- -
- 100%
- +
Das Postulat, dass Essen im Netz gut aussehen muss, um gut anzukommen, kann zu einer Verunsicherung führen und zur Orientierung des eigenen Konsums an dem, was auf Social Media »funktioniert«, was also viele Likes und Reaktionen von Followern erzeugt »

Sozialforscher wie Colin Campbell sehen hier »Craft-Consumer« am Werk: Menschen, die für die erfolgreiche Auswahl und Präsen tation ihrer alltäglichen Konsumentscheidungen einiges an (unbezahlter) kreativer Arbeit leisten. Durch die intensive Nutzung von Social Media und die »Instagramisierung« der Gerichte wird mitunter nur für das Foto gekocht, die Gerichte werden danach gar nicht gegessen. Damit tragen die jungen Foodies auch zur Lebensmittelverschwendung bei, schreibt der britische Guardian in seinem 2017 veröffentlichten Bericht »Instagram generation is fuelling UK food waste mountain, study finds«. Ob die Influencer auf ihren Kanälen einen perfekten und gesunden Lebensstil nur vorgeben und statt dem üppigen geposteten Salat nicht doch Pommes essen, weiß sowieso niemand.
Über Jahrhunderte wurden Rezepte, das Wissen über Ernährung oder die Zubereitung von Essen mündlich oder über Handschriften und Kochbücher weitergegeben. Ein Köstlich new Kochbuch aus dem Jahr 1598, geschrieben von Anna Wecker aus Nürnberg, gilt als das erste gedruckte deutsche Kochbuch. Lange Zeit waren Bücher, Zeitschriften und Magazine die esskulturellen Leitmedien, Mitte des 20. Jahrhunderts kam das Fernsehen dazu.
Mit dem Web 1.0 beginnt die digitale Esskultur, wie Deborah Lupton, Professorin am Zentrum für Sozialforschung im Gesundheitswesen an der University of New South Wales in Sydney, in ihrem Aufsatz »Cooking, Eating, Uploading: Digital Food Cultures« feststellt.
Mitte der 90er-Jahre entstehen erste Webseiten und Blogs, auf denen Menschen digital Rezepte publizieren, sammeln und über persönliche kulinarische Eindrücke und Erfahrungen beim Kochen schreiben. Gleichzeitig entstehen erste Diskussionsforen im Netz; Kochportale wie Chefkoch.de werden aus der Taufe gehoben. Menschen können dort nicht nur ihre Rezepte teilen, sondern auch untereinander diskutieren. Suchmaschinen wie Google ermöglichen erste globale Suchen nach Rezepten und das Kochbuch wird digital durchsuchbar.
Mit der Mobilwerdung des Internets Ende der 2000er-Jahre wird Food »shareable«, mit jedem im Handumdrehen per Smartphone teilbar. Soziale Food-Netzwerke entstehen. Dienste wie Foursquare oder Google-Maps werden zum Entdeckungsort der »lokalen« Food-Suche. Lebensmittelkonsum, Erfahrungen beim Einkaufen oder Essengehen werden ebenfalls lokalisierbar. Die Smartphone-Kamera ist beim Essen, beim Einkaufen oder Kochen obligatorisch dabei.
In den 2010er-Jahren werden in Deutschland die ersten kommerziell erfolgreichen Koch-Apps entwickelt. Gleichzeitig entstehen kulinarische Communities, wie zum Beispiel Foodboom, KitchenStories und KptnCook. Allergie-Communities und Diät-Communities finden sich weltweit durch Hashtags über unterschiedliche Kanäle hinweg. Food-Blogger und Influencer erreichen Millionen Leser und Zuschauer über ihre Blogs, Videos und Foto-Kanäle.
Influencerinnen wie etwa die Amerikanerin Vani Deva Hari bieten Foodwatch 2.0: Im Instagram-Livestream kann man Hari beim Einkaufen im Supermarkt begleiten. Mit dem Smartphone durchstöbert sie dann live die Zutatenlisten auf Packungen und kritisiert Lebensmittelhersteller für zu viele und ihrer Meinung nach gefährliche Zusatzstoffe in den Produkten. Die enorme Reichweite ihres Blogs »Foodbabe« bringt selbst Konzernriesen wie Kraft Foods zum Umdenken. So initiierte die Bloggerin eine Petition gegen die künstlichen Farbstoffe »Yellow 5 & Yellow 6«, die im Verdacht stehen, ADHS auszulösen, die von 365.000 Leuten unterzeichnet wurde. Kurz darauf ersetzte Kraft die künstlichen Farbstoffe durch natürliche Farbstoffe aus Paprika und Kurkuma.
Die 2020er-Jahre läuten die nächsten Phase der digitalen Esskultur ein: »Künstliche Kulinarische Intelligenz« lässt die online verfügbaren Rezeptdatenbanken »smart« werden. Das bedeutet: Nun sind sie personalisierbar, individualisierbar und »intelligent«. Der Computercode lernt aus vielen Datenspuren unsere Präferenzen kennen und kann daraus Vorschläge und Vorhersagen generieren. Durch künst liche Intelligenz entwickelt sich der personalisierte Food-Coach, Ernährungsberater oder Einkaufsführer.
Kulinarische Daten-Sammler wie Opentable, Instagram oder Foursquare können live Trends erkennen und Kulturunterschiede festmachen, auswerten und damit kommerzialisieren.
Deborah Lupton sieht im Zusammenschluss von »Big Food Data«, also der Auswertung vieler Daten über Lebensmittel und Ernährungsverhalten, eine Entwicklung zu immer umfassenderen und smarteren Funktionen und Services. Immer mehr Geräte wie etwa Magensensoren, das Fitnessarmband, der Sensor am Lebensmittel, die Allergie-App, KI-Emotionssensoren liefern ihre Daten, um das perfekte Gericht für den Kunden zum genau richtigen Zeitpunkt zu berechnen.
Die kulinarische Kirche namens Instagram
Essen bedeutet heute Identität – zumindest einen Teil davon. Menschen kommunizieren über das Essen indirekt auch ihre politische, regionale, ethische oder soziale Wertehaltung. Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme. Durch das Bekenntnis zu einem klaren Ernährungsstil tritt man einer Community bei. Man sagt: »Ich bin Veganer«, »Ich bin Paleo«, »Ich bin Slow-Food Mitglied«. Der Kulturanthropologe und Völkerkundler Gunther Hirschfelder stellt fest, dass in einer Zeit, in der Kirche und Religion an Bedeutung verlieren, das Essen »quasi religiöse Züge annimmt«.
Digitale Kommunikation ermöglicht der Generation Food heute, Kontakt zu ihren »Ess-Religionsgemeinschaften« zu halten und sich reformistischen oder orthodoxen Richtungen anzuschließen, egal ob Grillfans, Pulvernahrungsjünger oder Gemüseheilige. Wer wissen will, wie hart es heute ist, aus einem orthodoxen Veganerstamm auszutreten, muss sich nur mit Aussteigern unterhalten, die nach einer streng veganen Phase wieder Milch trinken oder sogar Fleisch essen. Digitale Selbstdarstellung in Social Media macht diesen Ausstieg schwer, ganz abgesehen von den bekannten labyrinthartigen Filterblasen oder sogenannten »Rabbit Holes«, in denen man sich in extreme Ernährungsformen verrennen kann. Der eine oder die andere findet sich dank algorithmischer Vorschläge »Das könnte dir auch gefallen« eher in einer Ernährungssekte als in einer fröhlichen Tisch gesellschaft wieder.
Und das ist kein europäisches oder US-amerikanisches Phänomen, sondern ein weltweites. Auch in Südafrika gibt es geheime Dinnerclubs, in denen sich kleine verschworene Gruppen über Social-Media-Plattformen verabreden. Chinesische Foodies zeigen über ihre Expertise zu Tisch, wie kultiviert und smart sie sind. Food Litracy, also »die Fähigkeit, den Ernährungsalltag selbstbestimmt, verantwortungsbewusst und genussvoll zu bestimmen«, wie es Margareta Büning-Fesel, die Leiterin des Bundeszentrums für Ernährung, definiert, wird zum kulturellen Klassenmarker. Wer kochen kann und die Zeit hat, sich mit elaboriertem Lebensmittelkonsum zu beschäftigen, und dies in der digitalen Welt adäquat präsentieren kann, gehört zur gebildeten Klasse. Und wer ohne zu hinterfragen bei Lidl oder Aldi einkauft, Fertiggerichte konsumiert und kein Foto davon mit seinem Smartphone macht, kann nicht mehr mithalten. Die neue digitale Welt schafft nicht nur neues Wissen und neue Möglichkeiten, sondern auch neue soziale Trennlinien.
KAPITEL 2
IN DER KÜCHE
# Die neuen vernetzten Küchengeräte # Wenn der Roboter kocht # Der Mixer macht Data-Mining # Die Pod-People und ihre Do-it-yourself-Machines # Künstliche kulinarische Intelligenz
Der Ehemann ist erschöpft. Und genervt. Widerwillig spült er das Geschirr. Die Kamera fährt auf sein schweißnasses Gesicht. Eine Stimme aus dem Off erklärt: »Wenn Vater spülen müsste, wäre noch heute ein Geschirrspüler von Miele im Haus.« Dann zeigt der Film den ultramodernen Vollautomaten: »Bequeme Frontalbeladung, doppeltes Breitstrahlsystem«.
Wer alte Fernsehwerbungen der 1960er-Jahre auf YouTube anschaut, blickt in eine Küche voll massiver Technik, die beim Kochen, Spülen und Kühlen hilft. In dieser »Hausfrauenwelt« stehen Qualitäten wie »solide gebaut« und »Zuverlässigkeit« ganz vorne. Den technischen Fortschritt bringt in dieser alten Werbewelt der Mann nach Hause – und zwar sobald er mit der anstrengenden Welt seiner Frau in der Küche konfrontiert ist.
Die neuen vernetzten Küchengeräte
Sechzig Jahre später sind spülende Väter in der Werbung keine Exoten mehr. Und auch die Zahl der kochenden Männer nimmt stetig zu. Noch immer bringen sie gerne technische Hilfsmittel mit nach Hause. Heute aber eher in Form von Smartphone-steuerbaren Bluetooth-Thermometern für den Steak-Abend. Die Küchen-Gadgets sind im Vergleich zu früher feiner, kleiner, smarter und digitaler geworden. Mit einer Wachstumsrate von 23 Prozent ist dieser Teil der Elektronik im Haushalt ein vielversprechender Markt. Weltweit soll der Markt für smarte Küchengeräte laut den Analysen der englischen Beratungsfirma Technavio bis 2023 um gut 16 Milliarden US-Dollar wachsen.
In Gütersloh ist seit 1907 der Hauptsitz der Firma Miele. Hier fingen die Gründer um die Jahrhundertwende an, Milchzentrifugen und Buttermaschinen für die Landwirtschaft zu fertigen, bevor ihnen mit den ersten motorbetriebenen Waschmaschinen der Durchbruch zum Massenmarkt gelang. Heute arbeiten weltweit über 20.000 Menschen bei dem Konzern, davon 5.000 in Gütersloh. Auf zwei Stockwerken der Firmenzentrale wurde ein »Open Space« eingerichtet – ein offenes Innovationslabor. Hier arbeiten Designstrategen, UX-und UI-Developer und Manager für »Digital Solutions« mit dem Ziel, das Unternehmen transformativ zu verändern und Ideen für die digitale Zukunft zu entwickeln. UX steht für »User-Experience« und befasst sich mit den Erfahrungen, die ein Kunde über die verschiedenen Berührungspunkte mit dem Unternehmen macht. Beispiele sind die Nutzung der Smart Home App, der Kontakt mit der Service-Hotline und in anderen Unternehmensbereichen auch die Gestaltung von Webseiten und Anzeigen. UI bedeutet »User-Interface« und fokussiert die Oberflächen, wie etwa das Design der Miele-Website oder das der Miele-App.
Die meisten Mitarbeiter im Innovationslabor »Smart Home« beschäftigen sich mit den unterschiedlichsten Elementen des vernetzten Haushalts, erzählt Henrik Holkenbrink, Strategic Concepter für UI und UX bei Miele Smart Home. Sie suchen Antworten auf Fragen wie: Wie sieht der Mixer der Zukunft aus? Wie gestaltet sich die Oberfläche der App, die den Backofen steuert?
In der Abteilung arbeiten Designer, Entwickler und Data Engineers zusammen, um smarte Kameras in Küchengeräte einbauen, sodass der Ofen mithilfe von lernenden Algorithmen immer mehr Gerichte automatisch beim Einschieben der Bleche erkennt.
Man dürfe aber nicht am »Peak of Perfection« hängen bleiben, warnt Roland Napierala, Business Designer bei Miele. Bedeutet: Es dürfe bei Innovationen am Ende nicht nur um eine weitere Optimierung bereits ausgereifter Produkte gehen. Zum Beispiel den etwas verbesserten Klang einer Ofentür oder die noch gleichmäßigere Bräunung von Keksen. Das reiche nicht. Es gelte weiter zu denken, betont er, und zwar nicht mit Blick auf das technisch Machbare, sondern bezüglich Innovationen mit einem wirklichen Kundennutzen.
Sven Schneider, zuständig für strategisches Design und Innovation, ist für die Firma viel gereist und hat mit vielen Menschen darüber gesprochen, worum es ihnen in der Küche geht. Im Home-Office sitzt er vor einer riesigen Weltkarte. »Es ist egal, wo du fragst«, sagt er, »ob in den USA, Korea, Schweden oder Kanada, die Antworten sind alle ähnlich. Es geht allen um Gesundheit, Nachhaltigkeit und Convenience.« Kollege Napierala ergänzt: »Die drei Begriffe kann dir allerdings jeder nennen, aber klapp doch mal als Beispiel die Karte Gesundheit auf. Eine hochkomplexe Angelegenheit.«
Wichtig ist aus seiner Sicht – bei aller Faszination für praktische technologische Lösungen –, zu akzeptieren, dass gerade in der Küche viele verschiedene Prozesse ablaufen und diese für jeden ganz unterschiedlich funktionieren. Sein Ziel in der Innovationsentwicklung sei es daher nicht, einfache Antworten zu liefern, sondern diese Individualität und Komplexität zu akzeptieren und Lösungen dafür zu finden. Nicht alles kann man selbst erfinden. »Wir betrachten aus der Anwenderperspektive die vielen individuellen Situationen, in denen sich die Kunden rund ums Essen in Zukunft befinden.« Sein Kollege Sven Schneider ergänzt: »Aus dieser User-Experience Lösungen zu entwickeln, das ist es, was uns antreibt.« Daten sind dabei nur ein Teil des Spiels, betonen sie.
Schnell kommt man in der Smart-Kitchen-Szene auf »Moley« zu sprechen, die erste »Roboterküche der Welt«, wie das britische Startup schon 2015 stolz verkündete. Der aus zwei Roboterarmen bestehende automatische Koch feierte damals als Prototyp auf der Hannover Messe Premiere. Moley Robotics wollte die futuristisch kochenden Roboter, die von über zwanzig Motoren angetrieben werden und über unzählige Sensoren verfügen, im Jahr 2020 für 14.000 Euro in den Handel bringen. Doch daraus wurde bislang nichts.
»Ich glaube nicht, dass da so ein Ding in der Küche stehen wird«, meint Roland Napierala. »Der Roboter wird die Zwiebel nicht schneiden.« Klar kann ein Algorithmus das beste Schneidevideo auf YouTube finden oder statt einer Zwiebel eine kleinere Schalotte vorschlagen, vielleicht sogar das richtige Messer auswählen. Aber es gäbe Dinge, die können Menschen einfach besser als Maschinen. »Du kannst mit Technologie ganz viel personalisieren und individualisieren, am Ende steht aber der Mensch in der Küche und muss eine Zwiebel schneiden, und dann ist es vorbei mit KI.«
Die koreanische Konkurrenz von Miele sieht dagegen durchaus einen Zukunftsmarkt für die Roboterkollegen in der Küche. Die Firma Samsung präsentierte die neueste Version ihres »Bot-Chef« auf der Elektronikmesse CES 2020 in Las Vegas. Die beiden weißen von der Küchenzeilendecke hängenden Roboterarme schnitten in der Showküche Feta, gossen Olivenöl in Pfannen, füllten die Kaffeekapsel-Maschine nach und wischten am Ende auch noch durch. Alles eher im Zeitlupentempo, aber mit durchaus viel Fingerspitzengefühl der jeweils drei mechanischen Roboterfinger am Ende der Arme. Die vorgestellte Zukunftsstudie wurde in Kalifornien dabei nicht als Ersatz für den Mensch in der Küche beworben, sondern als nützliche Hilfe − als sogenannter Ko-Bot, der mit dem Koch oder der Köchin zusammen arbeitet.
Der ebenfalls aus Südkorea stammende Mitspieler bei der digitalen Küchentechnik LG Electronics entwickelt für seine Roboterhelferschar im Haushalt, zu der auch ein Chef-Bot für die Küche gehört, bereits eigene KI-Chips, die mit künstlicher Intelligenz »physische und chemische Veränderungen in der Umwelt« erkennen sollen, um neben Staubsaugern und Wischgeräten auch Kochrobotern bessere Orien tierung in der häuslichen Umgebung zu ermöglichen.
Dass einem kleinen Startup die Lösung für die Küche der Zukunft einfällt, glaubt man in der Innovationsabteilung von Miele nicht. Sie mögen die nötigen Innovationsspritzen für den smarten Haushalt der Zukunft bieten und Erfolg in einer bestimmten Nische haben, was ihnen allerdings fehle, sei der Gesamtblick. Nach den Großen der Tech-Szene gefragt, ist man in Gütersloh dagegen nachdenklicher. Wenn Amazon und Google für Kunden das Eingangstor in die digitale Welt darstellen, bestehe die Gefahr, dass Hersteller von Küchentechnik am Ende der Kette zum Lieferanten für die Datensammlung aus der Küche degradiert werden. Bei Miele setzt man deswegen auf das Qua litätsversprechen der Marke.
Gerade in der Küche wird aus Big Data schnell Long Data, also Daten, die lange Zeit gespeichert werden.
Momentan gehen viele Menschen noch eher sorglos mit ihren Daten um. Die Frage sei aber, sagt Napierala, wann sich das drehe. Seine Hypothese: Kunden denken immer mehr darüber nach, mit wem sie den Weg in die digitale Zukunft gehen wollen – auch in der Küche. Dann wird vielleicht am Ende aus »Made in Germany« »Safe in Germany« als neues digitales Qualitätsversprechen, prognostiziert er. Auch wenn andere »erst mal machen«, diese Ziele im Blick zu haben werde sich auszahlen, so Napierala.
Gerade arbeitet das Team des Innovation Lab an einer Vermarktungsplattform für regionale Bio-Lebensmittel (freshtotable.de). Ein Investment in die Berliner Startup-App KptnCook brachte die Entwickler auf die Idee. Die Koch-App des Startups von Eva Hoefer und Alex Reeg schlägt ihren Nutzern jeden Tag drei neue Rezepte inklusive Zutaten und Videoanleitung zum Nachkochen vor. 13,4 Millionen Koch-Sessions finden so, laut KptnCook, jeden Monat statt. Das sind rund 48.000 am Tag. Auf Wunsch übermittelt die App auch gleich die Einkaufsliste an den Supermarkt um die Ecke. Doch der hat nicht immer alles. Deshalb sei die Frage aufgetaucht: Wie bekomme ich die tollen Lebensmittel aus den Rezepten von KptnCook nach Hause?
Der Mixer macht Data-Mining
»Kühlschrank und Ofen waren früher einfach Boxen, die kalt oder heiß waren. Sie werden jetzt zu Computern, zu Daten-Zentren in der Küche«, sagt Kevin Brown. Der Smart-Kitchen-Experte hält im Mai 2019 die Eröffnungsrede auf dem Global Food Innovation Summit in Mailand, der jährlich Tausende Innovator*innen aus der FoodTech-Welt in die norditalienische Metropole lockt, und präsentiert den Zuhörer*innen seine Plattform Innit, die er zusammen mit Eugenio Minvielle, dem vormaligen Geschäftsführer von Unilever in Nordamerika und Ex-CEO von Nestlé in Mexiko und Frankreich, gegründet hat. »Filme, Musik oder Mobilität – alles ist einfacher geworden«, stellt er in Hinblick auf neue digitale Möglichkeiten fest. Oft genüge nur noch das Drücken eines Knopfes und man komme an das gewünschte Ziel. »Doch was ist mit Essen?«, fragt er. »Da ist das nicht so einfach.« Oft muss man verschiedenste Apps öffnen, um an Rezepte zu kommen oder Zutaten zu bestellen. Hinzu kommt: »Früher rannte man durch die Gänge im Supermarkt, um Produkte mit dem richtigen Label zu finden. Jetzt gibt es Disruptoren wie Amazon oder Google, die die Handelswelt auf den Kopf stellen.« Und in der Küche? Um aus Küchengeräten Computer zu machen, reiche heute ein WiFi-Chip, der nicht mehr als fünf Dollar kostet, stellt Brown fest. »Die Frage ist, wie das alles zusammenkommt. Wie sieht das kulinarische GPS-System aus, das dich vom Einkaufen zum Kochen begleitet?« Seine Plattform soll genau das schaffen: Gerätehersteller und Händler vernetzen. Sie soll die Zusammenarbeit vom Einzelhändler über den Ofenhersteller bis zum Lebensmittelproduzenten möglich machen. »Bislang wurde viel über die smarte Küche geredet – jetzt kommt die Zeit, in der alles zusammenwächst«, gibt er sich am Ende seiner Rede hoffnungsfroh. Grundig, Google, Electrolux, Walmart und Phillips sind nur einige seiner Partner, die er stolz auf einer seiner letzten Präsentations folien zeigt.
Einer dieser neuen Küchencomputer, die Kevin Brown aufgrund ihrer Ausgereiftheit einiges an Respekt abverlangen, wurde in Deutschland hergestellt. Genauer gesagt in Laaken, einer kleinen Siedlung im Osten von Wuppertal. Hier wurde in den 1970er-Jahren von der Firma Vorwerk der erste Vorläufer des Thermomix hergestellt, damals noch Heizmixer genannt. Zu den scharfen Messern, einem starken Motor und dem Heizelement kamen in den Neunzigern eine integrierte Waage sowie Temperatursensoren hinzu. Seit 2014 können Kunden das Gerät per Touchscreen steuern. Das neueste Modell ist der TM6.
Neben Mixen, Rühren, Zerkleinern und Kochen beherrscht die aktuelle Version auch automatisches Fermentieren, Sous-vide- oder Dampfgaren und zwölf weitere Kochtechniken. Auch wenn das Gerät bislang keine Arme hat, wird der Themomix in einigen Onlineshops schon als »Küchenroboter« verkauft. Wenn man dem TM6 unter die Motorhaube schaut, versteht man, warum Experten wie Kevin Brown von neuen »Daten-Zentren« in der Küche sprechen.
Das Gerät verfügt über einen 16 Gigabyte großen Flashspeicher, so viel wie ein kleines iPhone besitzt, und einen 1 GB großen Arbeitsspeicher. Zum Vergleich: Die beliebten ALDI-Computer Ende der Neunziger hatten nur ein Viertel dieses Speicherplatzes und weder WLAN- noch Bluetooth-Empfänger, die man heute serienmäßig in dem Küchenmixer findet. Ganz zu schweigen von einem der modernen Vierkern-Prozessoren, die heute im Herzen eines Thermomix den Takt angeben. Wozu braucht ein Küchenmixer diese digitale Ausstattung?
»Thermomix macht dein Leben leichter und passt sich deinen Bedürfnissen an«, verspricht der Hersteller vollmundig. Dazu gehören 40.000 Rezepte, die per Werkseinstellung mit dabei sind. Für die Verwaltung und Planung von Frühstück, Mittag- und Abendessen existiert die App Cookidoo 2.0, die wie ein eigenes »Betriebssystem« für den Thermomix funktioniert. Sie zeichnet sämtliche Kochvorgänge und gekochten Gerichte auf. Mit ihr kann man die nächsten Wochen planen oder frühere Leibspeisen abrufen. Aus den Rezepten bastelt die App am Ende automatisch Einkaufslisten zum Abhaken. Sie zeigt auch an, welche Lebensmittel aus vorherigen Kochvorgängen noch in der Speisekammer vorhanden sein müssten.
Für Vorwerk hat es sich gerechnet, dass sie auf die digitale Revolution in der Küche gesetzt haben. Die Umsätze mit dem Küchencomputer haben sich seit Erscheinen des Vorgängers TM5 verdoppelt. 2019 erlöst Vorwerk mit dem Gerät 1,375 Milliarden Euro. Verkauft wird es derzeit in 14 Ländern. Zuletzt kamen China und die USA hinzu. Während in Deutschland der Absatz rückläufig ist, gelten Asien und besonders China als neuer Wachstumsmarkt. Im Juni 2019 wurde bekannt, dass die Produktion von Motoren und Messern noch am Wupperufer verbleibt, ein Großteil der Produktion aber ab 2020 nach Shanghai verlegt wird.
In China arbeitet das IoT-Start-up TecPal in Hongkong seit 2016 allerdings bereits an einer eigenen Version eines smarten Heizmixers. 2018 eröffnete man in Shenzhen eine Dependance auf dem chinesischen Festland. Ein Jahr später zeigte man das fertige Gerät Cooking Pal auf der weltweit größten Fachmesse für Unterhaltungselektronik, der CES in Las Vegas. 2020 gewann die neueste Version, vorgestellt als zentraler digitaler Knotenpunkt in der Küche, den »Innovation Award« der Messe in der Kategorie »Smart Home«. Eine rasante Entwicklung für Julia, so der Name der digitalen Assistentin im Inneren des Mixers von TecPal.
Zum chinesischen Modell, das dem deutschen Thermomix durchaus ähnlich sieht, gehört ein Tablet mit einem 22 Zentimeter großen Bildschirm. Auf ihm kann man nicht nur passende Zubereitungs videos anschauen und die Zutatenliste einsehen. Das Gerät lässt sich auch während des Kochens herumtragen und beim Putzen oder Fernsehen steuern. Die eingebaute Kamera ermöglicht, das Gekochte beim Essen Instagram-würdig einzufangen. Aus Fotos von gerade herumliegenden Zutaten entwickelt Cooking Pal Julia dann per KI-Erkennung Vorschläge für passende Gerichte. Im Gegensatz zu Cookidoo kennt Julia momentan nur 500 Rezepte. Das Gerät hat allerdings Anbindung zum Amazon-Universum und kann per Sprache über Alexa oder den Google-Assistenten gesteuert und nach mehr Rezepten befragt werden. Anstatt wie bei der App des Thermomix nur abhak bare Einkaufslisten der Zutaten zusammenzustellen, verspricht das intelligente Kochsystem aus China die Lebensmittelbestellung gleich mit abzuwickeln. Das Gerät soll demnächst auf den Markt kommen und 450 Euro billiger sein als die deutsche Konkurrenz.
Auch bei Vorwerk hat man sich weiterentwickelt und Ende 2019 eine Kooperation mit Drop, einem Start-up aus Irland, bekannt gegeben, das wie eine Art Windows für die smarte Küche funktionieren soll. Über das gleichnamige Programm sollen sich nicht nur Backofen und Thermomix verstehen können, sondern auch das Einkaufen von Lebensmitteln möglich werden. Millionen von Thermomix-Geräten weltweit können so zu neuen Bestellterminals direkt in der häuslichen Küche werden. Firmen wie Bosch, Kenwood oder Electrolux sind ebenfalls Partner von Drop. Das Rennen um die Vorherrschaft des führenden digitalen Betriebssystems für die Küche der Zukunft ist eröffnet.