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Switlana wechselt in druckreifes Russisch: „Wenn ich jetzt Russisch sprechen und Mütterchen Russland als Heimat anerkennen würde, ich würde nirgendwo anecken und in der Masse aufgehen. Doch wenn ich meine Pflichten so gewissenhaft erfülle wie zuvor, sogar noch gewissenhafter, aber dabei Ukrainisch spreche, bringe ich mich und meine Familie in Gefahr. Wie kann man nur der Sprache wegen einen Krieg zwischen zwei Brüdervölkern lostreten? In den Familien hat dieser Krieg bereits begonnen; sie brechen auseinander. Heute im Bus haben sich die Leute gegenseitig zum Feiertag gratuliert. Ich ließ es darauf ankommen und fragte: ‚zu welchem Feiertag denn?‘ ‚Ja wie, wir sind doch seit heute Unabhängig!‘ Ich entgegnete: ‚Welche Unabhängigkeit?‘ – ‚Na, heute haben wir uns Russland angeschlossen.‘ Dabei zeigt ein Blick ins Wörterbuch, dass die Begriffe ‚Unabhängigkeit‘ und ‚Anschluss‘ unterschiedliche Bedeutungen haben. Doch dir steht nicht zu, diesen ‚Feiertag‘ zu verweigern. Und wenn wir für das Recht einstehen, dass Sewastopol ukrainisch bleibt, bringen sie uns einfach um…“ sie ringt um die richtigen Worte „…die schlachten uns einfach ab!“
„Sie haben gerade das Wort ‚abschlachten‘ verwendet…“
„Weil es genauso gesagt wurde! ‚Ihr Benderiwtsi gehört abgeschlachtet! Ihr Faschisten!‘ Was geht nur vor in den Köpfen der Menschen? Es zerreißt dir das Herz, wenn du solche Dinge hörst. Wir leben hier wie Geiseln, ohne zu wissen, wie wir uns verhalten sollen: reden oder schweigen. Viele haben ihre Gesinnung bereits gewechselt, manche sind geflohen, andere untergetaucht, wieder andere sind verstummt. Die Fernsehsender in Sewastopol, auf der Krim – wohin man auch schaut, überall verzerrte Informationen. Die Menschen fürchten sich davor, aufs Festland zu reisen: ‚In der Ukraine werdet ihr getötet, Faschisten haben dort die Macht ergriffen – bleibt besser auf der Krim!‘ Sowas wird ihnen eingetrichtert. Aber ich war dort, vom Faschismus keine Spur.“
Ich kann Switlanas Wut nachvollziehen. Sie sucht das Gespräch mit Kollegen und ist bestrebt, Andersdenkende umzustimmen. Doch sie befürchtet, dass sie nichts ausrichten kann. Jurij hält sich bedeckt, daher will ich wissen, ob er keine Angst verspüre: „Wovor sollte ich Angst haben? Ich gebe nur wieder, was ohnehin in aller Munde ist. Wir schlagen uns mit gesperrten Bankkonten herum. Schon vor dem Referendum konnte man kein Geld mehr abheben. Ich fürchte, dass diejenigen, die hier an die Macht gekommen sind, die Krim einfach zur Plünderung freigeben. Sie werden sich wie kleine Fürsten aufführen und den Kurs von Janukowytsch fortsetzen. Sie schnappen sich seine Villen und bauen sich noch ein paar neue dazu.“
***
Was bildest du dir ein, mein Schatz?
Willst um den Finger wickeln?
Die Mädchen woll‘n dich aber nicht,
siehst aus wie ein Karnickel!
Auf dem Basar war ich vor Kurzem,
da zeigten sie ein Märchen.
‘ne Alte hat‘n Gaul geknutscht,
Fedja hieß das Pferdchen.
Russland und die Ukraine –
oh dichter Beerenstrauch,
der Grenzmann schützt die Heimat
heuer vor der Heimat auch.
Eine Frau mit einem angehefteten Georgsbändchen tanzt und singt dabei diese Zeilen. Ein Großväterchen mit Akkordeon sorgt für die musikalische Begleitung. Eine „spontane“ Feier findet hier statt. Auf dem Nachimow-Platz in Sewastopol hat sich eine Gruppe von etwa 30 Personen, darunter vorwiegend Rentner, eingefunden. Viele tragen Fahnen mit Portraits von Putin und Medwedjew.
„Wir, die Sewastopoler, sind russische Menschen, heute sind wir das allerglücklichste Volk, und ich wünschte, alle Menschen auf dem gesamten Erdball wären so glücklich wie wir es heute sind. 23 Jahre lang hatten hier die Besatzer das Sagen, und nun kehren wir endlich heim. Wenn es von uns verlangt wird, stehen wir bereit, um Tag und Nacht zu marschieren. In dieser Stadt hat immer russische Ordnung geherrscht, Ukrainisch haben wir nie gelernt, und die Älteren konnten die Packungsbeilage ihrer

Medikamente nicht lesen. Wie ist so etwas möglich? All die Jahre mussten wir ein Wörterbuch zur Hand nehmen, um uns nicht zu vergiften und an unserer Medizin zu sterben“, ereifert sich eine Frau fortgeschrittenen Alters in Matrosenshirt und Schiffchenmütze. Eben noch hatte sie mit einem Großväterchen in Kapitänsmütze getanzt.
„Wir haben diesen Moment so lange herbeigesehnt. Alles geschieht zur rechten Zeit! Was willst du da machen?!“, ergänzt das Väterchen mit einem breiten Grinsen: „Begreif doch, Kindchen: Kyjiw wurde von Banditen erobert. Hätte man ihre Machenschaften sofort im Keim erstickt, wäre das alles hier nicht passiert. Wir alle hier wären nicht zu Russland gekommen. Während wir in Untätigkeit verharrt hätten, hätten sie uns die Nationalgarde auf den Hals gehetzt. Hätte, hätte – wenn wir nicht rechtzeitig gehandelt hätten.“

Der Mann ist an die achtzig Jahre alt. Er bezeichnet sich selbst als Sewastopoler mit russischen Wurzeln, auch wenn er seine gesamte Kindheit mit ukrainischen Halbstarken in Sibirien verbracht habe: „Wie könnte ich den Ukrainern Vorwürfe machen? Die ukrainische Sowjetrepublik war die mächtigste Republik der gesamten Sowjetunion –und ihre Kornkammer. Wenn Donezk und Luhansk doch nur einen Anführer wie unseren Aksjonow13 hätten und eine Bürgerwehr auf die Beine stellen könnten, dann könnten sie eine Schwarzmeer-Republik gründen. Doch man hat die Fürsprecher des Volkes verhaftet. Ich weiß, dort hat ihnen die Unterstützung gefehlt, und hier steht die gesamte Schwarzmeerflotte hinter uns.“
„Die Ukrainer sind ja auch ein gutes Völkchen, das schon“, fährt die Frau mit der Marinekappe fort: „Aber dann kam diese Bande daher und sorgte für Ärger. 2008 habe ich im Urlaub in den Karpaten eine Familie aus der Nähe von Kyjiw getroffen. Großartige Menschen! Wir konnten uns in jeder Sprache unterhalten. Und so friedfertig! Es gibt keinen Grund, uns in die Enge zu treiben.“
Während der Videoaufnahme erwähne ich den Umstand, dass ich aus Kyjiw komme und bei Hromadske arbeite, mit keinem Wort. Doch ich gebe auch nicht vor, gebürtig von der Krim zu stammen. Und so kommt die Gruppe auf die Beziehung zwischen der Krim und der Festlandukraine zu sprechen – auf dass man sie „da drüben“ hören möge.
„Turtschynow14 hat selbst gesagt, dass er die Russen auf die Knie zwingen, ihnen den Prozess machen und sie bestrafen wird!“, beteuert eine streng dreinblickende Frau mit Brille. Im Gegensatz zu den anderen Gesprächspartnern hat sie kein einziges freundliches Wort übrig.
„Wird Ihnen das im Fernsehen erzählt?“
„Natürlich! Ganz selbstgefällig saß der da, runzelte die Stirn und blähte seine Backen. Was glauben Sie denn, warum die Leute sich jetzt erheben? 23 Jahre haben die einfach so vor sich hingelebt, sich nicht beschwert und die Klappe gehalten. Die hatten Angst – bis jetzt.“
Wie so viele kommt sie auf die „Sprachenfrage“ zu sprechen: „Ich will Ihnen mal was klarmachen. Wir haben Spielzeug gekauft, das war nur auf Chinesisch, Englisch und Ukrainisch beschriftet. Da weißt du nicht, ob die Kreide gegen Kakerlaken ist oder ob die Kinder damit auf der Tafel schreiben können!“
Mir scheint, als hätte ich die Geschichte von der Insektizid-Kreide bereits irgendwo gehört. Ein junger Mann in Militäruniform hängt sich jetzt das Akkordeon um. Eine solche Uniform wird mir schon bald darauf erneut im besetzten Donezk begegnen.
Eine andere Frau tritt an mich heran, um ihre Meinung zu sagen: „Nach Abzug aller Steuern bleiben vom Gehalt noch 50 Dollar im Monat übrig. Davon muss man 18 Dollar nur für die täglichen Mahlzeiten abziehen. In Russland wird das anders sein.“ Die Leute bilden jetzt fast so etwas wie eine Warteschlange.
„Junge Dame, es gibt keine Probleme zwischen der Ukraine und Russland“, wirft ein stattlicher Mann mit Schnurrbart und Schiebermütze ein: „Die Menschen leben in Frieden und Eintracht, doch wenn nationalistische Ideen zum Maßstab allen Handelns gemacht werden, dann ist das nicht gut. Es hat doch niemand behauptet, dass in der Westukraine alle Menschen schlecht seien. Aber Nationalisten und Extremisten, die an die Macht kommen – was soll das bitteschön? Nehmen wir den Vorsitzenden der Partei ‚Swoboda‘, Tjahnybok, oder die Swoboda-Abgeordnete Iryna Farion, die dazu aufruft, alle Nicht-Ukrainer zu vernichten. Die beiden sagen schreckliche Dinge. Oder Jarosch,15 der allen Moskowitern16 den Krieg erklärt hat. Gut, Jarosch ist nicht an der Macht, aber er tritt bei den Präsidentschaftswahlen an! Die Ukraine kann doch in der Europäischen Union und in der Zollunion17 sein! Um Himmels Willen! Aber dann bitte ohne Nazismus und Extremismus, wie ein normaler, zivilisierter Staat. Ich glaube, dass die Leute in der Ukraine das alles früher oder später begreifen und sich davon lossagen. Dann sind einem solchen Volk Ruhm und Ehre gewiss, und ich werde mein Haupt vor ihnen verneigen!“
Das Akkordeon verstummt. Die ganze Gruppe hebt im Chor an:
Sewastopol, Sewastopol,
Stolz der Matrosen, Russen, der Deinen
oh legendäres Sewastopol,
Bollwerk wider alle Feinde!
***
Vom Nachimow-Platz aus wollen wir die Uferseite wechseln – auf die „Nordseite“, wie das Viertel in Sewastopol genannt wird. Dort befindet sich der letzte noch nicht eingenommene Stützpunkt samt der Wohnheime der ukrainischen Militärangehörigen. Die Fähre, ein öffentliches Verkehrsmittel, verkehrt von morgens bis abends und bewältigt die Strecke in einer Viertelstunde. Die meisten Passagiere sind Berufstätige auf dem Weg von der Arbeit zu den Plattenbausiedlungen am Stadtrand. Einige sind auf dem Rückweg von einem Konzert, das dem „baldigen Anschluss an Russland“ gewidmet ist. Formal ist es noch ein Tag bis dahin. Die Strecke mag zwar sehr kurz sein, doch die Vorstellung, auf dem Schiff Gespräche zu führen, behagt mir nicht. An Land kannst du einfach weggehen – hier gibt es kein Entkommen. Man hat uns den Tipp gegeben, beim Anlegen auf die Kaimauer zu achten. Vom Schiff aus soll eine riesige blau-gelbe Flagge zu sehen sein, die auf den Beton der Anlegestelle gemalt wurde – ein Symbol des gewaltfreien Widerstands, das immer wieder überstrichen und dann in monatelanger Arbeit neu aufgetragen wird. Wir versuchen zu filmen, aber in der Dunkelheit erweist sich das als unmöglich.
Am Pier erwartet uns ein ukrainischer Offizier im Ruhestand, um uns mit seinem Wagen zu seinen Bekannten zu bringen. Wir sind in Eile. Im Vorbeifahren erhasche ich einen Blick auf ein Schild: „Fliegerhorst Belbek“. Hier ist eine Brigade der taktischen Luftstreitkräfte stationiert. Der Begriff Belbek ist derzeit in aller Munde. Wie auch der Name Juli Mamtschur, Oberst der taktischen Luftwaffenbrigade des Luftwaffenkommandos „Süd“. Dieser Tage ist Belbek ein Symbol des Widerstands. Rund zwei Wochen zuvor, am 4. März 2014, rückten ukrainische Militärangehörige mit der ukrainischen Nationalflagge in den Händen und mit der ukrainischen Nationalhymne auf den Lippen unter der Führung von Mamtschur zu den bewaffneten Soldaten vor, die die Zufahrt zum Stützpunkt blockierten. Man schoss den Ukrainern vor die Füße. Im Laufe des Tages kam der Stützpunkt wieder unter ukrainische Kontrolle. Am 12. März brach jedoch ein Feuer im Stützpunkt aus, der zu diesem Zeitpunkt bereits von russischen Spezialeinheiten erobert worden war. Die Ukrainer haben es gelöscht.
Selbst jetzt, im Dunkeln, kann man noch die ukrainische Flagge neben dem Tor erahnen. Diese Nacht wird der Oberst nicht zuhause verbringen, dafür ist seine Frau Larissa vor Ort. Die Offiziersfamilie lebt in einem kleinen Zimmer im nahegelegenen Wohnheim.
Larissa hat eine direkte und bestimmte Art. Es scheint, als hätte sie ihre eigene soldatische Pflicht zu erfüllen. Ihre Stimme klingt nicht verzweifelt, dabei lassen ihre Worte anderes vermuten: „Es ist vorbei. Zu spät. Das einzige, was drängt, ist die Erlaubnis zum Verlassen des Stabs – und selbst das ist schon seit einer Woche überfällig. Alles, was die Einheit hätte bewachen sollen, ist entweder beschlagnahmt oder zerstört. Und die eigenen vier Wände zu beschützen und Menschenleben zu riskieren macht keinen Sinn. Uns ist bewusst, dass die russische Armee an den Grenzen zur Ukraine aufmarschiert. Falls es dort losgeht, wird uns niemand herauslassen, um unserer Armee zu helfen. Man hätte unsere Truppen ohnehin früher abziehen müssen. Selbst wenn es nicht 20.000, sondern nur 10.000 wären, so sind es immer noch ausgebildete Spezialkräfte.“
„Wie lauten derzeit Ihre Befehle? Was spielt sich hier gerade ab?“
„Es heißt, sie seien gerade in der ‚Entscheidungsfindung‘. So gut wie alle fühlen sich im Stich gelassen. In dieser Situation sind uns die Hände gebunden. Der Befehl, ‚den Umständen entsprechend zu handeln‘, ist eine bequeme Ausrede, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Ganz gleich, was wir tun, wir werden ohnehin als Verräter verurteilt. Der Oberst trägt die Verantwortung für das gesamte Eigentum, das bereits zerstört wurde. Aus dem Stab kann er nicht ausscheiden, außer er jagt sich eine Kugel in den Schädel. Verlässt er den Stab, wird er als Verräter behandelt. Sie wollen wissen, was in den kommenden Tagen geschehen wird? Wir reden hier von Stunden. Drei Regimenter, darunter unser eigenes, wurden noch nicht festgesetzt. Wir erwarten die baldige Stürmung. Unsere einzigen Informationen beziehen wir aus dem Fernsehen, und dabei nicht einmal dem ukrainischen. Unser Flugplatz, die Ausrüstung – alles wurde bereits zerstört. Wir sind umzingelt von bewaffneten Männern.“
Der Hoffnungslosigkeit zum Trotz wollen wir sofort in unserer Eigenschaft als Journalisten helfen. Ich frage also, welche Art von

Hilfe die Militärangehörigen und ihre Familien nach dem „Referendum“ benötigen: „Wir sehen alles nur von unserer begrenzten Warte aus. Niemand traut sich, über Flucht zu reden, das wäre feige. Aber wir sitzen einfach herum und warten, da es keine Befehle gibt. Die größte Angst haben wir davor, dass in der Ukraine ein Krieg ausbricht. In den vergangenen drei Wochen haben wir uns moralisch und physisch an die Situation gewöhnt. Es gibt jetzt nicht viel zu helfen, es sei denn, das Militär würde auf das Festland verlegt.“
„Unterkunft, Geld, wenigstens irgendwas?“
„Stellt euch vor, die Leute lassen alles stehen und liegen, ihre Möbel, alles Mögliche. Gebe Gott, dass wir wenigstens einige Koffer packen können. Wo sollen wir nur hin – aufs freie Feld? Hier hat zumindest fast jeder ein Zimmer im Wohnheim, eine eigene Wohnung, oder die der Eltern. Und dort – nichts.“
Larissa macht eine lange Pause. Dann fährt sie fort: „Ich kann nicht behaupten, dass das ukrainische Volk uns nicht helfen würde. Wir werden aus allen möglichen Gegenden des Landes angerufen und moralisch unterstützt. Tablets haben wir auch erhalten, Internet haben wir. Die einzige spürbare Unterstützung kommt vom ukrainischen Volk. Wenn wir ermutigende Worte hören, etwa im Fernsehen… dann rühren sie uns zu Tränen. So leben wir. 99 Prozent der Militärangehörigen halten zu diesem Volk. Ob das auf die Regierung zutrifft, lässt sich schwer sagen. Aber für dieses Volk werden wir weiter einstehen.“
Major Leonid Lisowyj, der Nachbar der Familie Mamtschur, bringt sich in die Unterhaltung ein: „Was hier vor sich geht? Die russischen Truppen drängen uns an die Wand. De facto befinden wir uns jetzt auf fremdem Territorium. Seit dem Referendum sind wir für sie nicht mehr als bewaffnete Banditen, die ausgemerzt werden müssen. Das muss denen in Kyjiw klargemacht werden, aber die Leitungen sind gekappt. Ich denke nicht, dass es jetzt noch Sinn macht, Waffengewalt anzuwenden. Das wäre Brudermord. Wir haben jedoch keine Verbindung zum Verteidigungsministerium. Wenn wir doch nur potente Machthaber hätten, die hierher auf die Krim, nach Simferopol, kämen, um sich hinzusetzen und zu einer Einigung zu kommen. Aber so werden wir Tag für Tag weiter zurückgedrängt.“
Major Lisowyj hat eine Entscheidung getroffen. Gebürtig stammt er aus Winnyzja. Seine Eltern leben dort, vor kurzem hat er seine Frau dorthin geschickt. Eine Unterkunft auf der Krim hat er nicht erhalten: „Auf dem Dienstweg hat mir niemand etwas angeboten. Sobald ich in Winnyzja angekommen bin, vereinbare ich ein Treffen mit dem diensthabenden Offizier und bitte ihn, mich für ein weiteres Jahr zu verpflichten. Ich würde gerne. Kommt er zu dem Schluss, dass ich gebraucht werde – dann werde ich dienen. Falls nicht, schreibe ich einen Bericht und lasse mich vom Dienst suspendieren. Und was dann? Ich weiß es nicht. Das ist Sache der Machthaber.“
So dächten Lisowyj zufolge viele der Militärangehörigen, die nicht von der Krim kämen. Die Ortsansässigen hingegen, mit Familie, Eltern, Frau, die blieben hier.
Als wir aufbrechen, registriert mein estnischer Kollege die bescheidenen Lebensverhältnisse der ukrainischen Offiziere. Überall auf den Fluren stehen große, karierte Taschen; Anzeichen für die Abreisevorbereitungen der Familien.18
Nicht nur ihre Wohnungen und Familien hindern die Ortsansässigen an der Abreise. Wiktor Wasylowytsch, der Offizier außer Dienst, der uns zu diesem Stützpunkt und diesem Wohnheim gebracht hat, sagt, dass er die Halbinsel nicht so ohne weiteres verlassen könne. Es ist noch nicht so lange her, dass sein Sohn bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Und die Person, die den Unfall zu verantworten habe, sei noch nicht verurteilt worden; der Prozess dauere noch an: „Ich verstehe einfach nicht, wie das möglich ist, und ich kann nicht zulassen, dass die Akte einfach geschlossen wird“, erklärt er leise.
In der Innenstadt treffen wir uns mit einem anderen Angehörigen der ukrainischen Marine. Seine ganze Familie stammt aus Sewastopol. Roman mimt für uns den Tourguide und führt uns durch die Stadt. Er zeigt uns das Moskauer Haus und das russische Offizierskasino, das schon sehr lange auf der Krim ansässig ist. Dabei wiederholt er gebetsmühlenartig, wie lange Russland hier schon seine Vorherrschaft ins Felsgestein meißelt: „Sewastopol, die Krim wie auch das Baltikum sind Rückzugsorte für viele Soldaten im Ruhestand. Sie haben in Russland gedient und genießen hier ihre Rente. Und nun fordern sie ein besseres Leben. Sie sind einfach auf die russischen Rentenzahlungen angewiesen. Mit der Krim oder der Ukraine fühlen sie sich in keinster Weise verbunden, deshalb unterstützen sie die Vereinigung mit Russland. Das trifft auch auf diejenigen zu, die für Unternehmen arbeiten, die mit der Wartung der Schwarzmeerflotte betraut sind. Dann gibt es noch die ‚Berufsrussen‘ aus den prorussischen Organisationen. Die jungen Menschen sind in den Jahren nach der Unabhängigkeit auf der Krim aufgewachsen, haben an ukrainischen Hochschulen studiert, sind nach Europa gereist und haben das Leben in der Sowjetunion nicht miterlebt; viele waren noch nie in Russland. Doch im Gegensatz zu den Rentnern sind sie nicht sonderlich aktiv. Denn die, die haben keine einzige Wahl verpasst.“
Die Straßen sind fast menschenleer. Auf unserem Weg zum Treffen können wir die Silhouetten der „höflichen Menschen“ erahnen – bewaffneten Soldaten, die um die Häuserblöcke patrouillieren. Einerseits ist die Versuchung groß, weitere Aufnahmen von russischen Sicherheitskräften zu machen. Andererseits ist Vorsicht geboten: die Aussicht, sich mit einem in Kyjiw ausgestellten ukrainischen Pass und dem Reisepass eines estnischen Staatsbürgers ausweisen zu müssen, ist nicht sehr verlockend. Für alle Fälle suchen wir uns einen ruhigeren Ort. Wir sind die einzigen drei Gäste in der anscheinend einzigen Bar, die um diese Zeit im Stadtzentrum noch geöffnet hat. Ein ukrainischer Sender läuft im Fernsehen. Ich will wissen, ob sie auch andere Sender empfangen. Das Mädchen hinter der Theke sagt, dass ihre Eltern zwar alle Sender empfangen, ihnen aber keinen Glauben schenken würden: „Da zeigen sie Massen von Menschen auf der Flucht, aber Sie sehen doch, dass das nicht der Fall ist.“
„Das größte Problem für die ukrainischen Seestreitkräfte und die ukrainischen Bürger auf der Krim ist die Untätigkeit der Machthaber in Kyjiw. Drei Wochen lang musste das Militär ohne schriftliche Befehle auskommen. Es gab lediglich Anrufe aus dem Verteidigungsministerium und dem Generalstab. Es hieß, wir sollen auf unseren Posten bleiben, doch was zu tun sei, konnten sie uns nicht sagen“, erklärt Roman.
Seiner Ansicht nach müsse man entweder alle Truppen abziehen oder aber sich auf Bedingungen einigen, unter denen sie hierbleiben können. Doch dazu bliebe keine Zeit: „In den kommenden Tagen werden die übrigen Stützpunkte erobert. Ohne Beistand vom Festland werden sie sich nicht halten können. Der Vorsitzende des Ministerrats der Krim hat angekündigt, dass das gesamte Eigentum auf dem Territorium der Halbinsel verstaatlicht wird – und damit auch alles, was der Marine gehört. Sie werden also alles mitnehmen, Waffen, Militärtechnik, Schiffe, die Magazinbestände, einfach alles. Aktuell liegen in der Strilezka-Bucht einige Schiffe und U-Boote, hinzu kommen einige bemannte ukrainische Schiffe am südlichen Marinestützpunkt in Donuslaw. Wenn es wie von Aksjonow angekündigt dazu kommt, dass sie ebenfalls festgesetzt werden, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Schiffe entweder preiszugeben, abzuziehen oder zu versenken. Die Leute handeln auf eigene Initiative, ohne klare Anweisungen aus Kyjiw. Das kann nicht lange gutgehen. In Nowooserne wurde bereits eine Garnison eingenommen. Mindestens die Hälfte aller Schiffe wurde seit der Unabhängigkeit in der Werft in Mykolajiw vom Stapel gelassen. Das alles setzt Kyjiw durch seine Unentschlossenheit aufs Spiel.“
Wir verabschieden uns und wollen aufbrechen. Den ganzen Abend lang redete Roman besonnen, führte Fakten an und legte Argumente dar. Doch plötzlich klingt seine Stimme verärgert, so als wäre das Wesentliche noch nicht zur Sprache gekommen: „Wie kann es sein, dass wir, eine Nation der Kosaken, uns kampflos ergeben haben? Das bekümmert mich zutiefst. Ich weiß nicht, was ihr in Kyjiw so denkt, aber hier fragen sich alle, wie ihr Leben unter Russland aussehen wird.“
„Werden Sie die russische Staatsbürgerschaft annehmen?“
„Wenn die Krim russisch wird, lässt sich das wohl nicht vermeiden. Was bleibt mir anderes übrig? Man hat uns im Stich gelassen. Von Rechts wegen hätten wir auf die Angreifer schießen müssen. Aber wir unterließen es – auch, weil die Soldaten sich nicht sicher sein konnten, ob Kyjiw hinter ihnen steht. Das russische Militär folgte den Angreifern auf dem Fuße – vielleicht hatte sich das russische Militär auch die Uniform der Volksmilizen übergezogen. Wir werden hier von einer Horde Banditen regiert werden wie in Tschetschenien und dabei zusehen, wie die Ukraine EU- und NATO-Mitglied wird.“
Roman setzt seinen Monolog fort: „Eine starke Armee, eine starke Wirtschaft – und die Krimbewohner werden selbst darum bitten, wieder ein Teil der Ukraine zu werden. Doch bis es so weit ist, werden noch viele Jahre vergehen. Vielleicht kommt es hier auch zu ethnischen Säuberungen gegen Ukrainer, und es werden mehr Menschen leiden müssen, als wenn anstelle des russischen Eindringens ein offener, bewaffneter Konflikt ausgebrochen wäre.“
Ich werde Roman ein halbes Jahr später in Odessa wiedertreffen. Seine Einheit wurde von der Krim dorthin verlegt. In Sewastopol unterhielt er sich noch in seiner Muttersprache Russisch. Nach einem halben Jahr in Odessa hat er sie vollständig abgelegt. Für ihn ist sie die Sprache der Verräter.
Auf den Dächern der Plattenbauten von Sewastopol wehen russische Flaggen. Kritiker der Annexion sind unversehens im Untergrund gelandet. In einer weiteren Plattenbausiedlung am Rande dieser Stadt, die mir gigantisch vorkommt, da wir von einem Viertel ins nächste jedes Mal mindestens eine Stunde unterwegs sind, treffen wir ebensolche Kritiker in Gestalt eines Ehepaars.
Die beiden sind Mitglieder einer evangelikalen Kirchengemeinde und haben schreckliche Angst vor dem, was noch kommen mag. Sie berichten über den Druck gegen und die Gefahren für Gläubige, die einer anderen Konfession angehören als der Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. Kosaken und Berkut-Mitglieder haben einen Baptistenpriester am Checkpoint in der Nähe von Armjansk brutal zusammengeschlagen. Die Eheleute helfen gemeinsam mit anderen Gläubigen bei der Suche nach einem jungen Glaubensbruder, der offenbar am selben Checkpoint verschwunden ist. Informationen zu dem Jungen werden mündlich unter den Gemeindemitgliedern weitergegeben. Wir sind überfordert. Wie soll man das alles schaffen? Sollen wir alles stehen und liegenlassen, um nach einer einzigen Person zu suchen? Wir sind in Sewastopol und schaffen es nicht, vor Mitternacht von der Halbinsel wegzukommen. Ich notiere mir alle Telefonnummern und leite sie an die Redaktion weiter.


