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Das in den Gesetzeswortlaut nicht übernommene Merkmal der „Dauerhaftigkeit“ betrifft die Abgrenzung von Zahlungsunfähigkeit zu einer, zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht ausreichenden, nur vorübergehenden Zahlungsstockung.[67] Die Rechtsprechung zur Konkursordnung zog noch eine zeitliche Grenze der Illiquidität von ungefähr einem Monat,[68] teilweise auch deutlich darüber hinaus.[69] Nach aktueller Rechtslage ist dagegen maßgeblich, ob sich die Geldilliquidität voraussichtlich „innerhalb kurzer Zeit“ beheben lässt.[70] Nach der Rechtsprechung des BGH in Zivilsachen sei dabei eine Frist von einer bis höchstens drei Wochen ausreichend, um die zum Ausgleich sämtlicher fälliger Verbindlichkeiten erforderlichen liquiden Mittel ggf. durch Kredit zu beschaffen.[71] Zwar begründen nach Auffassung des Gesetzgebers kurzfristige Zahlungsstockungen eine Zahlungsunfähigkeit auch weiterhin nicht.[72] Dagegen sollte jedoch ausdrücklich vermieden werden, dass Zeiträume von mehreren Monaten noch unter bloße Zahlungsstockungen subsumiert werden können.[73] Diesem Umstand trägt die Rechtsprechung in Zivilsachen nunmehr also Rechnung.[74]
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Der Gesetzgeber ist ebenfalls davon ausgegangen, allerdings ohne das Merkmal der „Wesentlichkeit“ in den Gesetzestext aufzunehmen, dass nur „ganz geringfügige Liquiditätslücken außer Betracht bleiben müssen“.[75] Zuvor wurden Liquiditätslücken von bis zu 25 %[76] durchaus noch als „nicht wesentlich“ deklariert.[77] Die aktuelle insolvenzrechtliche Rechtsprechung verfährt nunmehr im Rahmen des § 17 InsO auch insoweit restriktiver. „Beträgt die Liquiditätslücke des Schuldners 10 % oder mehr, ist regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit auszugehen, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist“.[78] Die 10 %-Grenze ist damit kein „starrer Wert“, sondern begründet insolvenzrechtlich nur eine widerlegbare Vermutung.[79] Liegt die Liquiditätslücke oberhalb dieses „Schwellenwerts“, ist dennoch nur von einer Zahlungsstockung auszugehen, sofern besondere Umstände festgestellt werden können, die mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine zeitnahe, (nahezu) vollständige Reduzierung der fehlenden Liquidität sprechen. Umgekehrt liegt Zahlungsunfähigkeit auch bei einem Liquiditätsdefizit unterhalb dieser Grenze vor, wenn bereits absehbar ist, dass deren Umfang demnächst den „10 % – Richtwert“ erreichen bzw. überschreiten wird.[80]
c) Feststellung von Zahlungsunfähigkeit
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Ausgangspunkt der Ermittlung von Zahlungsunfähigkeit ist die stichtagsbezogene Feststellung der bestehenden Liquiditätslücke durch eine Liquiditätsbilanz.[81] Maßgeblich ist der Zeitpunkt der Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens.[82] Die Abgrenzung von einer nur vorübergehenden Zahlungsstockung erfordert in einem weiteren Schritt eine zeitraumbezogene (Liquiditäts-)Prognose.[83] Entscheidend ist, wie gesehen, eine dreiwöchige Zeitspanne. Sämtliche in dem Prognosezeitraum „fällig werdende“ Zahlungspflichten sowie mit Sicherheit zu erwartende Zahlungseingänge sind zu ermitteln und gegenüberzustellen.[84] Zu den berücksichtigungsfähigen Zahlungseingängen gehören nicht nur Forderungen des Unternehmens, etwa gegenüber Kunden bzw. Geschäftspartnern, sondern ebenfalls erwartete Zahlungen aus gewährten oder erweiterten Krediten sowie Erlöse aus der Veräußerung von Vermögensgegenständen, sofern sie innerhalb der „Dreiwochenfrist“ realisierbar sind.[85] Die Feststellung des exakten Zeitpunkts, in dem Zahlungsunfähigkeit eintritt, ist für Dritte, namentlich für Gläubiger ohne ausreichenden Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse des betroffenen Unternehmens, häufig schwierig.[86] Gläubiger haben regelmäßig nur Kenntnis von der eigenen (offenen) Forderung gegenüber dem Kunden und den Problemen, diese beizutreiben. Dieser Umstand beinhaltet allenfalls ein Indiz für Zahlungsunfähigkeit. Weitergehende Kenntnisse, die darüber hinaus einen Rückschluss auf die Liquiditätslage des Unternehmens insgesamt zulassen, besitzen Unternehmensgläubiger nur selten. Es bedarf rechtstatsächlich regelmäßig eines Sachverständigengutachtens, um die Voraussetzungen einer Zahlungsunfähigkeit durch eine Liquiditätsanalyse zu belegen.[87]
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Die Feststellung der Zahlungsunfähigkeit kann allerdings ebenfalls auf der Grundlage von Indizien, d.h. äußerer Beweisanzeichen, erfolgen.[88] Insoweit „indiziellen Charakter“ besitzen etwa die Schließung des Geschäftslokals, die Inanspruchnahme von Zahlungszielen, die Häufung von Pfändungen und Wechselprotesten, das Nichtabführen von Steuern[89] bzw. Sozialabgaben,[90] die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung, (Teil-)Zahlungsrückstände oder häufig verspätete Zahlungen.[91] Indizien für eine Zahlungsunfähigkeit begründen nicht selten Erklärungen des Schuldners selbst, etwa die Mitteilung gegenüber einem Gläubiger, eine fällige Forderung nicht ausgleichen zu können, regelmäßig verbunden mit einer Stundungsbitte (Zahlungsaufschub).[92] In Einzelfällen übermitteln betroffene Unternehmer zum Nachweis freiwillig oder nach Aufforderung eine Liquiditätsübersicht an den Gläubiger, aus der sich dessen Zahlungsunfähigkeit ergibt, um die Stundungsbitte zu belegen.[93] Können die Voraussetzungen der Zahlungsunfähigkeit auf der Grundlage „kriminalistischer Beweisanzeichen“ festgestellt werden, bedarf es der Erstellung einer Liquiditätsbilanz nicht mehr.[94]
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Darüber hinaus ist nach der (widerleglichen) Vermutung[95] des § 17 Abs. 2 S. 2 InsO „Zahlungsunfähigkeit in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat“. „Zahlungseinstellung“ beinhaltet allerdings mehr als eine bloße Nichtzahlung.[96] Anknüpfungspunkt der gesetzlichen Vermutung ist das nach Außen erkennbare Verhalten des Schuldners,[97] aus dem sich für die beteiligten Verkehrskreise der berechtigte Eindruck aufdrängt,[98] dass der Schuldner nicht mehr in der Lage ist, seine fälligen Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen.[99] Die tatsächliche Nichtzahlung eines erheblichen Teils der fälligen Verbindlichkeiten genügt.[100] Die Zahlungseinstellung kann nur durch allgemeine Wiederaufnahme der Zahlungen beseitigt werden.[101]
3. Drohende Zahlungsunfähigkeit
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Der besondere Eröffnungstatbestand drohender Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) setzt einen Eigenantrag des Schuldners voraus (sog. „Innenlösung“).[102] Der Schuldner droht in Zahlungsunfähigkeit zu geraten, „wenn er voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, die bestehenden Zahlungspflichten im Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen“ (§ 18 Abs. 2 InsO).[103] Der Begriff drohender Zahlungsunfähigkeit mag ursprünglich dem Insolvenzstrafrecht entstammen,[104] besitzt im insolvenzrechtlichen Kontext jedoch eine vom strafrechtlichen Regelungszusammenhang abweichende Funktion.[105] Die Vorstellung des Gesetzgebers bei Inkorporierung dieses Eröffnungsgrunds war,[106] eine frühzeitige Antragstellung zu ermöglichen, sofern sich Zahlungsunfähigkeit deutlich abzeichnet, damit rechtzeitig (verfahrens-)rechtliche und wirtschaftliche „Gegenmaßnahmen“ ergriffen werden können.[107] Gesetzgeberisches Ziel dieser zeitlichen Vorverlagerung einer möglichen Insolvenzantragstellung war also primär, die Chancen für Erhalt und Sanierung von Unternehmen zu erhöhen.[108] Es besteht in diesen Fällen allerdings auch bei Betroffenheit juristischer Personen keine Antragspflicht des Schuldners.[109] Der Schuldner ist danach berechtigt, den „Schutz des Insolvenzverfahrens“ zu beanspruchen, sofern es ihm opportun erscheint.[110]
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Inhaltlich knüpfen die Anforderungen drohender Zahlungsunfähigkeit an den zu § 17 Abs. 2 S. 1 InsO entwickelten Grundsätzen an, fügen jedoch ein zusätzliches prognostisches Element hinzu, da die Zahlungsunfähigkeit nur „drohen“ muss.[111] Im Unterschied zur Prüfung des Eröffnungstatbestands „eingetretener“ Zahlungsunfähigkeit erfolgt deren Feststellung nicht (primär) stichtags-, sondern zeitraumbezogen.[112] Das Tatbestandsmerkmal „voraussichtlich“ (§ 18 Abs. 2 InsO) beschreibt das „Prognoseelement“ in zeitlicher Dimension, zugleich den erforderlichen Wahrscheinlichkeitsgrad. Der Eintritt von Zahlungsunfähigkeit muss danach mit „nahe liegender Wahrscheinlichkeit“ zu erwarten sein.[113] Bei dieser Prognose sind die bestehenden Verbindlichkeiten zu berücksichtigen, gleichgültig ob die Zahlungspflichten bereits fällig sind oder erst später fällig werden.[114] Der Gesetzeswortlaut legt überdies nahe, nur auf „bestehende“ Zahlungspflichten abzustellen, dagegen zum Prognosezeitpunkt rechtlich noch nicht begründete, aber „absehbare“ Verbindlichkeiten von der Prüfung auszunehmen.[115] Eine unbegrenzte Einbeziehung rechtlich (noch) nicht begründeter Verbindlichkeiten beinhalte zudem ein zusätzliches, spekulatives Element, das, zumal bei zeitlich unbegrenzter Berücksichtigung, eine in der Insolvenzrechtspraxis schwer handhabbare Finanzvorschau erfordere.[116] Teile des Schrifttums stellen gleichwohl „zu erwartende“, rechtlich noch nicht begründete Zahlungspflichten in die Liquiditätsprognose ein. Diese seien „nach vernünftiger kaufmännischer Erwägung“ als „voraussichtlich zu bedienende Ausgaben“ ebenfalls zu berücksichtigen.[117]
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Der Eröffnungstatbestand drohender Zahlungsunfähigkeit beinhaltet, wie gezeigt, die Abkehr von einer Stichtagsbetrachtung und erfordert die Feststellung einer Zeitraumilliquidität. § 18 Abs. 2 InsO ist daher die prognostische Unsicherheit zukünftiger Veränderungen der Liquiditätsentwicklung wesensimmanent. Voraussichtlich entstehende Zahlungsverpflichtungen bestimmen wie erwartete Einnahmen, die unstreitig zu berücksichtigen sind, die (künftige) Liquiditätslage des Schuldners. Zudem ist die Differenzierung, ob eine später eintretende Zahlungsverpflichtung im Prognosezeitpunkt bereits rechtlich begründet war oder nicht, zur Beurteilung der Frage, ob das Schuldnervermögen voraussichtlich zukünftig nicht (mehr) ausreichen wird, sämtliche Verbindlichkeiten zu erfüllen, auch wirtschaftlich gesehen, nicht sachgerecht.[118] Dieser Umstand ist ökonomisch nicht relevant. Um im Rahmen der anzustellenden Prognose ein realistisches Bild der Liquiditätsentwicklung zu gewinnen, sind deshalb auch zum Prognosezeitpunkt rechtlich noch nicht begründete, gleichwohl mit überwiegender Wahrscheinlichkeit entstehende („zu erwartende“) Verbindlichkeiten einzubeziehen, die innerhalb des zu berücksichtigenden Prognosezeitraums zur Zahlung fällig werden.[119] Dies betrifft insbesondere zukünftige Verbindlichkeiten, die zur Aufrechterhaltung und Fortführung des Unternehmens nicht verzichtbar sind. Die Restriktion, dass nur zukünftige Zahlungsverpflichtungen zu berücksichtigen sind, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit entstehen werden, beschränkt die Prognoseunsicherheit ausreichend. Die Einbeziehung rechtlich noch nicht begründeter, jedoch „zu erwartender“ Verbindlichkeiten bei der Feststellung drohender Zahlungsunfähigkeit verschafft zudem der Intention des Gesetzgebers Geltung, dem Schuldner durch einen frühzeitigen Eigenantrag zu ermöglichen, Sanierungschancen zu verbessern.
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Der Zeitraumbezug[120] drohender Zahlungsunfähigkeit erfordert eine Eingrenzung des relevanten Prognosezeitraums. Eine zeitlich unbegrenzte Finanzvorschau erscheint kaum praktikabel.[121] Der Gesetzgeber hat den zu betrachtenden Zeitraum nicht ausdrücklich beschränkt. Von Teilen des Schrifttums wird auf das letzte Fälligkeitsdatum einer bestehenden Verbindlichkeit abgestellt.[122] Dieser mögliche Endpunkt des Beurteilungszeitraums genügt aber häufig, vor allem bei Bestehen langfristiger Verbindlichkeiten (insbesondere im Fall von Dauerschuldverhältnissen), nicht, um eine ausreichende Eingrenzung des Prognosezeitraums zu bewirken.[123] Die Betrachtung von Zeiträumen, die eine Vielzahl von Jahren umfassen, ist zudem wegen der kaum kalkulierbaren Prognoseunsicherheit regelmäßig nicht sinnvoll.[124] Vor diesem Hintergrund werden Prognosezeiträume von einigen Monaten bis zu maximal drei Jahren vorgeschlagen.[125] Von Teilen des Schrifttums wird zudem die Auffassung vertreten, dass die Länge des Prognosezeitraums nicht allgemein, d.h. durch eine abstrakte Höchstgrenze, sondern richtigerweise individuell, d.h. in Abhängigkeit des betroffenen Unternehmens und eines für eben jenes noch überschaubaren Zeitraums, zu bestimmen sei.[126] Der Beurteilungszeitraum sollte neben dem laufenden Geschäftsjahr, jedenfalls (sofern möglich) noch das folgende Geschäftsjahr erfassen.[127] In der Praxis erfolgt die Prognose abgesehen von Evidenzfällen auf der Grundlage eines Finanz- bzw. Liquiditätsplans.[128] Hierin werden die bestehenden Zahlungsverpflichtungen sowie die zu erwartenden Einnahmen zusammengefasst und über den Prognosezeitraum hinweg gegenübergestellt.[129] Die Ermittlung drohender Zahlungsunfähigkeit kann ebenfalls anhand kriminalistischer Beweisanzeichen erfolgen.[130]
4. Überschuldung
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Überschuldung (§ 19 InsO) rechtfertigt die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, sofern juristische Personen (bzw. juristischen Personen in § 19 Abs. 3 InsO gleichgestellte Vermögensträger) in eine wirtschaftliche Krise geraten.[131] Hintergrund ist, dass juristische Personen und gleichgestellte Gesellschaften, in denen kein persönlich haftender Gesellschafter eine natürlich Person ist, Dritten grundsätzlich nur mit ihrem Eigenkapital haften. Dieses Haftungskapital ist im Falle bilanzieller Überschuldung, wenn also die Passiva die Aktiva übersteigen, bereits „aufgezehrt“.[132] Der Überschuldungsbegriff ist in § 19 Abs. 2 InsO legaldefiniert. Überschuldung liegt danach vor, „wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich“ (§ 19 Abs. 2 S. 1 InsO).
a) Rechtslage nach dem FMStG
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Die dargstellten – aktuell geltenden – insolvenzrechtlichen Voraussetzungen einer Überschuldung entsprechen inhaltlich der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung in Zivilsachen zur Konkursordnung (vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung zum 1.1.1999).[133] Sie wurden durch das „Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpaketes zur Stabilisierung des Finanzmarktes“ (FMStG) erneut eingeführt.[134] Diese Regelung trat am Tage nach Verkündung des FMStG zum 18.10.2008 in Kraft.[135] Sie war ursprünglich i.S. einer „Interimslösung“ befristet zum 31.12.2010. Der Geltungszeitraum wurde durch das „Gesetz zur Erleichterung der Sanierung von Unternehmen“ (FMStGÄndG) bis zum 31.12.2013 verlängert.[136] Im Anschluss war zunächst vorgesehen, dass zum 1.1.2014 die seit dem 1.1.1999 bis zum 17.10.2008 geltende Fassung[137] des § 19 Abs. 2 InsO erneut in Kraft tritt.[138] Die Befristung ist jedoch durch Art. 18 des „Gesetzes zur Einführung einer Rechtsbehelfsbelehrung im Zivilprozess und zur Änderung anderer Vorschriften“ entfallen.[139] Vor Einführung der Insolvenzordnung zum 1.1.1999 war der Überschuldungsbegriff innerhalb der KO nicht legaldefiniert. Nach § 64 Abs. 1 S. 1 GmbHG a.F.[140] lag Überschuldung vor, wenn das Vermögen der Gesellschaft die Schulden nicht mehr deckte. Hieran knüpft sowohl der ab dem 1.1.1999 eingeführte, als auch der zuvor in Schrifttum und Rechtsprechung entwickelte und aktuell – nunmehr unbefristet – geltende, Überschuldungsbegriff im ersten Prüfungsschritt an (sogleich unten Rn. 32). Unterschiedliche Rechtsfolgen bewirkt dagegen das Vorliegen einer positiven Fortführungsprognose (unten Rn. 33 ff.).
b) Bilanzielle Überschuldung
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Der betriebswirtschaftlich geprägte Terminus „bilanzielle Überschuldung“ ist von den Voraussetzungen des Insolvenzgrundes der Überschuldung (§ 19 Abs. 2 InsO) abzugrenzen. Bilanzielle Überschuldung ist Tatbestandsvoraussetzung des Eröffnungstatbestands sowohl nach aktuell geltender Rechtslage als auch nach der zuvor geltenden Fassung von § 19 InsO. Bilanzielle Überschuldung erfordert, dass die Passiva der Bilanz die Aktiva „übersteigen“.[141] Hierzu ist anhand von Liquidationswerten die rechnerische Überschuldung des Vermögens festzustellen.[142] Zur Beurteilung ist ein „Vergleich des Vermögens, das im Falle einer Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Insolvenzmasse zur Verfügung stände, mit den Verbindlichkeiten, die im Falle der Verfahrenseröffnung gegenüber Insolvenzgläubigern beständen“, durchzuführen.[143] Die Prüfung erfolgt durch die Gegenüberstellung sämtlicher Aktiva und Passiva innerhalb einer speziellen, stichtagsbezogenen Überschuldungsbilanz.[144] Ein unmittelbarer Rückgriff auf eine bestehende Handelsbilanz ist auf Grund der darin berücksichtigten, formalisierten Bewertungsregeln (§§ 346 ff. HGB) ungeeignet.[145] Die Handelsbilanz kann allenfalls wegen der enthaltenen Vermögensübersicht als Ausgangspunkt für die Erarbeitung eines Überschuldungsstatus herangezogen werden.[146] Relevante Aktiva sind alle Vermögenswerte, die im Fall der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwertbare Massebestandteile darstellen.[147] „Stille Reserven“ sind zu berücksichtigen.[148] Als Passiva werden alle Verbindlichkeiten angesetzt, die im Fall einer zeitnahen Insolvenzverfahrenseröffnung Insolvenzforderungen begründen.[149] Erfasst werden Forderungen aus eigenkapitalersetzenden Darlehen,[150] nicht aber Eigenkapital und freie Rücklagen.[151]
c) Positive Fortführungsprognose
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Die Prüfung, ob eine Fortführung des Unternehmens durch den Schuldner selbst oder durch die Veräußerung des Unternehmens „als werbende Einheit“ überwiegend wahrscheinlich ist, gestaltet sich rechtstatsächlich häufig schwierig.[152] Entscheidend ist, ob die Fortführung des Unternehmens wahrscheinlicher ist als dessen Stilllegung.[153] Grundvoraussetzung ist der „Fortführungswille“ des Betroffenen als subjektives Element. Darüber hinaus erfolgt die Prüfung am Maßstab objektiver Kriterien.[154] Danach ist festzustellen, ob die ökonomische Ertrags- und Leistungsfähigkeit eines Unternehmens auf absehbare Zeit gewährleistet ist oder wiederhergestellt werden kann,[155] so dass das Unternehmen künftig „lebensfähig“ ist und (wieder) am Markt agieren kann.[156] Maßgeblich ist, ob sich ein ordentlicher Geschäftsleiter auf der Grundlage einer gewissenhaften, sachkundigen Prüfung aller erkennbaren maßgeblichen Umstände für die Fortführung des Unternehmens entscheiden würde.[157] Hierzu ist ebenfalls eine nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen gefertigte Liquiditätsplanung[158] sowie die Prüfung des konkreten Unternehmenskonzepts erforderlich.[159] Die Ausdehnung des relevanten Prognosezeitraums ist auch in diesem Zusammenhang umstritten. Notwendig ist jedenfalls eine mittelfristige Prognose.[160] Ob der Prognosezeitraum mindestens bis zum Ablauf des nächsten Geschäftsjahres andauern oder darüber hinaus sogar mehr als zwei Jahre[161] betragen sollte, ist im Schrifttum umstritten. Es erscheint auch in diesem Kontext zweifelhaft, ob die Festlegung starrer Mindestprognosezeiträume sinnvoll ist, da ein im Einzelfall zu lang bemessener Zeitraum wiederum die Prognosesicherheit beeinträchtigt. Es wird daher von Teilen des Schrifttums auch insoweit auf einen individuell, in Abhängigkeit des betroffenen Unternehmens zu bemessenden Zeitraum – damit auf eine für den jeweils betroffenen Gemeinschuldner betriebswirtschaftlich noch überschaubare Zeitspanne – abgestellt.[162]
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Die derzeit (und bereits vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung) geltende „Fassung“ des Überschuldungstatbestands und die nach Einführung der Insolvenzordnung zunächst geltende Rechtslage, führen durch eine abweichende gesetzliche Integration der positiven Fortführungsprognose in den Eröffnungstatbestand zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nach der aktuell, nunmehr unbefristet geltenden Rechtslage führt das Vorliegen einer positiven Fortführungsprognose ohne weiteres zum Ausschluss des Insolvenztatbestands (§ 19 Abs. 2 Hs. 2 InsO). Hiernach steht das exekutorische Element (Vermögensvergleich nach Liquidationswerten) gleichwertig neben dem weiteren, prognostischen Element der Fortführungsprognose.[163] Die Voraussetzungen einer Überschuldung liegen daher nur vor, wenn die Finanzkraft des Unternehmens mit überwiegender Wahrscheinlichkeit mittelfristig nicht zur Fortführung des Unternehmens ausreicht, die Fortführungsprognose mithin negativ ausfällt.[164] Diese „zweistufig-modifizierte“ Überschuldungsprüfung wurde bereits vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung durch den BGH in Zivilsachen entwickelt (Dornier-Seaster-Fall).[165]
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Der Gesetzgeber ist dagegen im Anschluss, bei Verabschiedung der Insolvenzordnung von dem durch die insolvenzrechtliche Rechtsprechung entwickelten Grundsatz, Überschuldung sei im Falle einer positiven Fortführungsprognose ausgeschlossen, bewusst abgewichen. In der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 19.4.1994 ist hierzu ausgeführt: „Der Ausschuss weicht damit entschieden von der Auffassung ab, die in der Literatur vordringt und der sich kürzlich auch der Bundesgerichtshof angeschlossen hat (BGHZ 119, 201, 214). Wenn eine positive Prognose stets zu einer Verneinung der Überschuldung führen würde, könnte eine Gesellschaft trotz fehlender persönlicher Haftung weiter wirtschaften, ohne dass ein die Schulden deckendes Kapital zur Verfügung steht. Dies würde sich erheblich zum Nachteil der Gläubiger auswirken, wenn sich die Prognose – wie in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall – als falsch erweist“.[166] Insbesondere aus Gründen des Gläubigerschutzes hat der Gesetzgeber stattdessen eine „einfach-zweistufige“ Prüfung der Überschuldung in § 19 Abs. 2 InsO a.F.[167] übernommen. Danach schließt eine positive Fortführungsprognose diesen Insolvenzeröffnungsgrund nicht per se aus. Sie wirkt aber auf die im ersten Schritt vorgenommene Prüfung bilanzieller Überschuldung in der Weise zurück, dass die Bewertung der Aktiva nicht mehr zu Liquidationswerten, sondern zu Fortführungswerten zu erfolgen hat.[168] Der „going-concern-Wertansatz“ ist regelmäßig höher als die Taxierung der Vermögensgegenstände zu Zerschlagungswerten, die im Rahmen des Insolvenzverfahrens zu erzielen wären.[169] In § 19 Abs. 2 S. 2 InsO a.F. fand sich die Regelung: „Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist“. Bei Ansatz der (höheren) Fortführungswerte konnte daher auch nach diesem Modell Überschuldung im Einzelfall entfallen.[170] Allerdings stehen beide Prüfungselemente hier nicht gleichwertig nebeneinander.[171]
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Der Gesetzgeber hat unter dem Eindruck der „Finanzkrise“ im Herbst 2008 trotz der Bedenken des Rechtsausschusses vor Erlass der Insolvenzordnung auf die „zweistufig-modifizierte“ Feststellung von Überschuldung zunächst als Interimslösung zurückgegriffen.[172] Folge der Finanzkrise seien teilweise erhebliche Wertverluste bei Aktien und Immobilien gewesen, so dass bei Unternehmen, die besonders massiv betroffen seien, diese Wertverluste bilanziell teilweise nicht durch Aktiva ausgeglichen werden könnten. Dies gelte selbst in Fällen, in denen die Aktiva bereits nach geltendem Recht mit „going-concern-Werten“ angesetzt werden dürfen. In der Begründung des Gesetzentwurfs[173] ist ausgeführt: „Der Gesetzentwurf will das ökonomisch völlig unbefriedigende Ergebnis vermeiden, dass auch Unternehmen, bei denen die überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie weiter erfolgreich am Markt operieren können, zwingend ein Insolvenzverfahren zu durchlaufen haben. Deshalb wird mit dem neuen § 19 Abs. 2 InsO wieder an den sog. zweistufigen modifizierten Überschuldungsbegriff angeknüpft, wie er vom Bundesgerichtshof bis zum Inkrafttreten der Insolvenzordnung vertreten wurde (vgl. BGHZ 119, 201, 214). Dieser Überschuldungsbegriff hatte den Vorteil, dass das prognostische Element (Fortführungsprognose) und das exekutorische Element (Bewertung des Schuldnervermögens nach Liquidationswerten) gleichwertig nebeneinander standen […]. Künftig wird es deshalb wieder so sein, dass eine Überschuldung nicht gegeben ist, wenn nach überwiegender Wahrscheinlichkeit die Finanzkraft des Unternehmens mittelfristig zur Fortführung ausreicht.“