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»Was ist los?«
Seine Gedanken begannen sich zu überschlagen. Was sollte er tun? Irgendetwas erfinden – dass er schlecht geschlafen hatte oder vor Ärger nicht ein noch aus wusste? Oder ihr reinen Wein einschenken? Das wäre vielleicht das Beste … Reinen Tisch machen, sich aufrichten und erklären: Tut mir leid, Joana, ich bin ein anderer; ich rufe gleich bei Sigi an und gebe dir deinen Ehemann zurück, du musst nur eine Woche mit der Gestalt von Karl-Heinz vorlieb nehmen … Hat mich sehr gefreut, aber ich muss jetzt gehen.
»Was soll denn los sein?« Karl-Heinz biss sich auf die Zunge. Er war wirklich der größte Idiot auf Gottes Erden!
Joana zog seinen Kopf von sich fort, richtete sich auf und blickte ihn forschend an. Ihre Augen schillerten in der Farbe von hellem Kupfer. »Du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst – das weißt du doch, oder?«
»Natürlich, mein Engel.« Karl-Heinz merkte, dass sein rechter Mundwinkel anfing zu zucken und rief ihn verbissen zur Räson.
Ihr Zeigefinger malte einen kleinen Kreis auf den Boden. In seine Mitte stürzte plötzlich ein schwerer Tropfen. Joana wischte sich unwillig über die Augen. »Wenn es das Geld ist … Ich kann immer noch meinen Vater fragen. Er würde uns bestimmt helfen. Wenn du es nicht geschenkt willst, dann vielleicht …«
Das Telefon schrillte. Karl-Heinz sandte einen Stoßseufzer zum Himmel, zwang sich eine Art Lächeln ab und stand auf. Er versuchte vergeblich, das Geräusch zu orten, rannte wie ein aufgescheuchtes Huhn durch das Zimmer und fand das schnurlose Gerät endlich neben einem Bild, das an der Wand lehnte.
»Sigi Richter … hallo?« Seine Stimmlage befand sich gefährlich nahe der Hysterie.
»Hallo«, meldete sich sein Gesprächspartner. »Hier ist Ede, alles in Ordnung bei dir?«
»Bestens.« Karl-Heinz’ Herz machte vor Erleichterung einen Sprung. Sigi hatte ihm schon oft von dem knauserigen Wirt berichtet. Er war begierig, diesen Halsabschneider endlich kennenzulernen.
»Mein Freund, ich habe gute Nachrichten: Ich kann dir die Zweihundert heute schon in die Hand drücken. Und, halt dich fest: Ich kaufe dir ein – was sage ich – zwei weitere Bilder ab. Barzahlung! Wenn du willst, nehme ich sie gleich mit. Na, was sagst du jetzt?«
Karl-Heinz lächelte unterkühlt. Innerlich fühlte er sich so befreit, als sei er gerade von einer Angina Pectoris genesen. »Schön, Ede, komm einfach hier vorbei, dann können wir uns unterhalten … Sagen wir in einer Stunde?«
Joana saß immer noch auf dem Boden und starrte halb bewundernd, halb zweifelnd auf ihren neu erfundenen Mann. Ihre Hände griffen nach dem herbstfarbenen Kleid, das zerknittert auf dem Boden lag, und pressten den Stoff an ihren Leib, als sei er fähig, sie irgendwie zu beschützen.
14. Kamila
September 1941
Am nächsten Tag, pünktlich vor dem Mittagsessen, ließ der Doktor Kamila durch Ruth abholen. Von etlichen Augenpaaren verfolgt, schritt sie durch die Halle über den langen Gang zum Büro. Der Stuhl in der Ecke stand schon für sie bereit, und sie setzte sich auf die äußerste Kante. Ihr war etwas schwindelig, und sie musste sich immer wieder am Sitz festklammern, um nicht zu fallen.
Gestern Abend nach ihrer Rückkehr waren vier aufgeregte Freundinnen um sie herumgestürmt und warteten auf ihren Bericht. Kamila erzählte das Wichtigste in groben Zügen.
Magdalena konnte die Geschichte kaum glauben. »Er hat dich nicht begrapscht? Keine Schweinereien geflüstert? Das gibt’s doch gar nicht!«
»Wie war das Essen? Was hat es zum Essen gegeben?«, wollte Maria wissen und leckte sich gierig über die Lippen.
Kamila lächelte und zuckte mit den Schultern. »Es gab Hirschgulasch mit Semmelknödeln … ich habe nichts angerührt.«
»Bist du verrückt? Das hätte mir mal passieren sollen.« Maria verdrehte die Augen. »Hirschgulasch! Jezus Chrystus steh’ mir bei! Dafür würde ich sogar …« Sie kicherte, und Justyna erteilte ihr einen warnenden Klaps.
Sie legte einen Arm um ihre Freundin und fragte besorgt: »Dann hast du zu Mittag also überhaupt nichts gegessen?«
Kamila senkte den Blick und schüttelte den Kopf. Justyna streichelte ihr über die blonden Locken und richtete ihre Augen gen Himmel.
Nachts, als die Frauen schon unruhig schliefen, fasste sie unter ihre Matratze und förderte nach einigem Suchen ein Stückchen Hartwurst zu Tage. Kamila lag ihr gegenüber und war vor Hunger noch immer wach. Ohne es zu wollen, musste sie an diesen seltsamen Doktor denken, der sie vollkommen durcheinanderbrachte. Plötzlich stieg ihr ein lieblicher Duft in die Nase, und sie riss die Augen auf. Direkt davor baumelte ein Geschenk vom Heiligen Nikolaus höchstpersönlich. Dahinter erschien das besorgte Gesicht von Justyna.
»Die habe ich gerettet«, flüsterte sie, »für den Notfall!«
Kamila starrte sie ungläubig an.
»Nun iss schon«, zischte ihre Freundin, »sonst bist du bald nur noch Haut und Knochen. Ein Mädel wie du, das noch im Wachsen ist!«
Kamila riss Justyna die Wurst aus der Hand und biss hinein.
»Vergiss nicht zu kauen«, flüsterte Justyna und lächelte. »Sonst gibt’s Durchfall.«
Kamila saß auf ihrem Stuhl und wartete auf das Mittagessen. Heute Morgen hatte sie nur ein Stück trockenes Brot mit Kaffee-Ersatz bekommen. In ihrem Magen gähnte ein Loch von der Größe eines Wagenrads. Sie versuchte, sich nicht auszumalen, was es heute geben würde. Dennoch zog eine peinigende Galerie von fetten Schweinekoteletts, Kalbslendchen und Putenkeulen an ihr vorüber. Kamila stellte sich Kurz vor, wie sie ihm jeden einzelnen seiner ausgemergelten Finger brach, doch das Bild entzog sich und wich einer penetranten Apfeltorte mit Schlagsahne und krustigem frischen Brot, das dick mit Butter beschmiert war.
Das Mittagessen kam heute spät. Sie warf einen hastigen Blick zum Doktor hinüber, der konzentriert arbeitete. Er schien weder Hunger zu verspüren, noch machte er die geringsten Anstalten, sie zu beachten.
Klar, dachte sie empört. Er hat schließlich auch gut gefrühstückt! Kamila seufze. Mit Sicherheit hatte es frische Brötchen gegeben mit fettem Schinken und Marmelade. Vielleicht hat er auch ein weich gekochtes Ei bestellt, das ist gut für die Knochen …
Kamila hielt sich mit beiden Händen am Sitz fest. Ihr war schon wieder schwindelig. Lange würde sie das bestimmt nicht mehr durchhalten. Dieser Doktor war ein Sadist, so wie alle anderen Deutschen auch; ein widerlicher, schleimiger Kriecher, der sich einfach nicht um sie kümmern wollte.
Warum beachtete er sie nicht?
In diesem Augenblick öffnete sich die Türe, und herein kam der Kellner mit einem glänzenden Rollwagen. Darauf befanden sich ausladende Teller und Terrinen, duftende Schüsseln geheimnisvollen Inhalts, und irgendwo ein wenig versteckt an der Seite stand der Blechteller, dessen Inhalt sie gestern leider verschmäht hatte.
Plötzlich klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Auf einmal wusste sie, was es geben würde. Liebliche Gerüche streichelten ihre Nase, wanderten über ihre Geschmacksnerven und stimulierten einen heftigen Speichelfluss: Kaiserschmarrn mit frischem Apfelmus!
Woher wusste dieser Kerl, dass das eines ihrer Lieblingsgerichte war? Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Diener erneut den Schreibtisch des Doktors deckte und Teller und Besteck an ihren Platz rückte. Dann öffnete er die Terrine, und jetzt erst entfaltete sich der göttliche Geruch des Schmarrens wirklich. Die Duftkörper schwebten wie auf Engelsflügeln durch den Raum, legten sich auf Buchrücken und Akten, breiteten sich über das gebohnerte Parkett und folterten Kamilas Sinne.
Der Kellner schenkte Wein und Wasser ein, fragte nach weiteren Wünschen des Doktors, und endlich – endlich schob er den verheißungsvollen Wagen auf sie zu. Er machte Anstalten, den bereitstehenden kleinen Tisch zu holen und schlug sich plötzlich an den Kopf. »Ach so«, sagte er und lächelte flüchtig. »Ich hatte ja ganz vergessen, dass du nichts isst.« Er griff nach der Halterung des Wagens und drehte ihn von ihr fort.
Kamilas Mund entrang sich ein leises Stöhnen. Er klappte ein paar Mal auf und zu, und erst, als der Kellner fast schon wieder an der Türe war, gelang es ihr zu flüstern: »Ich will schon … wenn auch nur ein bisschen … bitte!«
Der Kellner zog die Augenbrauen hoch und warf einen Blick auf den Doktor. Der lud sich gerade eine dicke Ladung Apfelmus auf den Teller, blickte kurz nach oben und nickte abwesend.
Noch nie war Kamila ein Nicken so wunderbar und großartig erschienen wie dieses. Sie sah, wie der entschwindende Wagen eine Kehrtwendung machte, wie Tisch und Teller vor ihr Platz fanden, sich die duftende Terrine öffnete und köstlicher Kaiserschmarrn auf das Blech kullerte.
Sie sah ihre zitternde Hand, die mühsam beherrscht nach der Gabel griff, ein Stück Schmarren ins Mus tauchte und rasch in ihrem Mund verschwinden ließ.
Jezus Maria und Józef! Das Gericht war göttlich. Innerhalb von fünf Minuten war der Teller so leer gefegt wie zuvor ihr Magen. Sie trank hastig von dem bereitgestellten Wasser und lehnte sich entspannt zurück. Das Leben war trotz allem wunderbar! Kamila war schon siebzehn Jahre alt, doch noch niemals hatte sie etwas Vergleichbares gegessen. Ob es am nächsten Tag wieder so etwas Gutes gab? Sie schielte zu dem Doktor, der aufmerksam in der Zeitung las. Würde er morgen wieder nach ihr bitten? Was versprach er sich überhaupt von ihr?
Mit einem Mal wurde ihr siedend heiß. Wie konnte sie nur so dumm sein! Natürlich würde er jetzt seinen Preis verlangen. Er würde seine Zeitung weglegen, aufstehen, sie bei der Hand nehmen und …
Die Tür ging auf und der Diener trat herein. »Alles in Ordnung, Herr Doktor? Haben Sie noch Wünsche? Vielleicht einen Kaffee oder ein Likörchen?«
Horst blickte von der Zeitung auf. »Nein danke. Heute nicht, Heiner. Sie können abräumen.«
Der Diener entfernte das Geschirr vom Schreibtisch und schritt auf Kamila zu. Täuschte sie sich, oder lag auf seinen Zügen die Andeutung eines unverschämten Lächelns? Er räumte den Blechteller, Gabel und Glas ab und stellte den Tisch an die Seite. Dann schob er das Servier-Wägelchen aus dem Zimmer.
Jetzt kommt es, dachte Kamila und starrte auf den Teppich. Jetzt wird er gleich aufstehen und …
Doch es geschah nichts. Der Doktor gähnte, streckte Arme und Beine aus und machte sich wieder an seine Akten.
Punkt sieben Uhr schloss er seinen Ordner, blickte auf das Mädchen, als entdeckte er seine Anwesenheit erst jetzt und sagte freundlich: »Bis dann, mbody zbik. Für heute kannst du gehen.«
Kamila wirbelte herum. Mit zitternden Knien erhob sie sich aus ihrem Sitz. »Was haben Sie gesagt?«
Der Doktor trat an die Tür und erwiderte trocken: »Kleine Wildkatze – so heißt das doch auf Polnisch, oder? Entschuldige, mein Akzent ist sicher fürchterlich.« Er grinste wie ein Zehnjähriger, der in seiner Tasche ein klebriges Markstück entdeckt hat.
Kamila fauchte eine Antwort, die sie selbst nicht verstand, und stob hoch erhobenen Hauptes aus der Türe. Mit rotem Kopf und vollkommen verwirrt hastete sie über den Gang zu ihren rettenden und düsteren Baracken.
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