Digitalisierung und Lernen (E-Book)

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Digitalisierung und das Weiterbildungssystem
Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass die Weiterbildung als Bildungsbereich im Zuge der Diskussion um die Digitalisierung weiter in ihrer Bedeutung aufgewertet wird. Wissen und Kompetenz und deren Aneignung über die gesamte berufliche Laufbahn und Lebensspanne sind gefragt. Genauer beobachtet werden müsste allerdings, wie sich der digitale Wandel auf die Strukturen der Weiterbildung auswirkt, etwa in Bezug auf neue Akteure in der Weiterbildung sowie auf neue oder veränderte Kooperationen (vgl. z. B. Meister 2005).
Grotlüschen (2018) legt eine erste vertiefte Analyse zu möglichen Disruptionen im Weiterbildungsmarkt durch den Eintritt von Unternehmen der Digitalwirtschaft vor. Analysiert werden die Geschäftsmodelle von drei Unternehmen (XING, Google und LinkedIn), die sich zunehmend als Akteure auf dem Weiterbildungsmarkt positionieren. Gezeigt wird, wie es diesen Unternehmen gelingt, durch die Nutzung verschiedener Datenbestände wie Lebenslaufdaten, Daten zu Interessensgebieten und beruflichen Positionen sowie Daten aus Stellenausschreibungen sehr gezielt Weiterbildungswerbung zu schalten und Angebote zu platzieren. Grotlüschen vermutet, dass diese Entwicklung vor allem für die kommerziellen Weiterbildungsanbieter relevant wird und eventuell sogar eine wirtschaftliche Bedrohung darstellt. Ein disruptives Potenzial dieser neuen Geschäftsmodelle und Marketingstrategien scheint jedenfalls gegeben.
Ronald Schenkel setzt mit seinem Beitrag in diesem Band an der Analyse von Grotlüschen (2018) an. Er sieht Parallelen zwischen der Medienbranche und der Weiterbildung und malt der Weiterbildung am Beispiel der durch die Digitalisierung bedingten Entwicklung in der Medienbranche aus, was ihr bevorstehen könnte. Die Medienbranche ist durch Suchmaschinen, neue News-Portale und Social Media in ihren Grundfesten erschüttert worden. Folgen sind zum Beispiel eine Entmonopolisierung der Gatekeeper-Funktion, eine zunehmende Abhängigkeit von Plattformen (Suchmaschinen, Social-Media-Kanäle), internationale Konkurrenz oder Kompetenzverschiebungen in den Organisationen selbst. Geliefert werden damit Aspekte, die zur Analyse für aktuelle und mögliche zukünftige Entwicklungen in der Weiterbildung genutzt werden können. Schenkel liefert Beispiel dafür.
Professionelles Handeln unter den Bedingungen der Digitalisierung
Schließlich lässt sich eine Ebene differenzieren, auf der das professionelle Handeln des erwachsenenpädagogischen Personals unter den Bedingungen der Digitalisierung thematisiert wird. Es geht um medienpädagogische Kompetenzen von in der Erwachsenenbildung Tätigen, um die Analyse entsprechender Anforderungen sowie um Angebote und Wege zur Professionalisierung (vgl. Schmidt-Hertha/Rohs 2008, S. 3). Dies betrifft alle erwachsenenpädagogischen Aufgabenbereiche: Management, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit, Programm- und Angebotsplanung, Lehre/Unterricht, Beratung sowie Verwaltung (vgl. Kraft 2018, S. 1114).
Interessant ist zunächst die Frage, inwiefern sich medienpädagogische Inhalte überhaupt in den Kompetenzmodellen für Erwachsenenbilderinnen und -bildner sowie in den Aus- und Weiterbildungsangeboten finden. Eine erste Analyse von Modellen und Angeboten im deutschsprachigen Raum nimmt Matthias Rohs in seinem Beitrag vor. Es zeigt sich, dass medienbezogene Inhalte in den Kompetenzstandards zunehmend beachtet werden und inzwischen ein breites und diverses Angebot vorliegt mit Fokus auf mediendidaktische Inhalte. Es deutet sich an, dass weiterführende Thematisierungen der Digitalisierung, die sich von unterrichtsbezogenen Fragen der Methodik und Didaktik absetzen, eher zu kurz kommen. Zu denken wäre hier etwa an eine Thematisierung von möglichen Gefahren einer sozialen Selektivität von Online-Angeboten oder von Fragen des Datenschutzes und der Selbstbestimmung der Lernenden. Sinnvoll wäre es zudem, breitere kulturelle und arbeitsbezogene Fragen, wie sie von Stalder und Böhle u. a. in diesem Band aufgeworfen werden, zu behandeln.
In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach möglichen Veränderungen des Berufsbildes des Erwachsenenbildners beziehungsweise der Erwachsenenbildnerin. Matthias Rohs stellt hierzu erste Überlegungen an. Vermutet wird eine «Neukonfiguration und Spezialisierung der klassischen Tätigkeitsfelder in der Weiterbildung». Umfassende empirische Analysen fehlen hierzu allerdings noch.
Ein medienpädagogisches Kompetenzmodell für Erwachsenenbildnerinnen und -bildner stellen Karin Julia Rott und Bernhard Schmidt-Hertha in ihrem Beitrag vor. Sie gehen dabei von Modellen aus, die in der Lehrerbildung entwickelt wurden, passen diese Modelle aber an, um den besonderen Bedingungen im Feld der Erwachsenenbildung gerecht zu werden. Das vorgeschlagene Modell besteht aus den Facetten Feldkompetenz, Fachkompetenz, didaktische Kompetenz sowie Einstellungen und Selbststeuerung. Eine erste empirische Testung des Modells wurde mit 622 Lehrenden vorgenommen. Auf Grundlage dieser Daten gehen Rott und Schmidt-Hertha in ihrem Beitrag der Frage nach, ob die medienpädagogische Kompetenz von Lehrenden in der Erwachsenenbildung vom Alter abhängig ist, wie es auch für die Mediennutzung und Medienkompetenz der Bevölkerung im Allgemeinen gilt.
Die Beiträge dieses Bandes stecken ein Feld von Digitalisierung, Weiterbildung und Lernen ab und zeigen eine Vielfalt der Themen, die in diesem Zusammenhang zu diskutieren sind. Die Weiterbildung muss sich in vielerlei Hinsicht mit der Digitalisierung auseinandersetzen. Dies macht die vorgestellte Differenzierung unterschiedlicher Ebenen im Verhältnis von digitalen Technologien und Erwachsenenbildung deutlich. Eine primär tool- und methodenbezogene Diskussion, wie sie häufig anzutreffen ist, würde die Thematik stark verkürzen und wäre den möglichen Wandlungsprozessen nicht angemessen. Ebenso verkürzt ist die Rede vom «digitalen Lernen», womit meist nicht mehr gemeint ist als die Nutzung von digitalen Anwendungen im Lernprozess wie Videos oder Apps. Lernen an sich ist nicht mehr oder weniger digital, sondern es handelt sich um einen psychischen Prozess, der darauf gerichtet ist, seine Handlungsmöglichkeiten zu erweitern, indem gemachte Erfahrungen angeeignet werden (Faulstich-Wieland/Faulstich 2006, S. 31). Es geht darum, dieser Komplexität menschlichen Lernens auch in der aktuell stark technikbezogenen Diskussion gerecht zu werden und das professionelle Handeln daran auszurichten.
Literatur
Böhle, Fritz (Hg.) (2017). Arbeit als Subjektivierendes Handeln. Handlungsfähigkeit bei Unwägbarkeiten und Ungewissheit. Wiesbaden: Springer VS.
erwachsenenbildung.at (2017). Wie digitale Technologien die Erwachsenenbildung verändern. Zwischen Herausforderung und Realisierung. Ausgabe 30.
Faulstich, Peter; Zeuner, Christine (2006). Erwachsenenbildung. Eine handlungsorientierte Einführung in Theorie, Didaktik und Adressaten. Weinheim und München: Juventa.
Faulstich-Wieland, Hannelore; Faulstich, Peter (2006). BA-Studium Erziehungswissenschaft. Ein Lehrbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Gieseke, Wiltrud (2003). Programmplanungshandeln als Angleichungshandeln. Die realisierte Vernetzung in der Abstimmung von Angebot und Nachfrage. In: Gieseke, Wiltrud (Hg.). Institutionelle Innensichten der Weiterbildung. Bielefeld: W. Bertelsmann, S. 189–211.
Grotlüschen, Anke (2018). Erwachsenenbildung und Medienpädagogik: LinkedIn & Lynda, XING und Google als Bildungsanbieter. In: MedienPädagogik, H. 30, S. 94–115.
Haberzeth, Erik; Umbach, Susanne (2018). Digitalisierung und Kompetenz – subjektbezogen erforscht. In: Education Permanente EP, H. 4, S. 48–49.
von Hippel, Aiga; Freide, Stephanie (2018). Erwachsenenbildung und Medien. In: Tippelt, Rudolf; von Hippel, Aiga (Hg.). Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Wiesbaden: Springer VS, S. 973–999.
Jacober, Christina (2018). Qualifizierungs- und Karrieremöglichkeiten für Berufsbildner/-innen. Das AdA-System des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung. In: BWP, H. 3, S. 19–23.
Kraft, Susanne (2018). Berufsfeld Weiterbildung. In: Tippelt, Rudolf; von Hippel, Aiga (Hg.). Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Wiesbaden: Springer VS, S. 1109–1128.
Meister, Dorothee M. (2005). Einflüsse Neuer Medien auf die Weiterbildung. Rahmenbedingungen, System- und Feldadaption sowie Anforderungen und Potenziale. Paderborn: Universität Bielefeld.
Meister, Dorothee M. (2008). Medien in der Erwachsenen- und Weiterbildung. In: Sander, Uwe; von Gross, Friederike; Hugger, Kai-Uwe (Hg.). Wiesbaden: VS, S. 519–526.
Röthler, David; Schön, Sandra (2017). Editorial. Wie digitale Technologien die Erwachsenenbildung verändern. Zwischen Herausforderung und Realisierung. In: erwachsenenbildung.at, Ausgabe 30. Wien.
SBFI (2018). Leitbild Berufsbildung 2030. Online unter: https://www.sbfi.admin.ch/sbfi/de/home/bildung/berufsbildungssteuerung-und--politik/projekte-und-initiativen/berufsbildungsstrategie-2030.html [03.03.2019].
Scharnberg, Gianna; Vonarx, Anne-Cathrin; Kerres, Michael; Wolff, Karola (2018). Digitalisierung der Erwachsenenbildung in Nordrhein-Westfalen – Herausforderungen und Chancen wahrnehmen. In: erwachsenenbildung.at, Ausgabe 30. Wien, S. 1–12.
Schmid, Ulrich; Goertz, Lutz; Behrens, Julia (2018). Monitor Digitale Bildung. Die Weiterbildung im digitalen Zeitalter. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Schmidt-Hertha, Bernhard; Rohs, Matthias (2018). Editorial: Medienpädagogik und Erwachsenenbildung. In: MedienPädagogik, H. 30, S. 1–8.
Schöll, Ingrid (2017). (Keine) Zeit für Experimente. Beobachtungen zur Digitalisierung der Volkshochschule. In: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, H. 3, S. 32–34.
Sgier, Irena; Haberzeth, Erik; Schüepp, Philipp (2018). Digitalisierung in der Weiterbildung. Ergebnisse der jährlichen Umfrage bei Weiterbildungsanbietern (Weiterbildungsstudie 2017/2018). Zürich: SVEB & PHZH. Online unter: https://edudoc.ch/record/130478/files/SVEB_Weiterbildungsstudie2017_2018.pdf [03.03.2019].
Stalder, Felix (2016). Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp.
Stang, Richard (2003). Neue Medien in Organisationen der Weiterbildung: Empirische Befunde am Beispiel der Volkshochschulen. REPORT Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, H. 2, S. 78–96.
Fritz Böhle, Norbert Huchler und Judith Neumer
Wozu noch menschliche Arbeit – Grenzen der Digitalisierung als neue Herausforderung für die Weiterbildung
Abstract
In der bildungspolitischen Diskussion wird die Entwicklung von Kompetenzen für den Umgang mit den auf Digitalisierung beruhenden Techniken gefordert («Digitalisierungskompetenz»). Demgegenüber wird in diesem Beitrag die Auseinandersetzung mit den Grenzen der Digitalisierung als wichtige Anforderung an die Weiterbildung ausgewiesen. In der allgemeinen Diskussion und in den Medien entsteht der Eindruck, dass es mit der Digitalisierung möglich ist, menschliches Denken und Handeln nahezu umfassend zu simulieren und zu ersetzen – bis hin zu Emotionen und Intuition. Doch dies ist ein Irrtum. Die Grenzen der Technisierung treten nun jedoch nicht mehr entlang der Unterscheidung von standardisierten und nicht standardisierten beziehungsweise körperlich-einfachen und geistig-höherwertigen Tätigkeiten auf. Das Kriterium ist vielmehr die Möglichkeit der Formalisierung. Damit erweisen sich zum einen bisher als höherwertig geltende Tätigkeiten als technisierbar, zum anderen geraten menschliche Fähigkeiten in den Blick, die bisher in der Arbeitswelt wenig beachtet und wertgeschätzt wurden. Vor diesem Hintergrund wird die Befähigung zu einem subjektivierenden Handeln zur neuen Herausforderung für die berufliche Weiterbildung.
Bei der Diskussion von Anforderungen an die berufliche Bildung kann man zwischen produkt- und technikbezogenen Anforderungen unterscheiden. Ersteres bezieht sich auf die Beschaffenheit und das Material des jeweiligen Produkts eines Produktions-, Verwaltungs- oder Dienstleistungsprozesses, Letzteres auf die zur Herstellung und Erzeugung des jeweiligen Produkts eingesetzten Verfahren und Technologien. Dabei wurde bereits in den 1970er-Jahren diagnostiziert, dass mit zunehmender Technisierung eine Verlagerung von produkt- zu technikbezogenen Anforderungen bis hin zu prozessunabhängigen Anforderungen, wie technische Intelligenz und abstraktes Denken, erfolgt (vgl. Kern, Schuhmann 1985; Mickler et al. 1976). Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, bei der Diskussion neuer Anforderungen an die berufliche Bildung und Weiterbildung durch die Digitalisierung den Fokus auf neue technikbezogene Herausforderungen zu legen – von den Fertigkeiten im Umgang mit technischen Apparaten und Systemen bis hin zu allgemeinen Kenntnissen über die Beschaffenheit und Wirkungen der auf Digitalisierung beruhenden Technologien. Hierauf bezieht sich auch der in der bildungspolitischen Diskussion eingebrachte Begriff der Digitalisierungskompetenz (vgl. BMBF 2017).
Wir greifen dies im Folgenden auf, lenken den Blick aber auf einen Aspekt, der bisher bei der Diskussion technikbezogener Anforderungen an die berufliche Bildung kaum aufscheint: Grenzen der Technik und Dysfunktionalitäten. Etwas vereinfacht und plakativ ausgedrückt: Es geht nicht um das technisch Machbare und Mögliche, sondern um das, was technisch nicht machbar und – zumindest auf absehbare Zeit – auch nicht möglich ist. Denn gerade hier zeigen sich die speziell menschlichen Kompetenzen, die im Zusammenspiel mit neuen Technologien an Relevanz gewinnen. Wir diskutieren in dieser Perspektive zunächst Grenzen und Probleme digitalisierter technischer Systeme, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der technischen Erfassung und Verarbeitung von Informationen über reale Gegebenheiten liegt (1). Hieran anschließend erfolgt eine Diskussion menschlicher Fähigkeiten, die bisher wenig beachtet und wertgeschätzt werden, sich aber im Unterschied zu der «Logik» der Digitalisierung als sehr bedeutsam erweisen (2). Vor diesem Hintergrund werden der Wandel von Arbeit diskutiert (3) und Konsequenzen für die Weiterbildung dargelegt (4). Dabei wird sich zeigen, dass für einen souveränen Umgang mit der Digitalisierung nicht nur technikbezogene Kenntnisse, sondern auch ein auf das jeweilige «Produkt» bezogenes Wissen erforderlich ist. Neben systematischem Wissen spielt hier vor allem ein besonderes Erfahrungswissen und dessen Erwerb im Arbeitsprozess eine wichtige Rolle.
1Grenzen der Digitalisierung
In den Diskussionen in öffentlichen Medien und Veranstaltungen zur Digitalisierung und entsprechenden Berichten erscheinen die Möglichkeiten der Digitalisierung nahezu unbegrenzt. Sie reichen von der Automatisierung industrieller Produktion und dem Dienstleistungsroboter über dem Menschen weit überlegene Expertensysteme bis hin zum autonomen Fahren und versierten Go-Spielen. Big Data verspricht einen Zugang zu Informationen und Wissen, angesichts derer sich menschliche Intelligenz zunehmend als beschränkt erweist. Zudem erscheinen nun auch Kreativität, Gefühle, Emotionen oder Intuitionen als technisch simulierbar. Soweit sich angesichts solcher technischer Prognosen und Visionen Kritik äußert, bezieht sie sich primär auf die Folgen der fortschreitenden Digitalisierung, wie bspw. die Gefährdung persönlicher Daten oder ethische Fragen bei Entscheidungen autonomer technischer Systeme. Die kritische Frage lautet dementsprechend: Wollen wir diese Entwicklungen? (vgl. Lesch 2018) Die Frage allerdings, ob solche technischen Prognosen, Visionen und Versprechungen überhaupt realistisch sind, taucht hier kaum auf; und damit auch nicht die Frage, wie die Welt umgestaltet wird oder werden müsste, damit die Technik das einlösen kann, was sie verspricht und welche Folgen auftreten, wenn die technischen Systeme nicht einlösen, was sie versprechen.
Dabei geht es nicht um ein Für oder Wider die technische Entwicklung, sondern um die Diskussion unterschiedlicher Schwerpunkte und Richtungen der technischen Entwicklung. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung stellt sich hier die grundsätzliche Frage, ob sich die technische Entwicklung an dem «Ideal» autonom agierender technischer Systeme orientiert oder aber eher die wechselseitige Ergänzung und Kooperation von Mensch und Technik angestrebt und als realistisch erachtet wird. Die Diskussion um Grenzen der Digitalisierung ist für die Diskussion zu solchen unterschiedlichen Entwicklungspfaden der Technisierung von zentraler Bedeutung.
1.1Die Logik der Digitalisierung
Bei der Diskussion von Grenzen der Digitalisierung ist zu unterscheiden zwischen dem, was durch diese Technik «noch nicht», aber potenziell und in absehbarer Zeit bewältigt werden kann, und dem, was durch diese Technik und die ihr zugrunde liegende «Logik» nicht erfasst werden kann (vgl. Huchler 2018).
Die Digitalisierung beruht auf einer formalen «Zeichenlogik» (Rammert 2009), bei der Eigenschaften und Verhaltensweisen konkreter Gegebenheiten sowie Wissen in einer «Zeichensprache» erfasst werden bzw. werden müssen. In der Praxis sind jedoch die für die Erreichung von Zielen und Lösungen von Problemen relevanten Informationen keineswegs immer umstandslos in dieser Weise verfügbar. Allgemein lässt sich dies als Problem der informationstechnischen Beschreibung und datentechnischen Erfassung realer Gegebenheiten formulieren. Dabei zeigt sich, dass die Digitalisierung vor allem dort erfolgreich ist, wo (bereits) explizite Informationen über reale Gegebenheiten vorliegen und es im Wesentlichen darum geht, diese aufzugreifen und zu verarbeiten. Ein Beispiel hierfür sind das Internet oder Expertensysteme, die im Wesentlichen auf dokumentiertes Wissen und in Datenbanken abgelegte Informationen zugreifen. Eine grundlegend andere Konstellation besteht jedoch, wenn die mit virtuellen Objekten agierende «Welt der Software» mit der «Welt realer physischer Objekte» verbunden wird (vgl. Lee 2008, Huchler 2016), so wie dies bei den cyber-physical systems (CPS)[1] der Fall ist und angestrebt wird (Song et al. 2016). In der virtuellen Welt der Software hängen die Erfolge der Technisierung im Wesentlichen vom Umfang und der Geschwindigkeit der Rechenleistungen sowie der Identifizierung von Algorithmen ab. Die Frage, wie die Informationen, die dabei erfasst und verarbeitet werden, zustande kommen, erscheint sekundär. Bei der Verbindung der virtuellen Welt der Informationen mit realen Gegebenheiten, so wie dies beispielsweise bei der Steuerung, Regulierung und Überwachung komplexer technischer Systeme der Fall ist, erweisen sich demgegenüber jedoch die Bereitstellung und Erfassung von Informationen über die realen Gegebenheiten als ein wesentlicher Erfolgsfaktor und zugleich als sehr voraussetzungsvoll. Vergleichsweise einfach ist die Bereitstellung von Informationen, wenn die jeweils in Frage stehenden Sachverhalte durch exakt und eindeutig bestimmbare Merkmale beschreibbar sind. Exemplarisch hierfür sind physikalische Messgrößen. Weit schwieriger wird dies jedoch, wenn die realen Gegebenheiten Eigenschaften und Verhaltensweisen aufweisen, die sich nicht exakt beschreiben und erfassen lassen. In der Praxis stellt sich hier das Problem der Komplexität, der Unvollständigkeit und Mehrdeutigkeit von Informationen (vgl. Huchler, Rhein 2017). Lenkt man den Blick hierauf, so zeigt sich, dass die viel zitierten Beispiele für die Erfolge künstlicher Intelligenz, wie der Schachcomputer und neuerdings das Go-Spiel, in – informationstechnisch gesehen – vergleichsweise einfachen Umwelten agieren. Schachfiguren oder Go-Steine sowie deren jeweilige Stellung und Bewegung sind durch vergleichsweise wenig und eindeutige Informationen erfassbar. Die Komplexität ergibt sich erst durch die möglichen Spielzüge und Strategien. Beim Schachspiel bestehen zudem eindeutig beschreibbare Regeln, nach denen sich das Spiel zu richten hat.[2] Das selbstfahrende Auto ist im Unterschied zum Schachspiel oder Go-Spiel mit einer grundlegend anderen Umwelt konfrontiert und Gleiches ist auch im Bereich der industriellen Produktion, der Verwaltung sowie bei Dienstleistungen der Fall. Komplexität, Unvollständigkeit und Uneindeutigkeit von Informationen über reale Gegebenheiten sind hier kein Sonderfall und die Ausnahme, sondern vielfach die Normalität – und zwar gerade auch bei physikalisch-technischen Gegebenheiten. Im Folgenden sei dies exemplarisch an der Uneindeutigkeit von Informationen näher erläutert.
1.2Uneindeutigkeit von Informationen
Bei Informationen, die explizit als solche definiert und ausgewiesen sind, wie bspw. technische Anzeigen oder Verkehrsschilder, ist es grundsätzlich möglich, auch deren Bedeutung explizit zu definieren und zu kommunizieren. Bei impliziten, in konkrete Gegebenheiten eingebundenen Informationen wie bspw. Geräusche und Vibrationen bei technischen Systemen oder der Tonfall und die Körperhaltung bei der verbalen Kommunikation stellt sich jedoch nicht nur das Problem, sie (überhaupt) als relevante Information zu erfassen, sondern es ist auch weit schwieriger, deren Bedeutung zu entschlüsseln (vgl. Böhle, Huchler 2016). Sie sind vielfach auf den ersten Blick «nichts sagend» und ihre Bedeutung ergibt sich erst durch den Kontext und eine bestimmte Perspektive der Betrachtung. So erscheinen Geräusche an technischen Anlagen allgemein lediglich als belastender Lärm. Für Fachkräfte, die mit der technischen Anlage arbeiten, sind sie aber eine wichtige Informationsquelle über den technischen Verlauf. Veränderungen des Geräusches «informieren» über «kritische Situationen» (Schulze 2001, S. 67 ff.), in denen sich einzelne Veränderungen in einem «schleichenden Prozess» wechselseitig aufschaukeln und zu weitgehenden Störungen bis hin zum Stillstand der Anlage führen können.[3] Ein anderes Beispiel sind kleinere, punktuelle zeitliche Verzögerungen, sachliche Unstimmigkeiten oder auch Personalausfälle in administrativen Prozessen und bei Dienstleistungen. Auf den ersten Blick und isoliert betrachtet erscheinen sie als unbedeutend; de facto können sie jedoch Indizien und Symptome für grundlegende Fehlplanungen sowie organisatorische und personelle Schwachstellen sein. Es ist in der Praxis notwendig, solche Unregelmäßigkeiten im Prozessverlauf rechtzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzusteuern. Welche Einflussfaktoren, Parameter und Wirkungszusammenhänge hier jeweils ausschlaggebend sind, lässt sich nicht präzise bestimmen und ebenso wenig, welche Eigenschaften von Geräuschen hier relevant sind, die Lautstärke, Frequenz oder «Klangfarbe».
Bei der Diskussion von cyber-physical systems findet sich dementsprechend die Feststellung, dass aufgrund der physikalischen «Unschärfen» die Umwelt- und Prozessbedingungen technischer Anlagen nicht vollständig erfasst, geplant und beeinflusst werden können. Die physische Welt ist demnach im Vergleich zur Cyberwelt der Software nicht vollständig durch explizite Informationen beschreibbar und erfassbar. Je mehr sich die Digitalisierung zudem nicht nur auf die physikalische Welt, sondern auch auf die soziale Welt richtet und sich zu soziotechnischen Systemen entwickelt, so wie dies beispielsweise bei Verkehrssystemen und Dienstleistungen der Fall ist, desto komplexer und uneindeutiger wird deren informationstechnische Erfassung.
Aber auch bei expliziten Informationen können solche Uneindeutigkeiten auftreten. Bekannt ist dies beispielsweise bei Übersetzungsprogrammen. Ihre Erfolge beschränken sich im Wesentlichen auf sachbezogene Texte, bei denen die Bedeutung einzelner Wörter sowie die jeweiligen Kontexte, in denen sie verwendet werden, vergleichsweise eindeutig definiert sind. Solche Programme scheitern jedoch bei poetischen Texten, in denen Wörter und Formulierungen neben ihrer expliziten Bedeutung vor allem einen impliziten, assoziationsbezogenen Bedeutungshorizont haben. So kann die Formulierung «ein sonniger Tag» sowohl auf das physikalisch beschreibbare Wetter als auch auf eine bestimmte emotionale Atmosphäre und Stimmung verweisen. Was hiermit angesprochen werden soll, ergibt sich jedoch nur aus dem Kontext oder kann gegebenenfalls auch bewusst offen gelassen werden, sodass es letztlich den Rezipierenden überlassen bleibt, was sie hier jeweils «heraus lesen». Doch auch bei sachbezogenen Texten selbst im technischen Bereich sind schriftliche Formulierungen keineswegs immer eindeutig, sondern erfordern ein kontextbezogenes Wissen, um ihre Bedeutung zu verstehen. Ein Beispiel sind Konstruktionszeichnungen, die unter Bezug auf die praktische Umsetzung immer auch offene Stellen oder Möglichkeiten für Alternativen beinhalten (vgl. Bolte 2017, S. 119 ff.).