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2
Insolvenzen großer Unternehmen, etwa der Phillipp Holzmann AG, der Opel AG und zuletzt der Schlecker Gruppe, fanden jeweils ein breites mediales Echo und führten zu politischer Kontroverse. Die Mehrzahl der Insolvenzen vor allem mittelständischer Unternehmen erfolgt dagegen abseits einer vergleichbaren öffentlichen und politischen Anteilnahme. Wirtschaftliche Krisen und Insolvenzen sind Konsequenz auch einer sozialen Marktwirtschaft. In den Jahren 2011 und 2012 waren trotz der positiven konjunkturellen Entwicklung jeweils noch etwa 30.000 Unternehmen von Insolvenz betroffen.[5] Die Anzahl der Insolvenzstraftaten steht hiermit in Zusammenhang.[6] In 2011 wurden wie im Vorjahr in der Bundesrepublik in etwa 5.000 Fällen Bankrottstraftaten (§§ 283 bis 283d StGB) ermittelt.[7] Diese Zahlen unterstreichen die Bedeutung des Insolvenzstrafrechts.
3
Die strafrechtliche Verantwortung von Bankmitarbeitern in der Krise ihres Kunden, insbesondere eine mögliche Strafbarkeit wegen Bankrotts, ist im Schrifttum trotz der engen wirtschaftlichen Verknüpfung zwischen dem Kreditgeschäft der Banken und den Gründen einer Insolvenz bisher wenig untersucht.[8] Die bankrottstrafrechtliche Verantwortung von Bankmitarbeitern bei der Kreditrückführung in der Krise ihres Kunden ist Gegenstand der Arbeit. Die Untersuchung verfolgt dabei zugleich das Ziel, dogmatische Probleme strafrechtlicher Organhaftung sowie des Bankrotts (§ 283 StGB) näher zu beleuchten.
Anmerkungen
[1]
LK-StGB-Tiedemann Vor § 283 Rn. 36.
[2]
Vormbaum GA 1981, 102, insbesondere zur Entwicklung des Tatbestands der Gläubigerbegünstigung.
[3]
Vgl. BT-Drucks. 7/3441, S. 34.
[4]
Hierzu insbesondere S. Erdmann Krisenbegriff der Insolvenztatbestände, 2007; Moosmayer Auswirkungen der Insolvenzordnung, 1999; Penzlin Strafrechtliche Auswirkungen der Insolvenzordnung, 2000.
[5]
Creditreform Wirtschaftsforschung, Insolvenzen in Deutschland, Jahr 2012, S. 1, veröffentlicht unter www.creditreform.de/Deutsch/Creditreform/Presse/Archiv/Insolvenzen_Neugruendungen_Loeschungen_DE/2012_-_Jahr/2012-11-29_Insolvenzen_in_Deutschland.pdf.
[6]
Liebl Kriminalistik 2011, 297 (298 ff.).
[7]
Die Fallzahl der Bankrottdelikte i.S. der §§ 283, 283a-283d StGB stieg leicht von 4.972 in 2010 auf 5.127 in 2011, vgl. Polizeiliche Kriminalitätsstatistik für das Jahr 2011, 59. Ausgabe 2012, Bundeskriminalamt (Hrsg.), S. 45 (Schlüssel: 561000).
[8]
Insbesondere Tiedemann ZIP 1983, 513 ff.; Otto Bankentätigkeit, 1983.
Teil 2 Bankgeschäft und Insolvenz – zivil- und insolvenzrechtliche Grundlagen, wirtschaftliche Zusammenhänge
Teil 2 Bankgeschäft und Insolvenz – zivil- und insolvenzrechtliche Grundlagen, wirtschaftliche Zusammenhänge
Inhaltsverzeichnis
A. Kreditgeschäft der Banken und Gründe der Insolvenz
B. Kenntnis der Bankverantwortlichen vom Eintritt der Krise als Grundlage der Kreditentscheidung
C. Kündigungsrecht der Banken in der Krise als Voraussetzung der Kreditrückführung
D. Zusammenfassung
4
Das Herzstück des Kreditgeschäfts der Banken[1] ist es, das Risiko eines Kreditausfalls zu beherrschen. Die Darlehensvergabe erfolgt in der Absicht, durch die entgeltliche Kapitalüberlassung Gewinne zu erzielen. Zugleich ist dem Kreditgeschäft das unternehmerische Risiko immanent, dass Kreditkunden ökonomisch außer Stande geraten, Forderungen der Bank aus Kreditvertrag rechtzeitig auszugleichen.[2] Fehlt eine ausreichende Sicherung des Rückzahlungsanspruchs, droht Kreditinstituten wirtschaftlicher Schaden.[3] Die „Bankenkrise“ der zurückliegenden Jahre führte erneut vor Augen, dass gehäufte Forderungsausfälle wirtschaftlich existenzielle Gefahren für einzelne Kreditinstitute begründen können. Zugleich wurde zum wiederholten Mal deutlich, dass bereits die „Krise“ einzelner Institute das Potential besitzt, den Bestand des volkswirtschaftlichen Systems insgesamt zu bedrohen.[4] Ist aus Sicht der Bankverantwortlichen die Rückzahlung eines Kredits gefährdet, führt Untätigkeit möglicherweise zu einer zusätzlichen Ausweitung des befürchteten Forderungsausfalls, sofern sich die Liquidität des Darlehensnehmers während des Zuwartens weiter verschlechtert. Darüber hinaus drohen die Entwertung bestellter Kreditsicherheiten oder vorhandener Vermögensbestandteile bzw. deren Abhandenkommen im Fall einer vertrags- oder „wirtschaftswidrigen“ Verwendung durch den in ökonomische Bedrängnis geratenen Unternehmer. Bemerken Bankmitarbeiter erste Anzeichen einer Verschlechterung der ökonomischen Situation oder gar einer (drohenden) Insolvenz ihres Bankkunden, ist die vorzeitige Rückführung des Kreditengagements eine Handlungsalternative, um das wirtschaftliche Risiko der Bank, d.h. einen drohenden Forderungsausfall, zu begrenzen.
5
Die Beurteilung bankrottstrafrechtlicher Verantwortung von Bankmitarbeitern im Kontext der Kreditrückführung in der Krise des Bankkunden erfordert zunächst die Untersuchung des wirtschaftlichen (tatsächlichen) Zusammenhangs zwischen dem Kreditgeschäft der Banken und den Gründen wirtschaftlicher Krise und Insolvenz betroffener Unternehmen. Die rechtlichen Anforderungen an die Eröffnung und Durchführung eines Insolvenzverfahrens sind dabei ebenfalls mit in den Blick zu nehmen (sogleich unten Rn. 8 ff.).
6
Für die strafrechtliche Würdigung ist von Bedeutung, ob und in welchem Umfang den Bankverantwortlichen (erste) Anzeichen einer wirtschaftlichen Krise zur Kenntnis gelangen. Zeitpunkt und Ausmaß des Einblicks in die aktuelle wirtschaftliche Lage des Kreditkunden, den Bankmitarbeiter in erster Linie aus der Geschäftsverbindung heraus gewinnen oder gewinnen können, betreffen nicht allein die Feststellung und Beurteilung subjektiver Tatbestandsvoraussetzungen. Ein möglicher zeitlicher oder qualitativer Informationsvorsprung gegenüber den übrigen Gläubigern versetzte die Bankverantwortlichen faktisch nicht selten überhaupt in die Lage, im Rahmen der Kreditrückführung Insolvenzstraftaten zum Nachteil der Gläubigerschaft des Bankkunden zu begehen (unten Rn. 50 ff.).
7
Voraussetzung einer vorzeitigen Kreditrückführung ist ein entsprechender schuldrechtlicher Anspruch des Kreditinstituts gegen den betroffenen Bankkunden. Die Existenz eines derartigen Anspruchs bzw. die Prüfung, ob ein solcher Anspruch durch Bankmitarbeiter in der Krise des Bankkunden wirksam begründet werden kann, ist zur Beurteilung bankrottstrafrechtlicher Risiken als rechtliche Vorfrage relevant, daher ebenfalls vorab zu erörtern. Die Untersuchung ist dabei auf Kündigungsrechte im Kontext der wirtschaftlichen Krise des Bankkunden sowie auf mögliche Beschränkungen des Gestaltungsrechts speziell in dieser Konstellation fokussiert (unten Rn. 62 ff.).
Anmerkungen
[1]
Die Begriffe Bank, Bankbetrieb, Kreditinstitut bzw. Geldinstitut werden in Schrifttum und Rechtsprechung – so auch in vorliegender Arbeit – synonym verwendet, vgl. etwa Hopt in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechtshandbuch, § 1 Rn. 1. Zur wirtschaftswissenschaftlichen Begriffbestimmung des traditionellen (technischen) Bankbegriffs sowie seiner funktionsorientierten Herleitung vgl. Eilenberger Bankwirtschaftslehre, S. 10 ff.; Büschgen/Börner Bankbetriebslehre, S. 17 ff.; Büschgen Bankbetriebslehre, S. 33. Eine Legaldefinition des Terminus „Kreditinstitut“ enthält das öffentliche Bankaufsichtsrecht (§ 1 Abs. 1 KWG).
[2]
Das Risiko folgt aus dem „Auseinanderfallen“ der Fälligkeit der Leistungspflichten zwischen Darlehensgeber (als „Vorleistendem“) und Darlehensnehmer, MK-BGB-K.P. Berger vor § 488 Rn. 7 und 39 m.w.N.
[3]
Das Kreditausfallrisiko ist das größte unternehmerische Risiko der Kreditinstitute, insbesondere im Fall der Kumulierung von Großengagements auf wenige Kreditnehmer sowie im Fall einseitiger Risikostrukturen, vgl. R. Fischer in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechtshandbuch, § 130 Rn. 1.
[4]
Dies belegen verschiedene historische Beispiele, etwa die Bankenkrise 1931, die zur Einführung eines staatlichen Bankaufsichtsrechts auf dem Gebiet des damaligen Deutschen Reichs durch Gesetz aus dem Jahr 1934 (RGBl. I, S. 1203 ff.) führte (zum Zusammenbruch der „Darmstädter und Nationalbank“ Ende Juli 1931 ausführlich R. Fischer, in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechtshandbuch, § 125 Rn. 27; ders. in: Boos/Fischer/Schulte-Mattler, Einf KWG Rn. 4; vgl. auch Claussen Bank- und Börsenrecht, § 1 Rn. 102, 105; ebenso BT-Drucks. III, 2563, 2, sog. „Ruland-Bericht“). Der Zusammenbruch einzelner Banken hatte bereits im Jahr 1923 zu panikartigen Reaktionen der Bankkunden, dem sog. „run auf die Bankschalter“, geführt. Ursache war ein allgemeiner Vertrauensverlust der Bankkundschaft auch in die wirtschaftliche Konstitution solcher Kreditinstitute, denen eine wirtschaftliche Krise nicht drohte. In der weiteren Folge gerieten durch diese Entwicklung ebenfalls wirtschaftlich „gesunde“ Kreditinstitute in die Krise, was schwerwiegende volkswirtschaftliche Verwerfungen bewirkte.
Teil 2 Bankgeschäft und Insolvenz – zivil- und insolvenzrechtliche Grundlagen, wirtschaftliche Zusammenhänge › A. Kreditgeschäft der Banken und Gründe der Insolvenz
A. Kreditgeschäft der Banken und Gründe der Insolvenz
8
Geschäftsbanken[1] besitzen eine volkswirtschaftlich exponierte „Schlüsselstellung“[2] als Finanzintermediäre des Kapitalanlage- und Kapitalnachfragebedarfs.[3] Auch mikroökonomisch erlangt gerade das Kreditgeschäft der Banken eine herausgehobene betriebswirtschaftliche Bedeutung für Unternehmen bereits in wirtschaftlich „gesunder“ Zeit. Kreditinstitute stellen Geschäftskunden gegen Entgelt und Sicherheit Kredit (Liquidität) zur Verfügung, um Investition und Produktion – d.h. unternehmerische Tätigkeit – zu ermöglichen.[4]
9
Die Motive zur Konkursordnung[5] enthalten die prägnante Wertung: „Wo es keinen Kredit gibt, da ist überhaupt ein Konkurs kaum denkbar“.[6] Kurz Levy: „Die Quelle aller Konkurse ist der Kredit“.[7] Schon frühzeitig wurde also auf eine enge wirtschaftliche Verknüpfung zwischen Kredit (Kreditgeschäft der Banken) und dem Eintritt wirtschaftlicher Krisen in Gestalt eines Konkurses (einer Insolvenz) im wirtschaftlichen wie im rechtlichen Sinn hingewiesen. Dieser Zusammenhang sowie die Bedeutung der Kreditentscheidung der Bankverantwortlichen für die weitere Entwicklung einer ökonomischen Krisensituation sind zu untersuchen. Für die anschließende Beurteilung insolvenzstrafrechtlicher Risiken sind dabei vor allem die Auswirkungen der Entscheidung von Interesse, auf eine vorzeitige Darlehensrückführung in der Krise des Bankkunden hinzuwirken.
Teil 2 Bankgeschäft und Insolvenz – zivil- und insolvenzrechtliche Grundlagen, wirtschaftliche Zusammenhänge › A › I. Wirtschaftliche Krise des Bankkunden
I. Wirtschaftliche Krise des Bankkunden
10
Die wirtschaftswissenschaftliche Beurteilung der betriebswirtschaftlichen Situation eines Unternehmens als „ökonomische Krise“ ist von der Rechtsfrage abzugrenzen, ob zugleich bereits die Voraussetzungen eines Insolvenzgrundes i.S. der §§ 16 ff. InsO verwirklicht sind. Eine einheitliche rechtliche Definition der Voraussetzungen einer Unternehmenskrise existiert nicht.[8] Der Begriff „Krise“ im ökonomischen Sinn wurde vom Gesetzgeber vormals etwa in Zusammenhang mit den Bestimmungen über eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen im Kontext der GmbH behandelt.[9] § 32a Abs. 1 GmbHG a.F. enthielt eine Legaldefinition des Merkmals „Krise der Gesellschaft“. Eine Krise lag danach vor, wenn „ihr [scil. der GmbH] die Gesellschafter als ordentliche Kaufleute Eigenkapital zugeführt hätten“.[10]
11
Auf einer hohen Abstraktionsebene wird Krise als „in der Regel unerwartet eintretende Störung eines Systems“ bezeichnet, „die den Fortbestand des Systems bei ausbleibenden Korrekturmaßnahmen oder deren Misslingen bedroht“.[11] Bezogen auf die Beurteilung der ökonomischen Situation von Unternehmen wird der Beginn einer wirtschaftlichen Krise bereits in demjenigen Zeitpunkt angesiedelt, in dem „es der Unternehmensleitung nicht mehr gelingt, durch geeignete Entscheidungen im Investitions- oder Finanzbereich den Unternehmensgesamtwert zu steigern oder auf dem einmal erreichten Niveau zu halten“.[12] Schon unter diesen Umständen bestehe die Gefahr, dass sich die wirtschaftliche Konstitution des betroffenen Unternehmens ohne Hilfe „von Außen“, d.h. ohne wirtschaftliche Unterstützung durch Dritte,[13] stetig verschlechtere, so dass das Unternehmen schließlich in eine Lage gerate, nicht sämtliche Forderungen von Unternehmensgläubigern (der Finanzplanung entsprechend) zum Zeitpunkt der Fälligkeit vollständig erfüllen zu können.[14] Dies sei etwa der Fall, wenn das Unternehmen in einen Liquiditätsengpass gerate oder mit Verlust arbeite, sich aber „aus eigener Kraft“ nicht aus dieser Lage zu befreien vermag.[15] Dieser Zustand wird terminologisch ebenfalls mit den Schlagworten „Insolvenzreife“ bzw. „Sanierungsbedürftigkeit“ umschrieben.[16] Darüber hinaus finden sich im Schrifttum weitere uneinheitliche Bezeichnungen ökonomischer Krisensituationen, wonach Unternehmen als „krisen- oder insolvenzgefährdet“ bzw. als „kreditunwürdig“ eingestuft werden.[17]
Teil 2 Bankgeschäft und Insolvenz – zivil- und insolvenzrechtliche Grundlagen, wirtschaftliche Zusammenhänge › A › II. Insolvenzrechtliche Krisenbegriffe
1. Ziel des Insolvenzverfahrens – Konsequenzen für Bank und Bankkunden
12
Das Insolvenzverfahren bezweckt eine gemeinschaftliche, grundsätzlich gleichmäßige Befriedigung der Forderungen sämtlicher Insolvenzgläubiger aus dem Vermögen des Schuldners (par condicio creditorum).[18] Eröffnung und Durchführung eines Insolvenzverfahrens führen zu erheblichen Einschnitten in Rechtspositionen des betroffenen Gemeinschuldners, ebenfalls, in freilich milderer Form, auf Seiten der Gläubigerschaft.[19] Daneben sind auch die gravierenden wirtschaftlichen Auswirkungen auf Seiten des Schuldners, nicht selten allerdings auch für einzelne Gläubiger, bei der Auslegung der Tatbestände, die eine Insolvenzverfahrenseröffnung rechtfertigen, zu bedenken.
13
Primärer Verfahrenszweck ist es, häufig durch die Liquidation des Schuldnervermögens und die anschließende Verteilung der Verwertungserlöse,[20] eine auskömmliche Befriedigung der Insolvenzforderungen zu erreichen.[21] Daneben ermöglicht § 1 S. 1 InsO ebenfalls, „abweichende Regelungen insbesondere zum Erhalt des Unternehmens“ in einem Insolvenzplan zu treffen. Die Durchführung von Sanierungsmaßnahmen (ggf. in Form einer übertragenden Sanierung) tritt als eigenständige Alternative neben die Liquidation des Schuldnervermögens, um die Insolvenzforderungen der Gläubigerschaft möglichst weitgehend auszugleichen. Sanierung und Reorganisation begründen allerdings in Relation zu dem primären Verfahrensziel nach im Schrifttum überwiegender Auffassung keinen gleichrangigen Verfahrenszweck.[22] Eine Sanierung des Schuldnerunternehmens wird vielmehr zutreffend als nur untergeordnetes, „nachrangiges“ bzw. „partielles“ Ziel des Insolvenzverfahrens charakterisiert.[23]
14
Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und über dieses zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO).[24] Das Insolvenzverfahren führt überdies zur Offenbarung der Vermögensverhältnisse des Schuldners in öffentlichen Registern (vgl. §§ 26 Abs. 2, 30 bis 33 InsO).[25] Das Insolvenzrecht bewirkt damit erhebliche Eingriffe insbesondere in die grundrechtlich geschützten Positionen des Insolvenzschuldners, namentlich in das Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG), in die Berufsausübungs- und Handlungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG) sowie in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG).[26]
15
Das Insolvenzverfahren begründet allerdings ebenfalls negative Rechtsfolgen, zugleich ökonomische Nachteile, für einzelne Insolvenzgläubiger. Das Gesamtvollstreckungsverfahren verdrängt die Einzelzwangsvollstreckung.[27] Maßnahmen der Einzelzwangsvollstreckung durch Gläubiger werden unzulässig (§ 89 InsO). Der Prioritätsgrundsatz (§ 804 Abs. 3 ZPO)[28] entfällt.[29] Rechtsausübung und Rechtsdurchsetzung werden auf Gläubigerseite auch verfahrensrechtlich „kollektiviert“.[30] Die Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) können ihre Forderungen nur entsprechend der Vorgaben des Insolvenzrechts verfolgen (§ 87 InsO). Insolvenzforderungen werden im Ergebnis tatsächlich häufig nur zu einem geringen Anteil quotenmäßig befriedigt. Die Gesamtgläubigerschaft bildet in diesen Fällen zugleich eine proportionale Verlustgemeinschaft.[31] Dementsprechend geraten immer wieder Unternehmen, die mit dem Gemeinschuldner, etwa als Lieferanten, wirtschaftlich verbunden waren, selbst in Insolvenzgefahr, weil sie ihre Forderungen nicht, oder nur zu einem Bruchteil realisieren können (sog. Dominoeffekt).[32] Nicht selten allerdings sind die Forderungen einzelner Gläubiger durch „insolvenzfeste“ Sicherheiten geschützt.[33] Eben dies ist gerade in der Praxis des Kreditgeschäfts der Banken durch die Bestellung geeigneter Kreditsicherheiten häufig gewährleistet.[34]
16
Die Kollision der grundrechtlich geschützten Rechtspositionen von Schuldner und Gläubigerschaft ist im Wege „praktischer Konkordanz“ in Ausgleich zu bringen.[35] Zugleich erfordern die exemplarisch dargestellten, erheblichen Rechtsfolgen ebenfalls eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Allein der Eintritt einer Unternehmenskrise in dem oben dargestellten betriebswirtschaftlichen Sinn genügt dementsprechend nicht, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens (als Gesamtvollstreckungsverfahren) zu begründen oder eine Insolvenzantragspflicht i. S. des § 15a InsO auszulösen.[36] Erforderlich ist, dass Umfang und Intensität der wirtschaftlichen Krise eine Qualität erreichen, die den Übergang in ein Gesamtvollstreckungsverfahren rechtfertigen. Die rechtlichen Voraussetzungen sind in den „Eröffnungsgründen“ (§§ 17 bis 19 InsO) im Einzelnen und enumerativ normiert.[37]
2. Zahlungsunfähigkeit
17
Zahlungsunfähigkeit (§ 17 Abs. 1 InsO) ist allgemeiner Eröffnungsgrund. Der Eröffnungstatbestand gilt ohne Einschränkung in sachlicher und persönlicher Hinsicht, ebenso unabhängig von der Person des Antragstellers.[38] Zahlungsunfähigkeit liegt vor, wenn der Schuldner „nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen“ (§ 17 Abs. 2 S. 1 InsO). Die Legaldefinition knüpft ausschließlich an objektiven Tatbestandsvoraussetzungen an. Dementsprechend schließt ein bestehender Zahlungswille des Schuldners als subjektives Element Zahlungsunfähigkeit nicht aus.[39] Umgekehrt begründet bloße Zahlungsunwilligkeit keine Zahlungsunfähigkeit. Nicht selten versuchen objektiv zahlungsunfähige Schuldner allerdings durch die Behauptung nur zahlungsunwillig zu sein, eine tatsächlich bestehende Zahlungsunfähigkeit gegenüber Dritten zu verschleiern, um die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens und die damit verbundenen negativen Auswirkungen zu vermeiden.[40]
a) Insolvenzrechtlicher Fälligkeitsbegriff
18
Fälligkeit i.S. von § 271 BGB benennt den Zeitpunkt, ab dem ein Gläubiger berechtigt ist, die geschuldete Leistung zu fordern.[41] Ein Zahlungsverzug des Schuldners (§ 286 Abs. 1 BGB) ist nicht erforderlich.[42] Zu berücksichtigen sind ausschließlich Zahlungs-, d.h. Geldverbindlichkeiten.[43] Fälligkeit kann durch rechtsgeschäftliche Vereinbarung (Stundung)[44] beseitigt, d.h. vorübergehend „hinausgeschoben“ werden. Die Stundungsabrede kann konkludent erfolgen.[45]
19
Die Rechtsprechung in Zivilsachen hält allerdings – anders als das überwiegende Schrifttum[46] – auch nach Inkrafttreten der Insolvenzordnung (zum 1.1.1999)[47] weiter daran fest, dass Fälligkeit im Regelungszusammenhang des Insolvenzrechts (§ 17 Abs. 2 S. 1 InsO) ein „ernsthaftes Einfordern“ der Forderung durch den Gläubiger voraussetzt.[48] Dieses Kriterium ist bereits im Zusammenhang mit der Konkursordnung[49] entwickelt worden.[50] Es genüge hierzu, so der BGH in Zivilsachen, „wenn eine Gläubigerhandlung feststeht, aus der sich der Wille, vom Schuldner Erfüllung zu verlangen, im Allgemeinen ergibt“.[51] Zwar enthalte der Wortlaut von § 17 InsO keinen Hinweis auf dieses Erfordernis.[52] Dennoch rechtfertige und erfordere der abweichende Telos des (allgemeinen) Zivilrechts, namentlich von § 271 BGB einerseits und des Eröffnungsgrunds der Zahlungsunfähigkeit andererseits, eine abweichende Bestimmung dieses Merkmals.[53] Insolvenzrechtlich sei maßgeblich, ob die wirtschaftliche Situation des Schuldners bereits erfordere, von der Einzelzwangsvollstreckung in das Gesamtvollstreckungsverfahren überzugehen, mit dem Ziel, das Vermögen des Schuldners im Rahmen eines geordneten Verfahrens gleichmäßig unter den Gläubigern zu verteilen und einen weiteren „Wettlauf der Gläubiger“ (Prioritätsprinzip) zu vermeiden.[54] Während Fälligkeit i.S. von § 271 BGB vor allem für die Frage des Schuldnerverzugs, für die Erhebung der Leistungsklage sowie für den Verjährungsbeginn Relevanz besitze,[55] sei die insolvenzrechtlich entscheidende Fragestellung, ob das Vermögen des Schuldners ausreiche, sämtliche Gläubiger zu befriedigen. Für die letztgenannte Problematik sei jedoch über den Umstand hinaus, dass ein Gläubiger Zahlung verlangen kann, ebenfalls von Bedeutung, ob die Leistung auch tatsächlich eingefordert werde.[56] Von Fälligkeit allgemeiner zivilrechtlicher Provenienz (§ 271 BGB) dürfe deshalb nicht schematisch auf eine Zahlungsunfähigkeit i.S.d. § 17 InsO geschlossen werden.[57] Es gilt danach ein erweiterter insolvenzrechtlicher Fälligkeitsbegriff. Für ein „ernsthaftes Einfordern“ genügt regelmäßig bereits die Übersendung einer Rechnung.[58] Eine wiederholte Zahlungsaufforderung ist dagegen nicht erforderlich.[59] Das „ernsthafte Einfordern“ besitzt im Unterschied zur Stundungsabrede die Rechtsnatur eines bloßen Realakts.[60] Die im Einzelfall schwierige Abgrenzung zwischen einem unterlassenen Einfordern ohne Rechtsbindungswillen (Realakt) und einer konkludenten Stundungsvereinbarung (Rechtsgeschäft) ist Frage der Auslegung.[61]
b) Zeitraum und Wesentlichkeit der Liquiditätslücke
20
Vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung wurden als weitere Voraussetzungen der Zahlungsunfähigkeit benannt, dass der Schuldner dauerhaft außer Stande geraten ist, fällige Forderungen zu einem wesentlichen Teil zu erfüllen.[62] Auf eine Übernahme der Merkmale „Dauerhaftigkeit“ und „Wesentlichkeit“ der Liquiditätslücke in die Legaldefinition des § 17 Abs. 2 S. 1 InsO wurde allerdings aus Gründen der Rechtsklarheit verzichtet.[63] Der Gesetzgeber hat den Anwendungsbereich dieses Eröffnungsgrunds insoweit bewusst weiter gefasst.[64] Ziel war, hierdurch eine frühzeitige („rechtzeitige“) Verfahrenseröffnung (vor allem zur Verbesserung möglicher Sanierungschancen) nicht zu gefährden.[65] Nach „alter“ Rechtslage war dementgegen rechtstatsächlich häufig erst eine Zahlungseinstellung (§ 17 Abs. 2 S. 2 InsO) eigentlicher „Verfahrensauslöser“.[66]