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Entschlossen hob ich den Kopf. Meine Augen fixierten die schreienden Graffiti-Gesichter, mit denen der Kiosk versehen war. Und mir war, als erkannte ich darin den vermissten Jungen.
8
Sie fuhr nicht gern weite Strecken. Die Fahrt von Köln nach Raaffburg war schon zu lang. Der Stau auf der A 4 und die warme Luft im Auto hatten sie müde werden lassen. Immer wieder klappten ihre Lider zu. Und am liebsten hätte Ella sie ganz zufallen lassen.
Immerhin verlief der Check-in im Hotel problemlos. Lechat hatte alles geregelt. Ella erhielt die Juniorsuite, da alle anderen Zimmer belegt waren. Offenbar fand in der Nachbarstadt eine Handwerkermesse statt.
Während ein Angestellter ihr Gepäck nach oben brachte, nutzte sie die Gelegenheit, vor dem Hoteleingang eine Zigarette zu rauchen. Als sie gerade den letzten Zug nahm und wieder den Weg zurück ins Hotel antreten wollte, erklang aus dem Bushäuschen nebenan plötzlich eine dunkle Stimme.
»Ella?«
Sie schaute sich um und konnte die Stimme einem schwarzhaarigen Mann in Lederjacke zuordnen, der sich mit qualmender Zigarette langsam auf sie zubewegte.
»Ja?«, sagte Ella zögerlich. »Kennen wir uns?«
»Erinnerst du dich nicht?«, fragte der Unbekannte mit einem selbstsicheren Grinsen, während er den Kragen des weißen Hemdes richtete, das er unter der Lederjacke trug. Sein Gesicht schien frisch rasiert, der Bartschatten war jedoch sichtbar. »Marlon Merks.«
»Marlon?«, fragte Ella verdutzt.
Jetzt erkannte sie ihn. Damals war er kleiner und schmächtiger gewesen. Er musste mit siebzehn oder achtzehn noch mal einen Schuss gemacht haben. Früher hatten einige Mädels aus Ellas Klasse Marlon angehimmelt. Mit seinem südländischen Aussehen hatte er bei Mädchen hoch im Kurs gestanden.
Dein Vorhaben, keine Bekannten zu treffen, klappt ja wunderbar!
»Was machst du denn hier?«
Und jetzt stellt er auch noch Fragen …
»Ich musste hier zur Gemeinde wegen einer Formalität«, erwiderte sie.
»Jedenfalls ist es schön, dich mal wiederzusehen. Gut siehst du aus!«, sagte er und zog dabei gekonnt eine dunkle Augenbraue hoch.
Ella fühlte sich geschmeichelt, obschon sie gleichzeitig das Gefühl beschlich, dass er log. Sie hielt sich selbst keineswegs für gut aussehend. Ihr Gesicht empfand sie als zu rund und ihre Brille als zu spießig. Zudem hatten ihre Haare in den letzten Monaten wenig Aufmerksamkeit erhalten und fristeten ein widerspenstiges Dasein.
»Lust, morgen einen Kaffee trinken zu gehen? Wir haben uns sicher viel zu erzählen«, fragte Marlon und blickte Ella erwartungsvoll in die Augen.
Ella konnte sich nicht daran erinnern, jemals mehr als drei Worte mit ihm gesprochen zu haben. Er war damals in dieselbe Klasse wie Gregory gegangen, daher kannte sie ihn.
Los, sag was, bevor er weitere Fragen stellt!
Er kam ihr zuvor.
»Hör zu, da kommt mein Bus. Meine Schicht bei Rehnhof fängt gleich an. Gibst du mir deine Handynummer?«, fragte Marlon und zückte sein Handy.
Tu es nicht!
Der Bus war schon vorgefahren. Unmöglich konnte er ihre Nummer jetzt noch eintippen.
»Ich weiß sie gerade nicht auswendig. Wir treffen uns ja vielleicht mal so irgendwo«, rief Ella ihm hinterher.
»Na dann, bis bald mal«, sagte Marlon, während sich sein Mund verzog. Dann schnippte er die Zigarette weg und stieg in den Bus.
Er steigt ein. Gut so.
Im nächsten Augenblick schloss der Bus seine Türen und fuhr davon. Marlon stand am hinteren Fenster und starrte sie beim Davonfahren weiter an. Lächelnd, aber mit einem seltsam durchdringenden Blick. Hinten auf der Anzeige las Ella die Endstation: Buschberg.
Merkwürdig, dachte sie. Sie wusste, dass Rehnhof in der entgegengesetzten Richtung von Buschberg lag.
Wo auch immer Marlon hinfuhr, zum Fertigkostbetrieb ganz sicher nicht.
Bevor Ella zu dem Termin im Präsidium fahren würde, zog es sie an den Ort, wo ihr Bruder und ihre Mutter begraben worden waren. Fast auf den Tag genau vor fünfzehn Jahren.
Ella parkte vor der Kirche und machte ein Kreuzzeichen, als sie ausstieg. Sie ging auf den Eingang des kleinen Friedhofs zu, der neben der Kirche lag. Als sie das schwarze, mit Rosenmustern verzierte Tor öffnete und den roten Splitt betrat, kamen die Erinnerungen an schöne Sommertage zurück. Sie musste schmunzeln, als die Bilder wie ein Film in ihrem Kopf abliefen. Wie sie mit Mama und Gregory die Gräber ihrer Großeltern besuchte. Sie rannte Gregory mit ihrer pinken Gießkanne hinterher und versuchte, ihn mit Wasser zu bespritzen. Der ältere Bruder war natürlich schneller als sie. Sie erwischte ihn nur dann, wenn er es wollte – diesmal aber nicht. An seiner Stelle traf sie ausgerechnet die alte Frau Rubin, die von einigen Personen im Ort ernsthaft für eine Hexe gehalten wurde. Frau Rubin ärgerte sich, verpasste Ella mit der flachen Hand eine Ohrfeige und schimpfte: »Habt ihr denn gar keinen Respekt vor den Seelen, die hier liegen?«
Mama hatte alles mitbekommen. Ihre Pupillen weiteten sich, aber sie sagte ganz ruhig: »Respektlos ist der, der Lebenden Leid zufügt.«
Die Rubin stampfte durch den roten Splitt davon und hatte es nach diesem Zwischenfall nie mehr gewagt, irgendein Kind vom Spielen abzuhalten.
Angekommen am Grab, kniete Ella sich hin. Dann drückte sie ihre Brille an die Nase. Der Grabstein aus Marmor war groß. »Ruhet in Frieden«, war mit geschwungener Schrift eingraviert. Vor dem Stein blühten bunte Stiefmütterchen, so wie Ella es bei der Gärtnerei beauftragt hatte. Es machte sie glücklich zu sehen, dass das Grab gut gepflegt war. Aber wenn sie sich vorstellte, dass unter diesen Pflanzen ihre Mutter und ihr Bruder liegen sollten, erschien ihr das surreal.
Sie waren ihr noch so nah.
Mama. Ella erinnerte sich mit solcher Wärme an sie, als wäre sie erst gestern gegangen. Wie sie Lieder gesungen hatte, bis Ella einschlief. Stundenlang, mit tiefer Hingabe. Diese Liebe und Geborgenheit fehlten ihr. Sie war eine solch mutige, lebensbejahende Frau gewesen. Warum musste sie sterben?
Abrupt wurden ihre Erinnerungen durch das Klingeln ihres Handys unterbrochen. In Gedanken hob Ella ab, ohne auf das Display zu schauen.
»Hallo.«
»Hi, Ella, Brit hier. Ich komme gerade vom Kinderarzt. Jonas hat hohes Fieber und am ganzen Körper Ausschlag. Der Arzt vermutet Röteln. Es tut mir leid, aber Pierre kann deshalb leider doch nicht hier schlafen. Kannst du ihn doch selbst abholen heute Abend?«
Ella verarbeitete nur langsam das soeben Gehörte.
»Ja … sicher. Ich kümmere mich drum. Es wird schon irgendwie gehen.«
»Hast du schon das Gespräch geführt?«, fragte Brit.
»Das Gespräch«, wiederholte Ella für sich. Fast hätte sie es vergessen. »Nein, noch nicht.«
»Du musst es tun, Ella. Für dich!«, sagte Brit mit energischer Stimme.
»Ja, das werde ich«, sagte Ella geistesabwesend und legte auf. Das »Gute Besserung an Jonas« sagte sie erst, nachdem sie das Handy bereits wieder in die Hosentasche gesteckt hatte.
Pierre … er muss zu dir!
Plötzlich richtete Ella sich auf. Sie glaubte, eine Stimme gehört zu haben, die ihr bekannt vorkam. Einige Reihen weiter konnte sie diese einer älteren Dame mit grauen Locken zuordnen, die Gebete in die Richtung des Grabes vor ihr sprach. Anschließend machte sie wieder das Kreuzzeichen.
Erst zweifelte Ella, doch nach zweitem Hinsehen war sie sich sicher. Ella kannte die Frau tatsächlich. Es war Wilma Ersfeld, die alte Schuldirektorin. Die ehemals grazile Dame bewegte ihren rundlichen Körper etwas mühsam auf den geschwollenen Knöcheln vorwärts. Dank der unveränderten Vorliebe für Nickelbrillen und dunkelgrüne Röcke war sie nicht zu verwechseln. Hinter ihr stand ein Mann um die vierzig, der die blonden Haare zu einem Zopf gebunden hatte und einen Schäferhund an der Leine hielt. Er wartete in aller Ruhe, bis Wilma fertig war, dann schritten sie nebeneinander in Richtung Parkplatz. Ella war nun allein auf dem Friedhof.
Mit den Toten.
Nervös schaute sie auf ihr Handy, um die Uhrzeit abzulesen. Vierzehn Uhr achtundvierzig.
Noch zwölf Minuten bis zur Stunde der Wahrheit.
Wenn sie pünktlich im Präsidium sein wollte, musste sie bald losfahren. Bevor sie das Auto erreichte, sendete sie noch schnell eine SMS an Pierre: »Ich komme dich doch abholen. Um 18 Uhr am Pfadfinderheim, ok? Kuss, Mama.«
Dass sie ihn mit nach Raaffburg nehmen musste, wollte sie ihm mitteilen, sobald er im Auto saß.
Die Antwort kam postwendend zurück: »ok«.
Achtzehn Uhr. Schaffst du das überhaupt? Erst zur Polizei, dann in den Feierabendverkehr …
Sie schloss die Augen. Sie musste nachdenken. Aber ihr Kopf ließ keinen klaren Gedanken zu, er hatte zu brummen begonnen. Sie entfernte sich einige Meter von dem Auto und ging auf einem Weg, der entlang der Kirche verlief, auf und ab. Sie musste erst das Durcheinander in ihrem Kopf zähmen, bevor sie den Polizisten begegnen konnte. Die mächtigen Ahornbäume schützten sie vor den stechenden Sonnenstrahlen. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch acht Minuten Zeit hatte. Sie hatte sich gerade auf eine Bank gesetzt, als ihr Handy klingelte. Ihr Atem stockte, als sie den Namen las.
»Hallo.«
»Hi, Ella, zum Glück erwische ich dich noch.«
Durch den Hörer vernahm Ella das Rauschen der Autobahn im Hintergrund. »Ich habe nicht viel Zeit.« Obschon sie die Wahrheit sagte, hatte sie ein mieses Gefühl.
»Dann geht’s dir wie mir. Ich bin auf dem Weg zu einem Kunden, aber ich mach’s kurz. Es geht um Samstag. Ich kann leider nicht nach Trier kommen. Wir haben ein wichtiges Event, das ich verschwitzt hatte einzutragen. Tut mir leid.«
Ella blickte um sich, ob auch niemand mithörte.
»Okay, schade.«
Sie hätte gern mehr gesagt, aber sie wusste nicht, was. Zu viele andere Dinge schossen ihr durch den Kopf.
»Hast du Stress auf der Arbeit?«
»Ich habe freigenommen.«
»Ach so. Ist irgendwas?«
Irgendwas? Nein, es ist nicht irgendwas.
»Nein. Alles gut.«
»Nun sag schon!«
Sie kannte die furchteinflößende Eindringlichkeit in der Stimme nur zu gut.
Sag es besser.
»Ich bin in Raaffburg.«
»Wie bitte?« Die Stimme am anderen Ende nahm an Kraft zu.
Bleib jetzt stark!
»Pierre kommt auch.«
»Was? Du verarschst mich!«
»Nein.«
Ella drückte ihre Füße gegen den Teerboden, und ihre Gelenke knacksten leise.
»Bist du bescheuert? Warum bist du hier?«
Bescheuert. Das einzig Bescheuerte ist das ganze Theater, das ich seit Jahren mitspiele.
Ella wollte stark klingen, aber ihre Stimme kam kaum über ein Flüstern hinaus. »Die Polizei hat mich aufgefordert zu kommen. Felix’ Schülerkalender wurde gefunden.«
»Felix’ Schülerkalender?«
Ella machte ein bestätigendes Geräusch.
»Ja und?«
Ella schloss ihre rechte Hand zu einer Faust und richtete sich auf. »Keine Ahnung. Da steht wohl irgendwas über Gregory drin … Ich muss gleich dort sein.«
»Na, das wird ja immer besser. Konntest du dir keine Ausrede einfallen lassen?«
Ella hob den Kopf und blickte durch die Blätter des Ahornbaums. Sie suchte die Sonne, versuchte, sie zu fixieren, aber ihr Licht war zu grell. Dann entdeckte sie einen Marienkäfer, der am Rand eines großen Blattes saß.
»Ich hab keine Lust mehr auf Ausreden.«
»Wie bitte? Ella! Was ist los mit dir?«
Ella schwieg. Sie bemerkte, dass ein Flügel des Marienkäfers nutzlos abstand.
Nicht aufgeben, kleiner Käfer!
»Jetzt gehst du natürlich hin, damit die Polizei keinen Verdacht schöpft. Sag denen nur ja nichts von uns!«
»Natürlich nicht.«
Ein Windhauch ließ die Blätter rascheln. Die Sonnenstrahlen trafen ihre Augen. Sie blinzelte. Als sie wieder aufblickte, war der Marienkäfer verschwunden.
»Nach deinem Meeting bei der Polizei rufst du mich an! Wir werden uns morgen sehen müssen.«
Du bist stark, du bist Ella!
»Ich lass mich nicht mehr von dir rumkommandieren. Das ist nicht gut für mich.«
»Überleg dir gut, was du sagst, Ella.«
»Das alles geht an meine Nerven. Das Versteckspiel. Die ewige Warterei … das macht mich krank. Ich kann so nicht mehr weitermachen. Wenn bis September nichts geregelt ist, dann –«
»Dann was?«
Ella streckte die freie Hand nach oben, spürte das Kitzeln der Blätter. Wahllos umschloss sie ein Blatt und riss es ab.
»Wie kannst du es wagen, mir ein Ultimatum zu stellen? Du hast mir alles zu verdanken. Du rufst mich heute Abend an!« Die Stimme ließ keinen Widerspruch zu.
Ella brachte ein jämmerliches »Ja« hervor, doch im selben Augenblick vernahm sie das Tuten. Ihr Gesprächspartner hatte aufgelegt.
Tränen rannen aus ihren Augen. Als sie sie wegwischen wollte, bemerkte sie das abgerissene Blatt in ihrer Hand wieder. Sie öffnete die Handfläche und sah, eingehüllt inmitten des Blattes, den Marienkäfer.
Er war tot.
9
Ein kleines Büro auf der Nordseite des Gebäudes diente als Vernehmungszimmer. Ella Weeber saß mit dem Rücken zur Glastür, durch die ich sie beobachtete. Sie war mit zehn Minuten Verspätung erschienen. Bekleidet mit einer weißen Bluse, die am Rücken von Schweiß durchnässt war. Mit beiden Händen umklammerte sie das bereits leer getrunkene Wasserglas, das vor ihr auf dem Tisch stand. Ihre Schuhe hatte sie ausgezogen. Die Zehen krallte sie fest in den grünen Teppichboden.
Wir gingen zu zweit hinein: Bender und ich. Damit wollte ich dem jungen Kollegen etwas Praxis verschaffen. Außerdem war ich der Meinung, dass ihm ein wenig Abwechslung vom Büroalltag mit Vanderhagen nicht schaden konnte. Lechat zeigte sich einverstanden und schaute von draußen zu.
»Wie geht es Ihnen?«
Die Frage sollte eigentlich der Auflockerung dienen, verfehlte aber ihr Ziel.
»Es ging mir schon mal besser. Danke.«
Sie drückte ihre Wirbelsäule durch, als hätte sie jemand ermahnt, aufrecht zu sitzen.
»Gibt es einen besonderen Grund, warum es Ihnen derzeit nicht gut geht?«
Sie zögerte mit der Antwort.
»Es ist, es ist nicht einfach …«, sie machte eine Pause, »… konfrontiert zu werden mit dem, was passiert ist.«
Mit so vielen Emotionen gleich zu Beginn hatte ich nicht gerechnet. Ich versuchte, sie zu beruhigen.
»Das ist ganz normal. Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
Nach ein paar Sekunden schien sie sich gefangen zu haben.
»Wir haben den Schülerkalender von Felix Riegen gefunden.«
An ihrem langsamen Nicken erkannte ich, dass ihr der Name noch ein Begriff war.
»Am Tag von Felix’ Verschwinden ist etwas vermerkt.« Ich zeigte ihr den Schülerkalender und den Eintrag. Sie blinzelte dreimal, dann verzog sich ihr Gesicht, als wollte sie zu weinen anfangen. Doch ihr gelang es, die Tränen zurückzuhalten.
»Es ist derselbe Tag –«
»Ich weiß.«
Ich versuchte, soweit es ging zu vermeiden, sie mit den Geschehnissen zu konfrontieren, die ihre Familie betrafen. Allerdings sah ich mich auch in der Verantwortung, die Ermittlungen sorgfältig zu führen.
»Was möchten Sie wissen?«, fragte sie.
Kurz und schmerzlos. Sie wollte die Sache offensichtlich schnell hinter sich bringen.
»Können Sie uns schildern, wie Sie den Tag damals erlebt haben?« Meine Stimme war leise und fast ohne Intonation.
»Es war der letzte Schultag. Wir hatten morgens unsere Zeugnisse erhalten. Meins war gut, auch wenn ich kaum gelernt hatte.« Sie lächelte verlegen. Dann wurde sie wieder ernst. »Ich war im Wetzlarbad mit einigen Freundinnen schwimmen. Wir kamen früher zurück als geplant, da es irgendwann zu regnen begonnen hatte. Als ich in der Stadt aus dem Bus stieg, hat Wilma Ersfeld auf uns gewartet. Sie kam auf mich zu, und ich … ich hab sofort geahnt, dass was passiert sein musste. Wir setzten uns auf die überdachte Bank, da, wo heute der Petanque-Platz ist. Dann sagte sie mir …«
Der Druck war zu stark, eine Träne trat aus ihrem rechten Auge. Ella Weeber stützte ihren Kopf auf die linke Hand. Schluchzend fuhr sie fort.
»An danach kann ich mich kaum noch erinnern. Ich wusste nur, dass ich von Raaffburg wegwollte.«
Ich reichte ihr ein Taschentuch. Sie setzte ihre Brille ab und tupfte sich das Gesicht trocken.
»Wohin sind Sie dann mit Ihrem Vater gegangen?«
»Mein Vater hatte sich zwei Jahre vorher nach Las Vegas abgesetzt.«
»Sie waren also plötzlich allein?«
»Ich bin nach Trier gegangen«, antwortete sie nüchtern.
»Allein?«, wiederholte ich verwundert.
»Zu einer Pflegefamilie.« Sie klang bekümmert. Das Taschentuch wanderte von einem Auge zum anderen.
Dass sie als Belgierin bei einer Familie in Deutschland untergekommen war, überraschte mich nicht. Ich hatte davon gelesen, dass der deutschsprachige Osten Belgiens aufgrund der landesinternen Sprachbarriere verschiedene Kooperationen im Pflege- und Gesundheitsbereich mit den angrenzenden Bundesländern Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz unterhielt.
»Beschreiben Sie bitte Felix Riegen«, brachte Bender plötzlich in einer Stimmlage hervor, die klang wie eine Gitarrensaite kurz vorm Zerreißen.
Die Frage kam für meinen Geschmack zu früh, lieber hätte ich sie gegen Ende des Gesprächs gestellt.
Ella Weeber setzte die Brille wieder auf und blickte den jungen Kollegen an, als habe sie ihn gerade erst wahrgenommen.
»Felix war ein Freund meines Bruders. Früher, als sie noch Fußball gespielt haben, enger als später. Ich habe nicht immer alles mitbekommen … war ja jünger als die beiden.«
Sie kratzte sich fahrig am Ellbogen. »Er war schludrig und ungepflegt. Ich hab ihn meist nur gesehen, wenn er bei meiner Mutter Klavier gespielt hat. Ab und zu vertickte er auch Drogen.«
»Was für Drogen?«, fragte ich.
»Nichts Schlimmes. Hauptsächlich Hasch. Später wurde er ein bisschen seriöser. Hat für irgendwas gespart, das sagte er zumindest.« Ella Weeber machte ein ratloses Gesicht.
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Ich weiß es nicht. Hatte nicht viel mit ihm zu tun.«
»Und Ihren Bruder?«
Meine Frage klang barscher als beabsichtigt. Ella Weeber stockte und blieb einige Sekunden lang stumm.
»Am Abend vorher«, antwortete sie schließlich. »Allerdings nur kurz. Er ist mit Freunden was trinken gegangen.«
»Trank er öfter?«
»Ja … nein. Eigentlich nein. Es fing alles mit diesem Kurzgeschichtenwettbewerb an. Gregory war immer sehr ehrgeizig. Er wollte mehr von der Welt sehen als nur Raaffburg. Sein ganzes Zimmer war voller Poster von Reisezielen.«
Sie gestikulierte wild, ohne zu merken, wie wirr sie antwortete.
Ich wurde hellhörig. »Was für ein Wettbewerb war das genau?«
»Wie ich schon sagte, Kurzgeschichten. Organisiert durch die Schule. Der Sieger durfte für zwei Monate im Schulaustausch nach Madagaskar.«
Madagaskar also.
»Und der Sieger stand schon vorher fest«, schlussfolgerte ich.
Sie nickte. »Keiner konnte so gut schreiben wie Gregory.«
»Aber er hat nicht gewonnen?«
Sie schluckte laut. »Nein. Felix war der Sieger.«
»Was hat Ihr Bruder dann gemacht?«
»Er war enttäuscht. Saß tagelang in seinem Zimmer, fing an zu trinken. Und dann … war er tot.« Ihr Gesicht verzerrte sich, und es kullerten erneut Tränen aus den müden blauen Augen.
Bender schien diesen Umstand nicht bemerkt zu haben. »Wann war das?«, fragte er, etwas mutiger als eben.
Ich merkte, dass Ella Weeber nicht genau wusste, was Bender meinte. »Der Wettbewerb«, konkretisierte ich.
»Ungefähr zwei Wochen vorher.« Ella Weeber schlug ihre Hände vors Gesicht. Dann nahm sie das dünne Brillengestell von ihrer Nase und wischte sich mit einem neuen Taschentuch trocken. Ihre Trauer wirkte ehrlich.
»Erlauben Sie mir noch eine Frage, Frau Weeber?«
Ich wartete ihre Reaktion ab.
Sie nickte mit leicht bebenden Lippen.
»Können Sie sich vorstellen, was der Grund für das im Schülerkalender notierte Treffen der beiden gewesen sein könnte?«
»Nein.«
Ihre Antwort kam schnell. Ich hakte nach.
»Keine Idee?«
»Es kann alles gewesen sein. Fußball spielen, schwimmen … Ich weiß es nicht.« Sie putzte lautstark ihre triefende Nase.
»War Gregory eifersüchtig auf Felix Riegen wegen des Wettbewerbs?«, fragte ich, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war.
Ihr Gesicht erstarrte, als überlegte sie, ob sie mir tatsächlich eine Antwort auf meine Frage geben wollte. »Er war enttäuscht. Er war aber nicht aggressiv, wenn Sie das meinen.«
»Wenn er tagelang enttäuscht in seinem Zimmer saß, kann er da nicht was ausgebrütet haben?«
Sie zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« Sie legte ihre Hände vors Gesicht und brach dahinter erneut in Tränen aus.
Die Konfrontation mit den Ereignissen von damals machte ihr mehr zu schaffen, als ich im Vorfeld angenommen hatte. Ich entließ sie und bedankte mich für ihr Erscheinen. Sie sicherte mir zu, noch bis übermorgen zu bleiben, sollten bis dahin noch Fragen aufkommen. Dann verließ sie niedergeschlagen das Vernehmungszimmer und trottete auf das Großraumbüro zu, durch das sie nach draußen gelangen konnte.
Derweil schlug ich den Weg in die Küche ein. Ich war noch in Gedanken bei ihrem Schicksal, als ich von hinten Vanderhagens gehässiges Lachen hörte. Als er sich meiner Aufmerksamkeit sicher war, drehte er übertrieben seine Fäuste vor den Augenhöhlen und senkte die Mundwinkel theatralisch nach unten, als würde er heulen.
Dieser Idiot! Er muss sie durch das Fenster beobachtet haben.
Ich zwang mich zur Selbstkontrolle. »Wussten Sie von dem Kurzgeschichtenwettbewerb?«
»Ja klar. Haben wir schon ermittelt.« Eine widerliche Selbstzufriedenheit prangte in seinem Gesicht.
Bleib ruhig. Es gibt jetzt Wichtigeres!
»Wo sind die Reisetickets, die der Gewinner bekommen sollte?«
»Die Tickets wurden nie gefunden.«
»Vielleicht wurden die Tickets registriert«, wandte Bender ein.
Vanderhagen schaute ihn abfällig an. »Wurde damals schon überprüft. Die Tickets wurden nie benutzt. Da haben wir die Bestätigung der Fluggesellschaft.«
»Womit wurde der Abgleich gemacht, wenn die Tickets nicht gefunden wurden?«, prüfte ich seine Aussage. Ich wollte auf Nummer sicher gehen.
»Mit der Bestellbestätigung natürlich«, erwiderte er gereizt. »Da standen die Ticketnummern drauf.«
»Und trotzdem glauben Sie, dass Felix Riegen nach Afrika ausgewandert ist?«
Seine Augen zogen sich eng zusammen. »Denken Sie wirklich, der Junge ist so blöd und benutzt die Tickets? Der hat einfach andere gekauft.«
»Was? Auch für Madagaskar?«, fragte ich erstaunt.
»Ach«, winkte er ab. »Was weiß ich, was der Knabe gemacht hat.«
»Mit Behauptungen kommen wir hier nicht weiter. Haben Sie Belege dafür?«, fragte ich, erntete dann aber ein zähneknirschendes Kopfschütteln.
Innerlich machte ich es ihm nach. Ich konnte es nicht leiden, wenn Menschen lose Behauptungen ohne Fundament in die Welt setzten und damit nicht nur ihre, sondern auch meine Zeit vergeudeten.
»Prüfen Sie bitte bei den Behörden in Madagaskar, ob dort jemals ein Felix Riegen eingereist ist!«, sagte ich streng. Mit ernster Miene zog Vanderhagen Richtung Schreibtisch ab. Einen Augenblick danach entfernte sich auch Bender, um seinen Block mit Notizen zu füllen.
Ich nutzte die kurze Pause, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Während ich trank, lehnte ich im Türrahmen. Meine Aufmerksamkeit fiel auf Ella Weeber, die ich durch die Scheibe im Großraumbüro sehen konnte. Zu meiner Verwunderung kauerte sie am Boden und hielt ein Blatt Papier in der Hand, das offenbar zusammen mit anderen heruntergefallen war. Ihre Augen wirkten groß und ließen vermuten, dass sie etwas Schreckliches sahen. Ich wollte zu ihr, fragen, was los war. Doch noch bevor ich die Tür erreicht hatte, lief sie hinaus in Richtung Treppenhaus.
Ich eilte ihr hinterher, doch ich kam zu spät. Ich konnte nur noch beobachten, wie ihre Beine einknickten und ihr Körper seitlich gegen die Wand prallte. Sie knallte mit den Knien auf den Boden. Ihr Mund war weit aufgerissen, brachte aber keinen Laut hervor. Ihre Arme lagen schwach in ihrem Schoß.