht, und die nötige Disziplin aufbringst, Hindernisse zu überwinden.»
Louisa schaut Henriette neugierig an. «Was war denn deine grösste Dummheit?»
Henriette überlegt lange.
«Ich habe zu wenig gelesen», lacht Henriette. «Meine Zwanziger habe ich mit Alkohol und Männern verbracht.» Louisa schaut sie skeptisch an: «Wirklich?»
«Ja, so was Dummes hättest du nicht erwartet, oder? Aber das ist auch eine Binsenwahrheit: Oft ist die abwegigste Annahme die Zutreffendste.»
Louisa denkt nach. «Du meinst, dass beispielsweise meine Französischlehrerin eigentlich die französische Sprache hasst, so was?»
«Ja, genau!», sagt Henriette. «Alleine, dass dir spontan dieser Gedanke kommt, ist ein Hinweis auf eine Diskrepanz, welche deine Lehrerin offenbar ausstrahlt. Möglicherweise ist deine Schlussfolgerung nicht ganz richtig, und sie hat einfach keinen Spass mehr am Unterrichten.»
Louisa lacht: «Was ja auch durchaus nachvollziehbar ist.»
«Nein», protestiert Henriette, «weisst du, wir dürfen es nicht gutheissen, wenn Leute Dinge tun, die ihnen keinen Spass mehr machen. Damit akzeptieren wir die Kakophonie! Und wenn du einen Auftrag zu erfüllen hast, Louisa, dann ist es der, gegen die Kakophonie vorzugehen!»
Louisa notiert sich das Wort «Kakophonie.»
«Komm», sagt Henriette, «für heute wollen wir Schluss machen.» Louisa streckt sich erleichtert. «Das Museum der Liebe eröffnet heute seine Tore. Lass uns dort hingehen.»
«Super», klatscht Louisa begeistert. «Darf ich auch sichtbar sein?»
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