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Besuch bei der Weidenhofbäuerin
Magier, Wunderheiler und Scharlatane
Gregorius Silberstein
Die Schlossführung
Sorge um Topsy
Ein ungewöhnlicher Wunsch
Interessante Neuigkeiten
Der Plan
Die Verfolgung
Die Jagdhütte
Tinas Entschluss
12 Gefangen
Ein folgenschwerer Anruf
Abwarten und Tee trinken
Der Graf wird erpresst
Schluss mit lustig
Schlechte Aussichten
Überraschung!
Bens Flucht
Das Geheimversteck
Diebesgut
Kommissar Hufnagel macht Feierabend
Zukunftspläne
Rasputin
Der Autor
Impressum
Kapitel 1
Besuch bei der Weidenhofbäuerin
Bibi und Tina hatten sich schön warm eingepackt, denn obwohl die Sonne schien, war die Luft noch kalt. Schließlich war es erst Ende Februar. Soeben hatten sie den Falkensteiner Forst durchquert und zügelten ihre Pferde.
»Es ist herrlich, wieder hier zu sein!«, jubelte Bibi.
»Ich freue mich auch, dass du da bist«, sagte Tina. »In letzter Zeit war es echt stressig auf dem Hof, aber mit dir macht alles viel mehr Spaß.«
Bibi Blocksberg, die kleine Hexe aus Neustadt, war gestern Abend auf dem Martinshof angekommen, wo Tinas Bruder Holger seit einigen Tagen den Pferdestall renovierte. Viele Dachbalken waren alt und morsch und auch mehrere Boxen mussten instand gesetzt werden. Das bedeutete jede Menge Arbeit und Bibi würde natürlich mithelfen – selbst wenn sie diesmal nur drei Tage auf dem Martinshof verbrachte. Frau Martin hatte aber eingewilligt, dass Tina und sie heute erst einmal einen Ausritt machen durften. Gleich nach dem Frühstück waren sie aufgebrochen und zur Alten Mühle geritten. Danach hatten sie den Falkensteiner Forst Richtung Westen durchquert. Jetzt lag ein kleiner Hof vor ihnen, aus dessen Schornstein Rauch in den klaren blauen Himmel aufstieg.
»Die Weidenhofbäuerin ist zu Hause«, meinte Bibi. »Zu einer Tasse Tee würde ich jetzt nicht Nein sagen.« Trotz der Handschuhe kroch ihr die Kälte bis in die Fingerspitzen.
Die alte Kräuterfrau, die allein auf dem abgelegenen Weidenhof lebte, war eine gute Freundin der beiden Mädchen.
»Eigentlich wollten wir doch zu Alex«, erwiderte Tina.
Tina hatte ihren Freund Alexander von Falkenstein seit Tagen nicht gesehen, weil der mit einer Erkältung das Bett hatte hüten müssen. Um ihn vor künftigen Erkältungen zu schützen, hatte Tina ihm einen Schal gestrickt, der sich, hübsch verpackt, in ihrer Satteltasche befand. Tina war sehr gespannt, ob er Alex gefallen würde.
»Dein Alex wird dir schon nicht weglaufen«, lachte Bibi.
»Na gut, aber wir bleiben nicht lange, okay?«
»Okay! Wie wärʼs mit einem Wettreiten zum Hof?«, fragte Bibi.
»Klar, wenn du unbedingt verlieren willst«, bekam sie zur Antwort.
»Na, das werden wir gleich sehen! Los, Sabrina!«, rief Bibi.
»Hüa, Amadeus!«
Tinas Fuchs Amadeus und Bibis Schimmelstute Sabrina galoppierten über die Wiese, die sich zwischen dem Waldrand und dem Weidenhof erstreckte. Kalter Wind schlug Bibi ins Gesicht. Sie stellte sich in die Bügel und beugte sich weit nach vorne über Sabrinas Hals.
»Schneller, Sabrina!«
»Amadeus, lass dich nicht abhängen!«, feuerte Tina ihr Pferd an.
Kurz darauf parierte Bibi ihre Sabrina durch.
»Gut gemacht, meine Süße!« Triumphierend reckte sie die Faust in den Himmel: »Gewonnen!«
»Aber nur knapp«, lachte Tina und streichelte ihren Amadeus. »Nächstes Mal gewinnen wir.«
»In deinen Träumen vielleicht!«, rief Bibi übermütig.
Sie banden ihre Pferde am Zaun fest und Bibi öffnete das Gartentürchen, das windschief in den Angeln hing und ziemlich knarrte. Kurz darauf klopften sie an die Tür – eine Klingel gab es bei der Weidenhofbäuerin nicht. Aber niemand machte auf.
»Vielleicht ist sie hinten im Garten«, überlegte Tina.
Bibi war die Treppenstufen schon hinabgesprungen und ging voran.
Als sie um die Ecke bogen, blieben die beiden Mädchen wie angewurzelt stehen. Da war die Weidenhofbäuerin! Sie trug ein braunes Kopftuch und einen langen Wintermantel und schlurfte in Zeitlupe am hinteren Rand des Gartenzauns entlang. Dabei hielt sie einen seltsamen Stock in den ausgestreckten Händen, der die Form eines großen Ypsilons hatte. Sie hielt den Stock an den kurzen Enden; plötzlich blieb sie stehen. Die Astgabel bewegte sich in ihren Händen. Genauer gesagt tanzte das lange Ende auf und ab. Das sah wie ein Zauberkunststück aus, da die Weidenhofbäuerin ihre Hände und Arme dabei nicht bewegte.
Plötzlich drehte sie sich um. »Na, ihr beiden!«, rief sie. »Ich hab euch längst gehört, aber ich war beschäftigt.«
»Hallo, Weidenhofbäuerin!« Bibi und Tina kamen näher.
»Was machen Sie denn da?«, wollte Bibi wissen.
»Ich wünschle«, erwiderte die alte Frau. Tina machte ein sehr verwirrtes Gesicht.
»Kennt ihr das nicht?« Die Weidenhofbäuerin hob den seltsam geformten Holzstab. »Das ist eine Wünschelrute!«
»Davon hab ich schon mal gehört«, sagte Bibi.
»Damit kann man Sachen finden, oder?«
Die Bäuerin nickte. »Ich finde damit die besten Stellen für meine Heilkräuter. An ganz bestimmten Stellen wachsen sie nämlich besonders gut und haben viel mehr Heilwirkung.«
»Echt? Und wie funktioniert das genau?«, fragte Tina.
»Wie das genau funktioniert?« Die Alte kicherte.
»Keine Ahnung. Ich habe das von meinem Vater gelernt. Mit so einer Wünschelrute kann man auch unterirdische Wasseradern finden, und manche entdecken damit sogar Gold oder Silber. Aber ich fürchte, in meinem Garten sind keine Schätze vergraben.« Die Bäuerin zwinkerte ihnen zu.
»Aha!«, sagte Tina nur und warf Bibi einen kurzen Blick zu.
Bibi wusste genau, was ihre Freundin dachte: dass die Weidenhofbäuerin ziemlich seltsam sei. Bibi zuckte nur leicht mit den Achseln. Sie selbst fand die Weidenhofbäuerin eigentlich nicht besonders seltsam. Aber das lag sicher daran, dass sie eine Hexe war.
»Jedenfalls ist hier ein guter Platz für meine Heilkräuter«, unterbrach die alte Frau Bibis Gedanken.
»Bald wird es Zeit, sie einzupflanzen. Aber wie wärʼs jetzt erst mal mit einer Tasse Tee?«
»Gern«, sagte Bibi.
»Wir müssen aber bald weiter«, wandte Tina ein.
»Zum Schloss«, fügte Bibi hinzu. »Wir sind mit Alex verabredet.«
»Ja, genau!«, sagte Tina. »Er war erkältet, aber jetzt geht es ihm schon viel besser.«
»Ich will euch nicht lange aufhalten«, sagte die Alte. »Aber für ein Tässchen Tee ist immer Zeit.«
Mit flinken Schritten eilte sie voran. Kurz darauf traten sie in den kleinen Flur ihres Hauses, wo die Bäuerin die Wünschelrute an die Wand lehnte. In der Küche setzte sie Wasser auf und ging an einen Schrank mit zahllosen kleinen Schubladen. Eine davon öffnete sie, zog ein Leinensäckchen hervor und reichte es Tina.
»Damit soll dein Alex sich einen Tee machen«, sagte sie. »Dann ist er schnell wieder ganz gesund.«
»Danke, Weidenhofbäuerin.« Tina steckte das Säckchen in die Tasche. Kurz danach saßen die drei an dem alten Holztisch in der gemütlichen Küche und tranken Tee. Der schmeckte ziemlich bitter, aber zum Glück gab es selbst gebackene süße Plätzchen dazu. Anschließend begleitete die Bäuerin die beiden wieder hinaus zu ihren Pferden.
»Schön, dass ihr mich besucht habt«, sagte sie zum Abschied.
»Wir kommen bald wieder vorbei«, erwiderte Bibi und schwang sich in den Sattel. »Dann können Sie mir die Sache mit der Wünschelrute genauer erklären. Das finde ich sehr interessant.«
Auch Tina stieg auf. »Tschüss, Weidenhofbäuerin!«
Sie schnalzte mit der Zunge, und die Mädchen ritten weiter Richtung Norden, wo Schloss Falkenstein lag. Seltsamerweise fühlten sie sich jetzt herrlich warm und gestärkt. Ob das an dem bitteren Tee und den süßen Plätzchen der Weidenhofbäuerin lag?

Kapitel 2
Magier, Wunderheiler und Scharlatane
»Die Damen werden bereits erwartet.« Dagobert machte eine einladende Geste. »Der junge Herr ist auf seinem Zimmer und wohlauf«, erklärte er würdevoll.
Bibi und Tina verkniffen sich ein Grinsen.
»Danke, Dagobert«, sagte Tina ebenso würdevoll.
Die beiden Mädchen traten ein. Ihre Pferde hatten sie Pferdepfleger Harry übergeben. So mürrisch er manchmal zu seinen Mitmenschen war – mit Pferden konnte er gut umgehen, und Bibi und Tina wussten, dass Amadeus und Sabrina bei ihm in besten Händen waren.
Wie immer, wenn Bibi Schloss Falkenstein nach längerer Zeit wieder betrat, fühlte sie sich überwältigt. Ein Schloss konnte man eben nicht mit einem gewöhnlichen Haus vergleichen – schon gar nicht mit dem Häuschen der Weidenhofbäuerin, das sie gerade besucht hatten. Das Schloss war riesengroß. Seine Mauern standen seit Jahrhunderten, und immer war es im Besitz der Familie von Falkenstein gewesen. In der hohen Eingangshalle standen Ritterrüstungen wie stumme Boten der Vergangenheit. Bibi und Tina eilten an ihnen vorüber und liefen die mit einem Teppich bespannte Treppe ins obere Stockwerk, wo Alex sein Zimmer hatte. Tina klopfte an die Tür. Sie war ein wenig rot im Gesicht, was sicher nicht nur daran lag, dass sie die Treppen so schnell hochgelaufen waren.
»Herein!«, ertönte eine etwas heisere Stimme.
Der junge Herr war tatsächlich wohlauf, genau wie Dagobert gesagt hatte. Zumindest lag Alex nicht mehr im Bett, sondern saß mit einem Buch in seinem gemütlichen Sessel. Jetzt stand er auf und legte das Buch weg, um die Mädchen zu begrüßen. Vor allem natürlich Tina: Die beiden umarmten sich stürmisch. Bibi verdrehte leicht genervt die Augen. Aber da Alex und Tina sich länger nicht gesehen hatten, war die Wiedersehensfreude riesig.
»Hallo, Bibi«, begrüßte Alex jetzt auch sie.
»Hallo, Alex. Wie gehtʼs? Dagobert meinte, du bist schon wieder topfit!«
Alex lachte. »Das Wort hat er bestimmt nicht benutzt, oder? Aber beim nächsten Wettreiten werdet ihr schon sehen, wie topfit ich bin.«
»Ich fürchte bloß, Sabrina und ich sind momentan unschlagbar«, sagte Bibi lachend.
»Das halte ich für ein Gerücht«, meinte Tina.
»Schau mal, was ich für dich habe.«
Sie reichte Alex das Päckchen, das sie bisher vor ihm verborgen hatte. Es war in gestreiftes Geschenkpapier verpackt. Alex öffnete es sofort.
»Ein Schal!«, rief er begeistert und schlang ihn sich um den Hals. »Danke, Tina! Hast du ihn selbst gestrickt?«
»Ja, aber er ist nicht besonders gut geworden«, erwiderte Tina bescheiden.
»Doch, ich finde ihn wunderschön. Den werde ich jetzt tragen, bis ich wieder richtig gesund bin.«
Tina strahlte, als sie das hörte. »Wir haben noch etwas.« Sie zog das Leinensäckchen aus ihrer Tasche. »Erkältungstee von der Weidenhofbäuerin!«
Alex lachte. »Der schmeckt bestimmt nicht so lecker, aber heute Abend trinke ich trotzdem eine Tasse. So ganz über den Berg bin ich nämlich noch nicht.«
Bibi bückte sich und hob das Buch auf, in dem Alex vorhin gelesen hatte.
»›Magier, Wunderheiler und Scharlatane‹«, las sie etwas verwundert den Titel ab. »Aha?«
»Das interessiert mich gerade«, erklärte Alex. »Es geht um Menschen, die behaupteten, magische Fähigkeiten zu haben, mit denen sie zum Beispiel Kranke heilen konnten.
Natürlich waren unter diesen Magiern und Wunderheilern auch viele Scharlatane und Betrüger. Aber manche konnten wirklich Dinge tun, die man sich bis heute nicht richtig erklären kann.«
»Und wieso interessiert dich das?«, fragte Tina.
»Weil so ein angeblicher Wunderheiler gleich hier vorbeikommt«, bekam sie zur Antwort. »Vater hat ihn kontaktiert.«
»Ach?«, meinte Tina. »Bloß weil sein Sohn einen Schnupfen hat, holt dein Vater gleich einen Wunderheiler?«
»Nicht wegen mir«, wehrte Alex ab. »Vater geht es selbst nicht so gut.«
»Was hat er denn?«, fragte Bibi.
»Ach, er hat furchtbare Migräne, denn er schläft seit einiger Zeit schlecht. Dauernd wacht er nachts auf und liegt dann ewig wach.«
»Vielleicht sollte er Schäfchen zählen«, schlug Bibi vor.
»Hat er versucht.« Alex nickte ernst. »Er war sogar schon beim Arzt, aber der konnte nichts finden. Und jetzt hat er eben diesen Heiler engagiert.«
»Und wo findet man so einen?«, fragte Tina.
»Friedhelm von Strauch hat den Mann empfohlen. Dem hat er wohl auch schon geholfen.« Alex trat ans Fenster: »Ich glaube, da kommt er schon.« Bibi und Tina stellten sich neben ihn und sahen, dass sich ein kleines hellblaues Auto dem Schloss näherte.
»Den Typen sehen wir uns genauer an, oder!?«, schlug Bibi vor. »Einen Wunderheiler trifft man schließlich nicht alle Tage.«

Kapitel 3
Gregorius Silberstein
Die drei verließen das Zimmer und rannten die Treppe hinunter. An deren Fuß kam ihnen der Graf entgegen.
»Ihr hier?«, fragte er zerstreut, als er Bibi und Tina bemerkte.
Überhaupt wirkte der Graf nicht ganz auf der Höhe. Das lag nicht nur an den dunklen Ringen unter seinen Augen. Er hielt sich auch ein wenig gebeugt und war ziemlich blass.
»Wir wollten Alex besuchen«, sagte Tina. »Jetzt, wo er wieder fast gesund ist.«
»Ja.« Der Graf nickte. »Meinem Sohn geht es besser, aber ich fühle mich alles andere als gut. Mein Kopf dröhnt, denn ich habe seit einigen Nächten kein Auge zugetan.«
»Das ist ja schrecklich, Herr Graf!«, sagte Bibi mitfühlend. »Mein Papi trinkt in solchen Fällen immer Baldriantee.«
»Baldriantee?« Der Graf zog verächtlich die Luft ein. »Nun, meine Situation dürfte sehr viel ernster sein.«
»Ja klar, deshalb mussten Sie gleich einen Wunderheiler engagieren«, sagte Tina etwas spöttisch, was dem Grafen aber nicht aufzufallen schien.
»Ja, der Mann muss wirklich fantastisch sein«, antwortete er. »Ich setze große Hoffnungen in ihn. Den Fürsten von Rotenbrunn hat er von einer seltenen Hautkrankheit befreit – nur durch magisches Handauflegen. Und meinen Freund Friedhelm von Strauch konnte er auf die gleiche Weise von einer langjährigen Krankheit heilen.«
»Dann ist Migräne wegen ein bisschen Schlaflosigkeit sicher kein Problem für ihn«, sagte Bibi.
»Er ist übrigens gerade auf den Hof gefahren.«
»Ich weiß. Er ist auf die Minute pünktlich. Dagobert!«, rief der Graf.
Der Butler eilte herbei. »Empfangen Sie unseren Gast und begleiten Sie ihn zu mir in die Gemäldegalerie«, ordnete der Graf an.
»Jawohl.« Der Butler deutete eine Verbeugung an.
Während der Graf sich mit den schwerfälligen Schritten eines kranken Mannes in die Galerie begab, folgten Bibi, Tina und Alex dem Butler. Als Dagobert die Tür öffnete, war der Besucher bereits aus dem Auto gestiegen.
»Guten Tag, Herr …«, begrüßte Dagobert den Fremden etwas reserviert, als der die Schlosstreppe erreicht hatte.
»Silberstein«, sagte der Mann mit tiefer Stimme.
»Gregorius Silberstein.«
Bibi betrachtete ihn genauer. Gregorius Silberstein war ziemlich groß und schlank, beinahe dürr. Er trug einen dunkelblauen, fast violett schimmernden Anzug mit Stehkragen. Seine Haare waren lang und kastanienbraun, und er hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Ein etwas ungepflegter Bart bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts und ließ ihn düster und abweisend wirken. Seine grünen Augen blickten sie durchdringend an. Bibi meinte, ein geheimnisvolles Glitzern in ihnen zu entdecken.
»Bitte treten Sie ein, Herr Silberstein!« Butler Dagobert trat zur Seite, um den Weg freizugeben.
»Guten Tag«, sagte Alex, als Gregorius Silberstein die Treppe hochgestiegen war. »Ich bin Alexander von Falkenstein. Mein Vater erwartet Sie.«
Der Butler verschwand mit würdevollen Schritten. Seine Aufgabe war vorerst erfüllt, der Graf würde schon nach ihm klingeln, wenn er ihn brauchte.
»Du bist also der Sohn des Grafen?«, fragte der Mann und betrachtete Alex eingehend.
»Äh ja«, erwiderte dieser mit Unbehagen. »Darf ich vorstellen: Das ist meine Freundin Tina. Und das ist Bibi.«
»Ich bin hier nur zu Besuch«, erklärte Bibi verlegen. »Also, genauer gesagt auf dem Martinshof.«
»Aha, der Reiterhof?«, erkundigte sich der Mann.
»Ja, kennen Sie den?«, fragte Tina. »Meine Mutter führt ihn.«
»Natürlich! Ich bin in Rotenbrunn aufgewachsen und habe vom Martinshof gehört. Ich kenne mich in der Gegend aus, auch wenn ich lange Zeit auf Reisen war.«
Als sie die Gemäldegalerie betraten, erhob sich der Graf von dem Sofa, auf dem er gesessen hatte. Er kam Gregorius Silberstein entgegen und streckte die Hand aus.
»Guten Tag, Herr …« Er schien nicht recht zu wissen, wie er den Heiler ansprechen sollte.
»Silberstein«, antwortete der Mann. »Gregorius Silberstein. Zeigen Sie mir bitte das Schloss, Herr Graf!«
»Äh …«, machte Graf Falko überrascht. »Wollen Sie nicht erst einmal meinen … äh … Puls fühlen?«
Silberstein schüttelte den Kopf.
»Sie sind nicht krank, Herr Graf«,
erwiderte er. »Körperlich fehlt Ihnen nichts.«
»Woher wissen Sie denn das?«, wunderte sich der Graf.
»Das kann ich … sehen.« Gregorius Silberstein betrachtete den Grafen eindringlich, wobei sich das Glitzern in seinen Augen verstärkte. »Ihre Schlaflosigkeit und die damit verbundene Migräne haben Ursachen, die vermutlich hier im Umfeld verborgen liegen«, sagte er langsam.
»Im Umfeld … verborgen liegen?«, wiederholte der Graf. »Was soll das bedeuten?«
Silberstein nickte kurz, als hätte er diese Frage erwartet.
»Zeigen Sie mir einfach das Schloss«, sagte er.
»Dann wird sich alles klären.«
»Ja, aber …« Der Graf schien widersprechen zu wollen, verzichtete dann aber darauf. »Wie Sie wünschen!«
Bibi, Tina und Alex warfen sich einen erstaunten Blick zu: ein Wunderheiler, der erst einmal eine Schlossführung verlangte – das konnte heiter werden!

Kapitel 4
Die Schlossführung
Da sie schon vor Ort waren, blickte sich Gregorius Silberstein zunächst einmal mit großem Interesse in der Gemäldegalerie um. »Manche Krankheiten haben ihre Wurzeln in der Vergangenheit«, murmelte Silberstein, während er ein Gemälde von Schlossgründer Leo von Falkenstein musterte. Er wandte sich wieder an den Grafen: »Aber hier spüre ich nichts, was mit Ihrer Schlaflosigkeit zusammenhängt. Wir können weiter.«
Bibi, Tina und Alex warfen sich einen Blick zu – dieser Heiler war wirklich seltsam. »Und ich dachte schon, dass deine Ururoma Ottilie an der Schlaflosigkeit deines Vaters schuld ist«, kicherte Tina und stieß Alex mit dem Ellbogen an.
Dann führte der Graf den geheimnisvollen Besucher in die Schatzkammer. Vor dem Glaskasten mit der Hufeisensammlung hielt er an. Bibi ahnte, dass gleich ein Vortrag kommen würde. Denn auf seine Hufeisensammlung war der Graf sehr stolz.
»Es handelt sich hier um historische Hufeisen, die unter Sammlern hohe, ja höchste Preise erzielen würden«, erklärte der Graf. »Vor allem aber hat die Sammlung für mich persönlich unermesslichen Wert, da es sich um die Hufeisen meiner Vorfahren handelt«, fügte er hinzu. »Äh, ich meine natürlich ihrer Pferde.«
Gregorius Silberstein zog ein schwarzes Notizbüchlein und einen Bleistift aus seiner Jackentasche und machte sich Notizen.
»Mit Ihrer Migräne und der Schlaflosigkeit haben die Hufeisen aber nichts zu tun«, sagte er dann.
»Wir können weitergehen.«
Der Graf führte ihn in sein Arbeitszimmer. Langsam umkreiste Gregorius Silberstein den gräflichen Schreibtisch.
»Darf ich?«, fragte er.
Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sich auf dem bequemen Schreibtischstuhl des Grafen nieder und lehnte sich entspannt zurück. Mit eindringlichen Blicken sah er sich um, ja, es schien fast so, als würde er den gesamten Raum mit seinen Augen abtasten. Dann sprang er unvermittelt auf. »Wir können weiter«, sagte er. »Hier ist alles in Ordnung.« Nun kam die angrenzende Bibliothek an die
Reihe, in der sich die Familienchronik befand.
Gregorius Silberstein unterbrach den Grafen sofort, als dieser auch darüber einen Vortrag halten wollte. Sie sollten sich lieber das gräfliche Schlafzimmer ansehen, verlangte er.
»Ähem, ja natürlich«, erwiderte der Graf. »Wie Sie wünschen.«
Im Schlafzimmer angekommen, blickte Gregorius Silberstein sich abermals gründlich um. Die Stirnseite des Raums nahm ein breites Bett aus wertvollem, blau gestrichenem Rosenholz ein, das von einem Baldachin gekrönt wurde. Das Bett war sicher sehr alt. Vermutlich hatten schon sämtliche Vorfahren des Grafen darin geschlafen, dachte Bibi. Daneben stand eine ebenfalls alte Kirschholzkommode, auf der eine Schatulle mit wertvollen Beschlägen thronte.
Silbersteins Augen leuchteten auf. »Was ist in dieser Schatulle?«, fragte er scharf.
»Nun äh …« Der Graf zögerte, ehe er weitersprach. »Darin befindet sich wertvoller Familienschmuck, der teilweise noch aus dem 16. Jahrhundert stammt. Normalerweise bewahre ich ihn in der Schatzkammer auf. Allerdings gab es in letzter Zeit mehrere Einbrüche in der Gegend, deshalb habe ich die Schatulle hierhergebracht. Ich dachte, ich könnte ruhiger schlafen, wenn sie sich auch nachts in meiner Nähe befindet.«
Gregorius Silberstein notierte wieder etwas in seinem Büchlein. Dann nickte er, als hätte er des Rätsels Lösung gefunden.
»Diese Schatulle ist für Ihre Beschwerden verantwortlich«, sagte er.
»Wie bitte?« Der Graf machte ein Gesicht, als habe er sich verhört.
»Edle Metalle und Steine senden Schwingungen aus«, erklärte der Mann und seine Augen funkelten dabei, als wären sie selbst Edelsteine. »Manchen Menschen können diese Schwingungen den Schlaf rauben und dies führt zu weiteren Problemen. Ich empfehle Ihnen, die Schatulle wieder in die Schatzkammer zu bringen, Herr Graf.«
Damit wandte er sich von der Kommode ab und schritt weiter durch den Raum. Vor dem großen Bett blieb er abermals stehen. Langsam hob er seine Hände und streckte sie mit den Handflächen dem Bett zugewandt aus. Sie begannen leicht zu zittern.
»Hier gibt es eine weitere Störung«, sagte er.
»Sie sollten das Bett umstellen, am besten an die andere Wand.«
»Aber das Bett steht schon immer hier«, erwiderte der Graf.
Gregorius Silberstein nickte. »Ich spüre hier eindeutig eine störende Energie«, sagte er geduldig.
»Woher sie kommt und seit wann sie besteht, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass sie da ist.«