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»Du kannst dich hier hinsetzen«, erklärte er freundlich.
Kamila ließ sich zitternd nieder und hielt ihren Oberkörper kerzengerade. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der Mann durch den Raum schritt und sich hinter einem gewaltigen Schreibtisch niederließ. Er beachtete sie nicht. Kamila starrte auf den Teppich und versuchte, ihren flatternden Atem zu beruhigen. Plötzlich hörte sie, wie eine Frau durch eine weitere Tür in den Raum trat. Sie warf einen verwunderten Blick zu ihr hin und schritt auf den Schreibtisch zu.
»Das Essen ist gerichtet, Herr Doktor.«
Der Patron blickte von einer Akte auf. »Was gibt es denn Schönes?«
»Hirschgulasch mit Semmelknödeln«, erwiderte die Frau, offensichtlich seine Sekretärin.
»Mit Preiselbeeren hoffe ich!«
»Natürlich, Doktorchen.« Sie schlug sich verlegen auf den Mund. Erneut warf sie einen raschen Blick auf Kamila.
Der Mann grinste spitzbübisch. »Ist schon in Ordnung, Ruth. Lass das Essen hierher bringen, ich will dabei ein wenig die Akten durchsehen. Und vergiss nicht eine Portion für das Mädel. Sie kann dort auf dem Stuhl essen.« Er wies mit einer Hand auf die Stelle, wo Kamila saß.
Fünf Minuten später kam ein Diener mit einem Wagen. Er deckte den Schreibtisch und füllte aus einer weiß glänzenden Terrine Gulasch auf den Teller. Kamila stieg der Geruch nach Wildfleisch und satter Soße in die Nase. Wie auf Kommando begann ihr Magen zu knurren. Zu ihrer maßlosen Verblüffung sah sie, dass der Kellner, nachdem er den Mann bedient hatte, tatsächlich auf sie zu schritt. Er stellte ein Tischchen vor sie hin und füllte in einen Blechteller Gulasch mit Soße. Dazu legte er einen fetten Knödel und häufte zum Schluss einen Teelöffel Marmelade dazu.
Sie schloss die Augen und spürte, dass ihr vor Hunger schlecht wurde. Kamila versuchte, an ihr Dorf zu denken und an ihre toten Eltern. Sie dachte an ihre Brüder, die vielleicht längst unter der Erde lagen und an den Weiher, in den sie oft nach der Arbeit gehüpft waren. Dann dachte sie an ihre Freundin Justyna und die anderen Frauen, die jetzt eine dünne Linsensuppe mit einem Stück Brot erhielten und solange daran kauten, dass es in ihrem Mund zu Brei wurde. Zum Schluss dachte sie an den Meister; wie sie ihm mit einer Gabel die Augen ausstach und ihn danach mit einem Feldstechergehäuse erschlug.
Als der Kellner endlich das Geschirr abräumte, hatte sie nicht einen Bissen angerührt.
Zum Feierabend entließ sie der Doktor freundlich, und sie wankte halb blind vor Hunger und Schwäche aus dem Raum.
11. Atelier
14. September 2010
Klopfenden Herzens drehte Karl-Heinz den großen, leicht verrosteten Schlüssel um. Die schwere Eingangstür schleifte beim Öffnen über den Boden. Über dem Atelierraum lag ein diffuses, nahezu schattenloses Licht.
Sigi hatte ihm seine Bilder, den Inhalt der Materialschränke und das geordnete Chaos der Farbtuben und Paletten, Lösungsmittel, Leinwände und Schwämme einigermaßen erklärt. Er hatte versucht, ihm klarzumachen, in welcher künstlerischen Phase er sich befand und warum. Er hatte ihn angefleht, nichts zu verpfuschen und lieber gar nichts zu malen als Schrott. Und er hatte ihn unter Tränen bekniet, Joana so pfleglich zu behandeln wie eines seiner vielschichtigen Gemälde, die er in einer Mischung aus Rausch und Kalkül von der Leinwand stahl, als wären sie ein Stück Marmor oder Granit.
Karl-Heinz fühlte sich wie ein Dieb im eigenen Haus. Er stolperte ungeschickt über ein paar Holzlatten, hielt sich an der Staffelei fest und hätte sie beinahe umgerissen. Wo war Joana? Er hatte sich auf dem Weg ein paar einleitende Sätze zurechtgelegt, witzig und schlagfertig, wie sie seiner Ansicht nach zu Sigi passten. Plötzlich waren sie wie weggeblasen. Zaghaft öffnete er die Tür zu den Privaträumen. Vor ihm lag eine gemütliche kleine Wohnküche. Durch das hoch liegende Erkerfenster lugte die Sonne. Abgesehen von ein paar zwitschernden Vögeln vor dem Fenster war es vollkommen still.
»Joana?«
Seine Stimme klang so dumpf, als dringe sie aus einem Berg von Watte. Er drückte sich um den Küchentisch und lehnte sich steif an die Kante. Der Schweiß rann ihm über die Stirne, sammelte sich hinter seinen Ohren und im Nacken. Eine Welle von Panik schlug in ihm hoch und war nahe daran, ihn zu ersticken. Wo war Joana?
Vielleicht hatte sie die Schmierenkomödie irgendwie entdeckt und sich davongestohlen? Oder sie war erbost über sein nächtliches Ausbleiben und beschloss, es ihm heimzuzahlen … Sabine hätte so gehandelt. Aus welchem Holz aber war Joana gestrickt? Er verfluchte Sigi, dass er ihn nicht besser instruiert hatte.
Die ganze Situation war ja vollkommen lächerlich und absurd. Er würde jetzt sofort die Wohnung verlassen und von Sigi seinen Schlüssel fordern. Wie hatte er sich nur auf so ein idiotisches Spiel einlassen können?
Karl-Heinz wandte sich zur Tür und war von einem Moment zum anderen vollkommen blind. Zwei Hände legten sich wie Klammern über seine Augen, und ein unsichtbarer Körper bedrohte ihn von hinten. Karl-Heinz schrie auf, riss die Hände vom Gesicht, drehte sich auf dem Absatz um und griff an. Er starrte in das erschrockene Gesicht Joanas.
Das Lachen, das ihr auf den Lippen lag, gefror zu einer Grimasse. Sie räusperte sich, starrte ihn einen Moment lang an und wedelte mit der Hand.
»Ich bin kein Seeungeheuer, keine Klapperschlange und auch kein Drache!« Das Lächeln kehrte wieder zurück, und sie begann zu kichern. »Du musst ja eine furchtbare Nacht hinter dir haben, so wie du aussiehst.« Sie strich ihm über die stoppelige Wange. »Mein armer Sigi!«
Einen Augenblick lang drehte sich alles um ihn im Kreis. Er schloss die Augen, hielt sich reflexartig an etwas fest, merkte, dass es warm und weich war, und stieß das fremde Objekt vorsorglich weg. Wie durch einen Nebel erblickte er die hochgezogene Stirne seiner dunklen Frau.
»Joana«, krächzte er. »Ich dachte, dass … du bist hier?« Sein Gesichtsausdruck glich dem eines Dreijährigen, der eine Trigonometrie-Aufgabe vor sich sieht.
»Mein armer Sigi«, wiederholte Joana und trat kopfschüttelnd an den Gasherd. »Ich glaube, ich mache dir erst mal einen Tee … Wo bist du überhaupt gewesen? Du hättest mich ja ruhig anrufen können!«
Karl-Heinz stierte auf einen Miniatur-Nikolaus, der zeitlos und hässlich neben Oregano-, Safran- und Pfefferdosen auf dem hohen Regal stand.
»Ich war mit Sigi«, er griff sich an die Stirn, »will sagen mit Karl-Heinz in unserer Kneipe. Es war auch ein Kumpel aus alten Zeiten da, und wir haben Wiedersehen gefeiert bis zum Morgen. Du bist mir doch nicht böse, oder?«
Joana unterdrückte ein Lächeln. »Kleine Jungen schlagen manchmal über die Stränge … Ich verzeihe dir ausnahmsweise, aber nur, wenn du bis zum Ende austrinkst.«
Sie reichte ihm den streng riechenden Tee. Karl-Heinz schnüffelte daran, verzog das Gesicht und begann mit Todesverachtung zu trinken. Es geht ja, dachte er und fühlte sich plötzlich von einer Euphorie davongetragen. Es funktioniert tatsächlich.
Schon etwas sicherer bestellte er Sigis unnachahmlichen Hundeblick und richtete ihn auf Joana. Innerlich jauchzend stellte er fest, dass ihre Augen weich wurden und zu glänzen begannen. Sein Blick rutschte tiefer und fiel auf das einladende Dekolleté. Fast entsetzt bemerkte er, dass sie keinen BH trug. Karl-Heinz stellte den Tee ab und verschüttete die Hälfte. Auf einmal überschwemmte ihn eine Welle von Gier. Seine Hand machte sich selbstständig und glitt von Joanas Schulter über den Halsansatz zu dem Tal zwischen ihren Brüsten.
Joana schlug ihn auf die Hand und wies auf den Küchentisch. »Alles austrinken!«, flüsterte sie heiser.
Karl-Heinz trank den Becher in einem Zug leer, verschluckte sich und begann zu husten. Seine Frau schüttelte ungläubig den Kopf. »Du benimmst dich ja, als hättest du eine Woche keine Frau angerührt.«
… Womit du durchaus recht hast, dachte Karl-Heinz, stürzte sich auf sie und riss ihr das bunt gefleckte Kleid von den Schultern.
Sekunden später war er nicht mehr vorhanden. Sigis Körper übernahm die Regie, so als wüsste er im Schlaf, wo Joanas Lieblingsstellen waren, wo er streicheln musste und wo drücken. Er wusste, wann es galt, eine Pause zu machen, um ihren aufgelösten Blick in der Schale des seinen zu fangen und dann unendlich langsam erneut zu spielen; bis sein Bewusstsein sich auflöste in ein Feuerwerk, das er eigentlich erst zu Silvester erwartet hatte.
12. Büro
Sein Freund Sigi machte sich auf den Weg durch Friedrichshain in die Richtung von Karl-Heinz’ Büro. Er hatte es nicht eilig. Die Nachmittagssonne beschien gleichermaßen Wiesen und Bäume, telefonierende Manager, türkische Hausfrauen mit riesigen Tüten und die immer zahlreicher werdenden Bewohner der Straße.
Er ging über die Brücke, die zur Köpenicker Straße führte, schlenderte den Kanal entlang und bewunderte die Ausflugsboote. Unermüdlich pendelten sie von einem Ende der Stadt zum anderen und beförderten Touristen, die gierig den Geschichten über ehemalige Todeszonen und Stacheldraht lauschten. Scharen von Tauben kreisten über dem Wasser und verlangten gurrend, dass man sie bediente. Ein bärtiger Landstreicher teilte seine Brotzeit mit den Vögeln, die ihn aufgeregt umflatterten und versuchten, sich gegenseitig die Brocken wegzuschnappen.
Sigi senkte seine Hand in den ungewohnten Stoff seiner Hose, kramte eine von Karl-Heinz’ Münzen hervor und legte sie dem Mann auf die Decke. Der Landstreicher lockte eine zögerliche Taube, die ihn aus starren Augen anblickte. Er war so in den stummen Dialog versunken, dass er nicht einmal nach oben sah.
Sieben Tage, dachte Sigi. Wenn man dabei war, ein Bild zu malen und nachts davon träumte, etwas zu schaffen, das noch viel mehr war: ein Strudel, in den man absinken konnte und sich in seinen Untiefen verlieren; um dann vielleicht wieder aufzutauchen in einem Blitz des Erkennens – dann konnte eine Woche sehr kurz sein. Wenn man auf einen verlorengegangenen Körper und seine ausgeliehene Frau wartete, war sie wahrscheinlich entsetzlich lang.
Man konnte diese Zeit aber auch wie ein Bild sehen; ein Kunstwerk, das er schuf, indem er es lebte. Ein Lernen und, wer weiß, am Schluss ein Gelingen. Er beschloss, eine vielleicht gerade jetzt unter seinem fremden Körper liegende Joana zu vergessen und horchte nach innen. Er betrachtete seine angespannten Hände mit den hervorstehenden Venen und strich über seine arrogante Nase und den Mund wie ein Blinder, der mit dem Tastsinn sieht; er meinte zu fühlen, wie sein drängendes Blut durch die dünnen Adern strömte. Und er lauschte der fast quälenden Unruhe, die in jeder Faser dieses Körpers pulste. Sein Besitzer, dachte er befremdet, hatte sich zum Erfolghaben verurteilt …
Fast wie von selbst gelangte er nach Kreuzberg und in die Oranienstraße. Wie immer, wenn er hier war, genoss er die an sich unverdauliche Mischung aus Kiez, Kunst und Kommerz; ein schickes indisches Restaurant, das zur Dekoration den halben Palast eines Maharadschas geplündert zu haben schien, lag neben einem nach Kebab duftenden Türkenladen. Die Enklave von Istanbul fand sich nicht weit entfernt von Greenwich Village; gleich daneben stieß man auf Auslagerungen Persiens, Afghanistans, Polens und der Ukraine. Ein Drogensüchtiger konnte hier neben einem Börsianer sitzen, und ein russischer Zuhälter neben einer Beauftragten für Frauenrechte.
Sigi wusste, dass diese Lebendigkeit gegen den Lauf der Zeit ankämpfte. Ein einfacher Laden nach dem anderen gab auf und wich einer Designer-Bar oder einem angesagten Sushi-Imbiss. In ein paar Jahren würden all die schrägen Vögel und Landstreicher, die vergessenen Punks, Literaten und Artisten eine andere trostlose Nische gefunden haben und sie zum Blühen bringen; bis man sie auch von dort wieder vertrieb.
Karl-Heinz hatte gut gewusst, warum er sich hier schon vor Jahren zu einem Spottpreis zwei Wohnungen im gleichen Gebäude gekauft hatte. Es lag am Anfang der Straße etwas abseits vom Rummel. Im Erdgeschoss in der Ladenwohnung hatte er sein Büro eröffnet, und hoch oben unter dem Dach wohnte er, mit fantastischem Blick auf den Fernsehturm und die technokratische neue Welt des Potsdamer Platzes.
Sigi blickte auf die diskreten Edelstahllettern über der Tür: Antiquitäten. Ein flüchtiger Beobachter hätte sie wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen. In dem – natürlich mit Alarmanlage versehenen – Schaufenster ruhte das ausgewählte Exemplar einer kleinen Truhe. In winzigen Buchstaben war darunter zu lesen: Wien, circa 1675. In dem modernen Büroraum selbst wies nichts darauf hin, dass hier jährlich etwa zweihundert erstklassige Antiquitäten den Besitzer wechselten. Sigi seufzte in sich hinein und öffnete die Tür.
Monika, seine Sekretärin, blickte vom Schreibtisch hoch, sah entrüstet auf die Armbanduhr und begann umgehend zu schimpfen. »Ich glaube es nicht. Konntest du nicht einmal anrufen? Den ganzen Vormittag lief hier das Telefon heiß, und ich war nicht in der Lage, jemandem eine vernünftige Antwort zu geben!«
Sigi konnte nicht anders. Er sah in ihren Augen eine mühsam unter Verschluss gehaltene Mischung aus Widerwillen, Verbitterung und Schmerz. Auf Samtfüßen trat er vor ihren Drehstuhl und fiel auf die Knie. »Mea maxima culpa!«
Mit galanter Geste ergriff er ihre Hand und küsste sie sanft. Seine stahlblauen Augen scheiterten an der Aufgabe, den geplanten Blick in die Tat umzusetzen, doch allein schon der Kuss erzielte eine verblüffende Wirkung.
Monika riss ihre dezent geschminkten Augen auf und starrte ihn an. »Hast du getrunken? Bist du verliebt? Hattest du einen Schlaganfall?«
Er erhob sich vom Boden und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Nichts dergleichen«, erwiderte er zerknirscht. »Ich bitte dich nur um Verzeihung!«
Sie zögerte einen Moment, als sei sie in einer Agonie gefangen. Dann griff sie mit fliegender Hand nach einem Designer-Kugelschreiber und beugte sich über ihren Kalender. »Den Tag muss ich mir rot anstreichen.« Sie zeichnete ein dickes Kreuz und schrieb zweimal unterstrichen daneben: Karl-Heinz bat mich heute auf Knien um Verzeihung!
Ihr hübsches, ein wenig pummeliges Gesicht erlebte in Sekundenschnelle eine Metamorphose. Die chronische Anspannung wich einer leichten Röte, die sich wie von magischer Hand gezeichnet über ihre Wangen, den Hals und die Schultern legte. Ihre zusammengepressten Lippen wurden weich, und in die kastanienbraunen Augen trat ein Ausdruck, der Sigi auffällig an die Bedienung in seiner Stammkneipe erinnerte.
Monika öffnete ihren Mund zu einem weiteren Statement, überlegte es sich anders, sah geflissentlich auf ihren Kalender und sagte mit völlig veränderter Stimme: »Zwei – nein, drei Kunden haben angerufen und bitten um Rückruf. Der Bauer aus Niederösterreich hat sich gemeldet. Dein Steuerberater kann einen Termin freimachen am Freitag um zehn Uhr.« Sie zögerte kurz und kräuselte ihre hübsche Stirn. »Sabine hat sich gemeldet und bittet … nein – fordert ebenfalls einen Rückruf, und zwar gestern.«
Sie versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken und hauchte dann: »Ich weiß nicht, ob du mich heute noch brauchst … Ansonsten wäre ich ja jetzt fertig.« Ihre Körpersprache brachte deutlich zum Ausdruck, dass sie noch lange nicht fertig zu sein wünschte.
»Ohne dich wäre ich nur Schall und Rauch«, erwiderte Sigi und seufzte. »Aber für heute ist es genug. Ich muss mich schließlich noch mit österreichischen Viehhändlern, dem Steuereintreiber und zahlungsunwilligen Kunden herumschlagen. Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben …«
Er hauchte einen Kuss gefährlich nahe an ihre Lippen. Monika sah ihn mit einer Mischung aus Unsicherheit, Misstrauen und Hingabe an. »Du bist heute so … anders …«
Sigis Augen wanderten nachdenklich über ihren Ausschnitt. »Weißt du, wo ich jetzt gerne wäre?«
Sie hing erwartungsvoll an seinen Lippen.
»Auf einem Heuwagen irgendwo im Grünen, zusammen mit einem rundlichen blonden Mädchen … so wie du …«
Monika erhob sich schwankend aus ihrem Drehstuhl. Sie überlegte einen Augenblick, sich an seine Brust zu stürzen, hielt sich im letzten Augenblick zurück und stolzierte hüftenwackelnd zur Garderobe, wo sie ihre Tasche und einen leichten Mantel vom Haken nahm. Sie schritt zur Tür, wandte sich noch einmal um und hauchte ihm eine Wagenladung voller Küsse zu.
Sigi schloss einen Moment lang die Augen. Er machte Anstalten, sich über die Stirnglatze zu streichen, stieß erneut auf das fremde Büschel dunkler, kratzender Locken und schüttelte angeekelt den Kopf. Halbherzig griff er nach dem Kalender, trat damit in sein Büro, setzte sich in den Biedermeierstuhl und deponierte die Beine auf dem gläsernen Schreibtisch. Was sollte er als erstes tun? Die Kunden anrufen? Den Steuerberater? Ein Gefühl sagte ihm, dass zunächst einmal der Bauer dran war. Er wählte die österreichische Nummer und hörte das Freizeichen.
»Hackelhofer«, erklang eine missgelaunte Stimme mit Dialekt.
»… Was würde ich jetzt gerne auf einem niederösterreichischen Heuhaufen sitzen«, spann Sigi das eben erfundene schöne Bild weiter. »Ein kühles Bier in der Hand, und in der anderen vielleicht ein Mädchen …«
»Wer spricht denn da?«
»Mein Gott, ich habe mich überhaupt nicht vorgestellt. Hier ist Karl-Heinz Schlichte aus Berlin.«
Sigi hörte förmlich, wie bei seinem Gesprächspartner die Alarmglocken schrillten. »Ach ja, die kostbare Truhe …«, erwiderte Herr Hackelhofer vorsichtig.
»Bei Ihnen auf dem Hof muss es jetzt herrlich sein«, improvisierte Sigi weiter. »Der Blick auf die fernen Berge, die bunten Geranien am Fenster, der Geruch nach frisch gewendetem Heu …«
Hackelhofer räusperte sich und fragte: »Mit wem spreche ich?«
»Karl-Heinz Schlichte, ich bin es immer noch. Wissen Sie, dass ich Sie um Ihre frische Milch und Ihren Sonnenuntergang beneide? Oder ein frisches Bad in einem kleinen See …«
»Im … äh, Hatzinger Weiher kann man jetzt um die Zeit noch gut baden, aber wollten Sie nicht …«
»Mich entspannen, Herr Hackelhofer; Ferien machen, den Duft von frisch gemähtem Gras riechen: Das würde ich gerne …«
»Aber … da sind Sie ja hier vollkommen richtig! Wir leben in einem Paradies. Ich sage immer wieder zu meiner Frau: Maria, sag ich, wir zwei Hübschen brauchen gar nicht mehr zu sterben, wir sind jetzt schon im Garten Eden!« Er lachte herzlich, und Sigi fiel ebenso fröhlich mit ein.
Herr Hackelhofer konnte es kaum fassen. Dieser Schlichte war ja in Wahrheit ein hoch sympathischer Kerl – intelligent, gebildet …
»Kommen Sie doch einfach zu uns. Wir haben Fremdenzimmer mit West- oder Ostbalkon, wie Sie es wünschen. Und … Herr Schlichte …« Er machte eine kleine Pause. »Die Madeln hier sind vom Feinsten, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. … Wann wollen Sie kommen?«
Sigi seufzte. »Am liebsten sofort. Aber die Hyänen hier lassen mich ja nicht fort.«
Herrn Hackelhofers Stimme zitterte vor Empörung. »Ich kenn das, Herr Schlichte. Diese Schakale lassen einem keine Ruhe.«
»Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund.«
»Wenn ich gewusst hatte, wie sehr Sie mein Land lieben, dann hätten wir doch nie, ich meine: sofort … Wissen Sie was? Kommen Sie, wann Sie wollen, mein Haus steht immer für Sie offen! Und wegen der Truhe machen Sie sich keine Sorgen, ich gebe Ihnen die Konditionen wie gewünscht. Ich schicke sie Ihnen gleich morgen zu. Hat mich sehr gefreut, Herr Schlichte, hat mich wirklich sehr gefreut!«
Sigi legte den Hörer nieder. Vor dem Fenster spielte das verschwenderisch goldene Licht des späten Nachmittags. Im Hof zwitscherten die Vögel, und von fern her hörte er das Lachen und das Geschrei von Kindern. Er konnte mit seinem ersten Arbeitstag zufrieden sein.
Warum spürte er dann diese Traurigkeit, die über seine Haut krabbelte wie hunderte winziger vielfüßiger Käfer?
13. Fremde Nähe
Joana hielt die Augen geschlossen. Sigis verschwitzter Kopf ruhte schwer atmend auf ihrer Brust. Sie zwirbelte mit zwei Fingern an seinem dünner werdenden Haar. Dieses Mal war es fast unglaublich gewesen … so anders … Als ob sie mit Sigi geschlafen hätte und gleichzeitig mit einem Fremden. Sie hatte eine Gier in ihm gespürt, die fast schon an Verzweiflung grenzte. War es die chronisch desolate Finanzlage, die ihn plötzlich zu solchen Stürmen hinriss?
Obwohl sie wusste, dass er ein Frauenverehrer war, vertraute sie ihm eigentlich blind. All der Charme, den er über bedürftige Herzen ausschüttete, und seine aus dem Ärmel geschüttete Leichtigkeit gründeten auf zwei Eigenschaften: Einerseits gehörte er zu der aussterbenden Gattung der Menschenfreunde. Seine Beobachtungsgabe als Künstler war scharf wie ein Seziermesser. Er erkannte die Defekte der Menschen, als seien es Schlagschatten der Wahrheit, die ihr trügerischer Körper gegen seinen Willen warf. Er sah die Selbstsucht, die oft hinter dem Wunsch nach Liebe steckte, und die Unfähigkeit, sich wirklich zu mögen. Was den weiblichen Teil seiner Studienobjekte betraf, tat er das Beste, den Schmerz der an sich selbst und der Welt leidenden Wesen zu lindern. Doch Joana glaubte nicht, dass er seit ihrer Heirat je eines der zahlreichen Angebote wahrgenommen hatte.
Der zweite Grund war ein scheinbar entgegengesetzter: Sigi empfand sich in seinem tiefsten Herzen als Spieler. Er liebte es, andere und sich selbst zu überraschen. Er genoss das Jonglieren mit Worten und Gesten, die Kunst, Grenzen auszuloten und immer ein wenig weiter zu gehen, als es die Norm erlaubte.
Aus diesen Gründen liebte sie ihn: Wegen seiner tiefen Beständigkeit und wegen seiner Kunst, das Leben in jedem Augenblick neu zu erfinden. Joana seufzte voller Glück. Alles andere, dachte sie, würde sich schon lösen … Die vielen unbezahlten Rechnungen; seine Unfähigkeit, die wunderbaren Bilder auch nur einigermaßen angemessen zu verkaufen und ihr gemeinsames Leben wirklich zu errichten: Schritt für Schritt und Stein auf Stein, so wie es an sich ihrem erdhaften Charakter entsprach. Aber das war vielleicht der Preis für ihre Liebe.
Ohne dass sie wusste warum, spürte sie plötzlich eine Unruhe. Irgendetwas stimmte nicht. Sigi schwitzte immer noch; seine Glieder hingen ruhig, fast schlaff an ihm herunter. Dennoch empfand sie fast körperlich seine Unrast. Wo war seine Hand? Eigentlich hätte sie schon vor Minuten schläfrig an ihrer Haut hochgleiten müssen, um schließlich an einer ganz bestimmten Stelle am Halsansatz zu landen, wo sie durch seine Berührung fortflog in eine Weite, die sie erinnerte an die Unendlichkeit des Sertão; wenn sie frühmorgens auf dem Rücken ihrer Stute saß und durch den rötlich gelben Staub tobte; oder abends, wenn über der Fazenda der Himmel glühte und sein letztes Feuer über die Erde goss.
Joanas Hand hörte auf zu zwirbeln.
Karl-Heinz’ erneutes Ankommen in der Welt vollzog sich in Etappen. Die Frau, die nun tatsächlich die seine war, lag erschöpft und anscheinend befriedigt neben ihm. Er hatte ja schon etliche Gefährtinnen besessen. Aber so etwas wie heute war ihm noch nie passiert. Eine fast beängstigende Vertrautheit und darüber hinaus … ein Abgrund, der ihn – befände er sich noch in seinem eigenen Körper – wahrscheinlich entsetzt hätte.
Was sollte er jetzt tun? Sie noch einmal küssen, streicheln, etwas Charmantes sagen? Diesmal verweigerten seine neuen Glieder die Antwort. Auch Joanas Verhalten half ihm nicht wirklich weiter. Sie schien auf irgendetwas zu warten. Aber auf was, um Gottes willen?
Plötzlich überfiel ihn eine Welle von Panik. Wie sollte er dieses Possenspiel auch nur einen Tag überleben? Wie sollte er dieser Frau sieben Tage und Nächte etwas vorgaukeln, das er auch beim besten Willen nicht war? Sigi hatte ihm von ihrem Alltag erzählt; von der Art, wie sie über Kunst sprachen, wie sie gemeinsam aßen und in welcher Stellung sie normalerweise schliefen. Doch Karl-Heinz machte sich nichts vor. In Wahrheit lag er hier mit einer Fremden. Er spürte, wie sein Körper reagierte und erneut zu schwitzen begann. In seinem Hals saß ein unangenehmer und dicker Kloß.
»Sigi?«
Karl-Heinz zuckte zusammen.