- -
- 100%
- +
Zehn Minuten später verließ sie ihn wieder, mitten im ehemaligen Arbeiterbezirk Zizkov, der sich in den letzten Jahren immer mehr zum Künstlerviertel gemausert hatte und – aus der Ferne betrachtet – fast ein wenig so aussah wie Paris.
Langsam ging die junge Frau die Slavíkova-Straße entlang. Vor einer Bar stand ein Pulk junger Menschen mit Getränken. Durch die großen vergitterten Fenster fiel buntes Licht, Musik wummerte. Das »Big Lebowski« war eines von Marlenas Lieblingslokalen, wenn sie in der Stadt war.
Die Schwarzhaarige drängelte sich wortlos vorbei und bog kurz darauf in eine schmale Seitengasse ein. Mit einem Mal war die Schickeria verschwunden und hatte einem dunklen Durchgang Platz gemacht, in dem es nach Urin und Erbrochenem stank. Nach ein paar Metern begann die junge Frau in ihrer Handtasche zu kramen und blieb schließlich vor einer abgeschabten Eingangstür stehen.
»Entschuldigen Sie bitte!«, rief Marlena leise, um sie nicht zu erschrecken.
Die Frau fuhr herum, ein Klappmesser in der Hand. Hastig wich Marlena zurück.
»Hau ab, aber schnell!«, sagte die Verfolgte böse. »Lass mich in Ruhe, šlapka!«
Na, die Nutte bist ja wohl eher du, dachte Marlena, ohne beleidigt zu sein.
»Bitte, ich will Ihnen nichts tun, nur ein paar Fragen stellen! Es wird nicht lange dauern, versprochen!«
Die Augen der jungen Frau blieben misstrauisch. »Dir helfen? Wozu?«
Marlena kam näher. »Ich suche jemanden und habe schon alles probiert. Sie sind meine letzte Hoffnung!«, übertrieb sie.
»Warum ich?« Ihre Neugierde schien geweckt zu sein.
»Bitte, darf ich Sie zu einem Getränk ins ›Big Lebowski‹ einladen? Dann erzähle ich Ihnen alles!«
Die junge Frau verzog das Gesicht. »Ich bin müde. Verzieh dich!« Sie wandte sich ab, machte Anstalten, die verkratzte Tür aufzusperren.
»Ich bin gerne bereit, für Ihre Informationen zu bezahlen!« Marlena hatte mit Widerstand gerechnet und war vorbereitet. Schlagartig hatte sie die Aufmerksamkeit der Schwarzhaarigen wieder.
»Bezahlen? Wie viel?«
»500 Kronen und das Getränk!«
Jetzt kam das Verhandlungsgeschick der jungen Frau durch.
»1500!«
»Tausend. Keine Krone mehr!«
Die dunklen Augen der Frau blitzten auf. Ein netter Extrahappen nach dem langen Tag. »Also gut, gehen wir, aber nur kurz.«
15 Minuten später stand Marlena wieder auf der Straße und ließ das Gespräch Revue passieren.
Sie hatten sich an einen Ecktisch gequetscht. Tereza, so der Name der Prostituierten, hatte Marlena sofort wiedererkannt, aber nur die Schultern gezuckt und müde an ihrem Bier genippt, woraufhin Marlena mit der Tür ins Haus gefallen war. »Dir sagt doch der Name Jana Jelinek etwas, oder?«
»Jana? Aber die ist doch schon seit Jahren tot! Bist du von der Polizei?«
»Blödsinn, ich arbeite privat! Aber ihr wart sozusagen Kolleginnen im selben Hotel, und ich hoffe, du weißt, ob sie Verwandte hatte. Es geht um ein Erbe.«
Tereza hatte mit einem Schnauben reagiert. »Ich kannte sie wirklich nicht sehr gut. Sie hat, so wie ich, allein angeschafft. Keine Zuhälter. Wir bestechen die Leute am Empfang und sie lassen die Bullen außen vor. Ist sicherer als auf der Straße und die Kunden sind besser. Mittlerweile habe ich viele, die immer wiederkommen.«
Es gab unter Garantie genügend Geschäftsreisende und Touristen, die auf diesen Typ standen: klein, jung, üppig, professionell, mit großem Busen, gefärbten Haaren, aufgeklebten Fingernägeln und dichten Wimpern.
»Hattest du Zweifel, dass es ein Unfall war?«
»Nein, gar nicht. Unfall mit Todesfolge, hieß es.«
»Weißt du denn jetzt, ob Jana Familie hatte?«
»Ja, eine Schwester, ganz sicher«, war genau die Antwort gekommen, auf die Marlena gehofft hatte. »Jelena hieß sie, glaube ich. Die stammten alle aus der Gegend um Krumau. Von dort ist Jana aber weg. Keine Ahnung, wo sie hier in Prag gelebt hat und ob die Schwester noch dort ist. Du wirst wohl hinfahren müssen. Ach ja, ich glaube, sie ist Krankenschwester, wenn dir das hilft!«
Danach war Tereza aufgesprungen. »Genug jetzt, ich verschwinde. Die Nachbarin kann nicht länger auf meine kleine Tochter aufpassen und ich muss für meinen Schulabschluss lernen, damit es bald besser wird!« Die Hoffnung hinter diesen Sätzen war nicht zu überhören gewesen.
Seufzend hatte Marlena ihr das Geld in die Hand gedrückt und die Rechnung bezahlt.
Krumau, das tschechische Česky Krumlov, lag etwa 25 Kilometer nördlich der österreichischen Grenze in Südböhmen an einer Flussschleife. Wegen seiner Lage trug es den Beinamen »Venedig an der Moldau«. Die malerische Altstadt beherbergte viele Lokale und Galerien und über allem prangte das mächtige Schloss, das angeblich genau 365 Räume besaß und UNESCO Weltkulturerbe war.
Marlena kam am späten Vormittag an. Seltsamerweise war sie in ihrem Leben schon in Australien, Bolivien oder Kambodscha gewesen, aber noch nie hier. Sofort war sie bezaubert vom Charme der alten Häuser und Gassen. Sie ließ ihr Auto auf einem der großen Parkplätze stehen, denn sie wollte die Gelegenheit nutzen, die Stadt zu Fuß zu erkunden.
Soeben war sie auf den Hauptplatz, den Námestí Svornosti, eingebogen und hielt erstaunt inne. Sie stand vor einer Flut grellbunter Yogamatten, auf denen sich Dutzende Menschen verrenkten. Japanische Touristen fotografierten in hellem Entzücken jede Pose, während einige rotwangige Schirmkäppi-Träger in kurzen Hosen mit Bier auf die Show anstießen. Der Anblick war so bizarr, dass ihr ein »Das gibt’s doch nicht!« entfuhr.
»Diese Vollidioten!«, lamentierte ein verbraucht wirkender Tscheche, der vor einem Laden mit alten Blechschildern stand und fassungslos den Kopf schüttelte. »Wir verkommen immer mehr zu einem Irrenhaus. Die UNESCO schützt die Gebäude, aber wer schützt uns?«
Marlena sah sich um und musterte die bunte Ansammlung von Souvenirläden, Bierlokalen und Menschenmassen. Sie hatte sich auf der Fahrt schlaugemacht und ungläubig gelesen, dass fast zwei Millionen Touristen aus aller Welt jährlich über die knapp 13.000 Einwohner herfielen, was pro Kopf mehr war, als zum Beispiel Venedig ertragen musste.
Auf einer pinken Yogamatte streckte gerade eine grauhaarige Mittsechzigerin wenig elegant ihren Popo in die Höhe. Der Mann im Hauseingang verzog angewidert das Gesicht und wetterte weiter. »Das sind doch keine Touristen, das sind Terroristen! Wir sind noch mehr am Arsch als diese blöde Kuh da!«
Marlena hoffte grinsend, dass die Dame kein Tschechisch verstand.
Die Lust auf Sightseeing war ihr gründlich vergangen. Rasch öffnete sie eine App und suchte sich den Weg zum Krankenhaus.
Die Poliklinik lag nahe dem Stadtzentrum, ein mehrgeschossiger Zweckbau in Grau, Grün und Gelb. »Du wirst wohl nie Kulturerbe«, murmelte Marlena bei dessen Anblick und betrat das Foyer. Zu ihrem Glück war das Spital nicht besonders groß.
Sie schob einen riesigen Blumenstrauß vor sich her, den sie auf dem Weg billig an einer Tankstelle erstanden hatte, und wandte sich zur Information. Dahinter thronte ein glatzköpfiger Portier mit Schnauzbart und sah ihr freundlich entgegen.
»Guten Tag! Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich Schwester Jelena finde. Ich meine Jelena Jelinek. Ich muss mich unbedingt bei ihr bedanken!«
Ein unergründlicher Blick aus wachen Augen traf sie. »Und wie kann ich Ihnen bei diesem zweifelsohne löblichen Vorhaben helfen?«
Marlena zögerte, unsicher, wie sie den Mann einschätzen sollte. Dann fuhr sie gespielt schüchtern fort. »Wissen Sie, meine Oma ist kürzlich verstorben. Aber sie war oft hier in Behandlung und hat mir immer von Schwester Jelena erzählt, wie dankbar sie ihrem ›Engel in Schwesterntracht‹ sei.«
Der Portier musterte die vielen Blumen und die traurig wirkende junge Blondine im schwarzen Kleid, sagte aber kein Wort.
»Und jetzt bin ich hier und … nun ja … Könnten Sie mir bitte sagen, auf welcher Station sie arbeitet?«
Wieder ein langer Blick, dann zog er langsam das Telefonverzeichnis zu sich her. »Dann sehen wir mal nach.« Bedächtig grub er sich durch die Zeilen. »Tut mir leid. Ich finde hier keine Krankenschwester dieses Namens.« Etwas an seinem Ton irritierte Marlena. Wollte er ihr etwas mitteilen, ohne zu viel zu sagen?
Sie gab sich naiv und machte große Augen. »Aber sie muss hier sein! Ich habe doch etwas für sie!«
Der Pförtner sah sie mitleidig an und blickte dann kurz nach links und rechts. »Hören Sie, Mädchen, ich darf das eigentlich nicht, aber … eine Schwester Jelena hat mal hier gearbeitet, allerdings tut sie das seit einigen Monaten nicht mehr. Tut mir leid!« In dem kleinen Krankenhaus schien der Mann über alles und jeden Bescheid zu wissen.
»Aber was mache ich denn jetzt?«
Mit hochgezogenen Augenbrauen blätterte der Mann durch das abgenützte Telefonverzeichnis ganz nach hinten, schob es zu ihr hin, tippte mit dem Zeigefinger auf einige Zahlen und wandte sich ab. »Ich muss schnell etwas von dort hinten holen. Wenn Sie mich entschuldigen?« Schnell prägte sich Marlena eine der mit der Hand gekritzelten Nummern ein und schenkte ihm einen dankbaren Blick, den er mit einem winzigen Zucken der Mundwinkel quittierte.
Samt ihren Blumen machte sie sich auf den Weg. Kein Wunder, dass Jelena bislang unauffindbar gewesen war! Doch nun war Marlena auf der richtigen Spur, die allerdings weiter wegführte als gedacht.
6
LILLY
Salzburg
Wer Salzburg besuchte, kam schon rein optisch nicht an der Festung Hohensalzburg und dem Mönchsberg vorbei. Direkt an dessen steil abfallender Klippe prangte das Museum der Moderne, ein verglaster Marmorblock, in dessen Fassade ein Computerprogramm Noten aus Mozarts Don Giovanni eingestanzt hatte. Vor dem Museum – mit spektakulärem Blick über die Stadt – gab es einen beliebten Szenetreff, das M32.
Ich setzte mich an einen der luftigen Tische und genoss die Aussicht.
Noch hatte ich nichts von Ferdl gehört. Nur zu gern hätte ich gewusst, ob seine tschechischen Quellen bereits Erfolg gehabt hatten. Er selbst war in Wien geblieben und machte andere Jobs, während ich hier in Salzburg fröhlich das Mikro schwang. Vielleicht würde ich ihn nachher anrufen. Zugegeben, ich war ungeduldig – und immer noch reichlich beunruhigt.
Doch jetzt gab es anderes zu tun. Gleich würde ich die heurige Buhlschaft treffen, die die Rolle das erste Mal gab und von den Kollegen aus der Kultur dafür hymnisch gelobt wurde. Ich war ein wenig zu früh, also googelte ich den gestrigen Abend, die ersten Kritiken und die bereits online gestellten Fotos.
Und da war er wieder! Der Fotograf eines Szeneportals hatte Mr. Grey abgelichtet. Er lächelte freundlich in die Kamera. Erstmals kam ich in den ungehinderten Genuss seiner strahlend grauen Augen, die perfekt zum akkurat geschnittenen grauen Haar und dem Dreitagebart passten. Ob er bei all der Pracht nachgeholfen hatte? Sie schien mir einfach zu makellos. Seine schlanke Gestalt steckte in einem sichtlich teuren Smoking. Wer bist du bloß, fragte ich mich einmal mehr.
Ich blickte hoch. Und auf geschätzt zwei Meter Distanz in genau dieselben grauen Augen wie auf dem Foto. Für einen Moment war ich völlig neben der Spur.
»Matej! Da bist du ja!«, hörte ich eine rauchige Stimme, ehe die Frau dazu erschien. Nein, eher ein Vamp, wie ich irgendwo gelesen hatte.
Der Mann, der mich soeben desinteressiert gemustert hatte, fuhr herum und bekam einen Kuss auf die Wange. Dann wandte sich dieser weibliche Tornado mir zu. »Sie sind Frau Speltz, nicht wahr? Ich kenne Sie noch von Georg, Gott hab ihn selig. Was für eine Tragödie! Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen!«
Ich wurde an ihre Brust gezogen und sah mit einem Mal rot. Was weniger an meinem Missfallen lag als an der Haarpracht, wilden tizianfarbenen Locken, die ihr vom Kopf abstanden und weit über die Schultern fielen.
Mr. Grey beäugte uns amüsiert und mit verschränkten Armen. Als ich wieder in Freiheit war, wurden wir einander vorgestellt. »Frau Speltz, das ist mein Freund Matej. Wir sind nachher zum Essen verabredet, aber er ist etwas zu früh. Es stört Sie doch nicht, wenn er bei dem Interview anwesend ist, nicht wahr? Wie lange werden wir denn brauchen?«
Wenn es nach mir geht, lange, dachte ich mit einem Seitenblick auf Matej. Meinte sie mein Freund oder einfach nur ein Freund?
»Es freut mich auch, Sie kennenzulernen«, versuchte ich Ordnung in die nächsten Minuten zu bringen. »Eine halbe Stunde müssten Sie uns schon geben!«
In diesem Augenblick kam mein Kamerateam. Ich deutete auf die beiden. »Wenn wir gleich loslegen, sobald alles aufgebaut ist.«
»Matej, es macht dir doch nichts aus, nicht wahr?«
Er schüttelte den Kopf.
Ich musste es wissen.
»Es wäre natürlich schön, wenn wir Ihrem … äh … Lebensgefährten auch ein paar Fragen stellen dürften.«
Ich erntete ein tiefes Lachen. »Matej, mein Lieber, wenn wir nicht aufpassen, landen wir bald verheiratet in der Presse! Nein, nein, Werteste, das lassen wir mal schön. Er bleibt bitte außen vor. Halten wir uns doch einfach an das, was Sie mir haben zukommen lassen.«
Diese Buhlschaft war in der Tat sehr amüsant. Schnell taute sie auf und beantwortete mir am Ende auch die privateren Fragen, die nie von ihrer Agentin abgesegnet worden waren. Alle, bis auf eine: Als wir den Dreh im Kasten hatten, wusste ich immer noch nicht, ob sie und Mr. Grey ein Paar waren.
So war ich keinen Schritt weiter, als ich mich auf dem Weg zum Lift tief im Inneren des Mönchsberges machte, der mich hinunter in die Stadt bringen würde.
7
MARLENA
Am selben Nachmittag
»Ja?«
Ein Flüstern, mehr nicht.
Endlich! Marlena hatte es schon mindestens zehnmal probiert, aber nie hatte sich jemand unter der Festnetznummer gemeldet, die sie sich in der Klinik erschlichen hatte. Kurz war ihr der Gedanke gekommen, sie hätte einen Ziffernsturz produziert oder falsch abgelesen.
»Guten Tag, spreche ich mit Jelena Jelinek?«, fragte sie geradeheraus.
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung dehnte sich.
»Hallo, bitte reden Sie doch mit mir! Mein Name ist Marlena. Ich bin auf der Suche nach Jelena. Können Sie mir helfen?«
Ganz deutlich hörte Marlena jemanden atmen. Dann wieder das leise Flüstern. »Sie suchen Jelena? Und fragen mich?«
Marlena spürte den Groll aus dem Hörer kriechen. »Bitte, ich muss sie unbedingt finden!«
Die nächsten schweren Atemzüge. Und dann: »Wozu? Lassen Sie mich doch mit der zufrieden! Ich weiß nichts.«
Das Freizeichen ertönte.
Aufgelegt.
Eine Stunde lang probierte Marlena es alle fünf Minuten. Nie hob jemand ab.
Hungrig setzte sie sich in ein Lokal am Fluss und bestellte Bier und Gulasch. Am Nebentisch kämpfte eine Touristin mit der Speisekarte, im Bestreben, ein Gericht zu finden, das weder Fleisch noch Zuckerberge enthielt. Viel Glück, dachte Marlena mitleidig.
Sie nahm einen Schluck von ihrem Bier. Versuchte es ein letztes Mal. Wieder ohne Erfolg. Dann hatte sie genug. Sie rief ein elektronisches Telefonbuch auf und startete die Rückwärtssuche, indem sie die Telefonnummer in das entsprechende Feld eingab.
Sekunden später leuchtete eine Adresse auf.
Zufrieden lächelnd lehnte Marlena sich zurück, musterte gierig den Teller, den die Bedienung soeben vor sie hinstellte, und schmiedete einen Plan.
0043 – die Vorwahl für Österreich – hatte sie im Krankenhaus stutzig gemacht. Das Gespräch vorhin hatte sie auf Deutsch geführt und diese Adresse bestätigte es. Sie musste über die Grenze. Wenn auch – laut Google Maps – nur ein paar Meter.
Sie schaffte die knapp 30 Kilometer mit dem Auto in genau 28 Minuten. Der Grenzort hieß Wullowitz. Genau einer der 85 Einwohner interessierte Marlena ganz besonders.
Das Navi dirigierte sie zu einer schmalen, hügeligen Straße, die nach etwa anderthalb Kilometern am Waldrand endete, direkt an einem einsam stehenden kleinen Haus mit steilem Dach, dessen Jalousien geschlossen waren. Der große, sorgsam eingezäunte Garten wucherte üppig und war sehr gepflegt. Auf den ersten Blick erkannte Marlena Tomatenstauden, einige Hochbeete, Bohnenranken, ein Feigenbäumchen und etwas weiter hinten Obstbäume. Neben dem Eingang parkte ein winziges rotes Auto von der Sorte, die man ohne Führerschein fahren durfte.
Marlena war nicht besonders ängstlich, umso mehr, da sie einige verschiedenfarbige Gürtel in Karate und eine Ausbildung zur Personenschützerin besaß. Dennoch konnte ein wenig Vorsicht nicht schaden. Zugunsten der Bewegungsfreiheit hatte sie vorhin das schwarze Trauerkleid vom Krankenhaus gegen einen blauen Trainingsanzug getauscht und sich eine Mütze aufgesetzt.
Langsam stieg sie aus. Das Grundstück wirkte verlassen.
Neben der braunen Eingangstür war eine Klingel ohne Namen angebracht. Sie drückte auf den Knopf, doch es blieb still. Ohne Scheu klopfte sie mehrmals gegen das Holz. Vorsichtshalber hatte sie eine Dose Pfefferspray eingesteckt und tastete unwillkürlich danach, als nach einer gefühlten Ewigkeit schwere Schritte ertönten. Dann wurde die Tür einen Spaltbreit aufgezogen.
Marlena sah sich einem untersetzten Mann in einem sauberen weißen Unterhemd, kurzen Hosen und Plastikhausschuhen gegenüber. Seine wässrigen Augen und die vielen geplatzten Äderchen um die Nase erzählten eine lange Geschichte von Alkoholmissbrauch.
»Was ist?«
Dass Unhöflichkeit ihr gleichgültig war, konnte er nicht wissen. Freundlich legte sie los. »Guten Tag. Mein Name ist Marlena Houdek. Darf ich mich bitte kurz mit Ihnen unterhalten, Herr Jelinek? Ich bin extra aus Wien hierhergekommen.«
Für einen kurzen Moment flackerten seine Augen. Misstrauen mischte sich mit einem Ausdruck von Unwillen. »Kommt nicht infrage. Verschwinden Sie!«
Marlena ging nicht darauf ein. »Bitte! Es ist wirklich wichtig! Sie sind der Einzige, der mir helfen kann. Lassen Sie mich doch nicht so stehen! Ich brauche nur fünf Minuten, dann bin ich weg, versprochen!«
Nach wie vor war der Mann die personifizierte Grobheit. »Sie wissen offenbar, wer ich bin. Trotzdem gibt es nichts, was ich Ihnen sagen könnte.«
Die Unsicherheit hinter den abweisenden Worten war Marlena nicht entgangen. »Es geht um Ihre Tochter. Jelena.«
Seine Miene verschattete sich. »Jelena?«
Unschlüssig zog er die Tür ein wenig weiter auf. Darauf hatte Marlena gewartet. Mit einem erleichterten »Ich danke Ihnen so sehr!« ließ sie ihm keine Chance auf weitere Gegenwehr, drängte ihn zur Seite und fand sich in einem dunklen Flur wieder. An einem Haken hing eine verschlissene Jacke mit dem Logo einer Biermarke, darunter standen zwei Paar klobige, aber saubere Schuhe.
Überrumpeltes Gebrabbel in ihrem Rücken. Zu spät, mein Lieber, dachte sie und überprüfte schnell die Umgebung. Rechts verhängte ein bunter Vorhang mit Plastikperlen den Zugang zu einer Küche. Drei geschlossene Türen gingen vom Gang ab, eine weitere stand offen.
Ihr unfreiwilliger Gastgeber hatte sie inzwischen eingeholt und musterte sie mit verschränkten Armen von oben bis unten. »Sie sind ganz schön frech, Mädchen. Eigentlich müsste ich Sie sofort wieder hinauswerfen. Aber Sie haben einen weiten Weg hinter sich, also hier entlang!«
Zwei Meter weiter fand Marlena sich in einem perfekt zusammengeräumten Wohnzimmer wieder und nahm auf einem grünen Sofa Platz, das mit einer durchsichtigen Plastikfolie abgedeckt war. Die Wohnung wirkte kahl. Der Mann schien keinen Wert auf Bilder, Pflanzen oder Dekoration zu legen. Genauso wenig wie auf Teppiche oder Vorhänge. So hatte sie ungehinderte Aussicht auf rissiges, braunes Linoleum am Boden und vergilbte Wände.
»Also, was ist Sache?« Ein weiterer indifferenter Blick traf Marlena. Ihr Gastgeber blieb stehen und bot ihr auch nichts zu trinken an.
Ohnehin besser. »Nun, wie gesagt, ich bin auf der Suche nach Ihrer Tochter Jelena, Herr Jelinek, und ich hoffe inständig, dass Sie mir weiterhelfen können.«
Der Alte stemmte die Hände in die Hüften. »Was wollen Sie denn von ihr?«
Es war Zeit, ihm die Geschichte aufzutischen, die sie sich auf der Fahrt hierher zusammengeschustert hatte. »Jelena und ich waren Kolleginnen im Krankenhaus in Krumau, hatten oft zusammen Dienst. Vor ein paar Monaten fand ich sie weinend auf der Toilette. Sie meinte: ›Es kann sein, dass ich über kurz oder lang verschwinden muss. Wenn du mich finden willst, geh zu meinem Vater!‹ Sie gab mir Ihre Adresse. Dann bin ich nach Wien gezogen. Dieses Wochenende war ich zum ersten Mal wieder in Krumau und wollte sie besuchen. Doch sie ist verschwunden, niemand weiß, wohin. Jetzt mache ich mir natürlich Gedanken, tue, was sie gesagt hat, und bin bei Ihnen gelandet!«
Ob sie damit punkten konnte? Nur der rasselnde Atem des Alten durchbrach das tiefe Schweigen. Es hörte sich nach einem gravierenden Problem mit der Lunge an. Nicht nur seine Leber war bedient.
»Jelena ist nicht hier!«
Marlena erschrak über die energische Antwort. »Aber geht es ihr gut? Ich bin wirklich besorgt.«
»Müssen Sie nicht!« Es war ihm herausgerutscht. Grantiges Luftschnappen ging in einen massiven Hustenanfall über.
»Sie wissen also, wo sie ist?«, forschte Marlena nach, als er sich wieder beruhigt hatte.
Der alte Mann schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein. Sie hat mich allein gelassen …«
Er brach ab. Bei den letzten Worten hatte seine Stimme gezittert. Vor Marlena stand ein Verzweifelter, dem offenbar vom Leben nicht mehr geblieben war als Alkohol, ein winziges Auto, ein leeres Haus und jede Menge Verbitterung.
»Das tut mir leid«, hörte sie sich sagen.
Sein Blick war verhangen. »Mit meinen Töchtern hatte ich nichts als Pech. Die eine war eine … ach Scheiß drauf. Und die andere ist ohne richtige Erklärung abgehauen. Alles, was ich bekomme, ist hin und wieder eine Postkarte mit: Hallo, Táta, es geht mir gut!«
Marlena horchte auf. »Postkarten?«
Statt einer Antwort deutete der Mann auf einen kleinen Stapel Papier, der auf einer abgenutzten Kommode lag. »Aber was soll’s. Sie hat mich verlassen. Wie ihre verschissene Mutter und ihre Schwester. Zum Teufel mit den Weibern. Haben mich immer nur ausgenutzt. Ich dachte mal, Jelena wäre anders. Alles Schmarrn. Ich bin ihr gleichgültig. Also ist es auch umgekehrt so.«
»Wirklich?«
Er nickte, doch Marlena entging das kleine Zögern nicht. Natürlich hatte er Sehnsucht nach seiner Tochter, war aber wohl zu stolz und verletzt, das zuzugeben.
»Hatte sie vielleicht Freundinnen, irgendjemanden, der mehr wissen könnte?«
Der Alte verneinte. »Der einzige Mensch, mit dem sie sich immer prächtig verstanden hat, war ihre jüngere Schwester. Doch die ist tot und begraben. Und jetzt gehen Sie bitte. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«
Marlena stand auf. »Danke vielmals, Herr Jelinek. Ich werde Sie nicht weiter stören.«
Sein Unterkiefer mahlte. Eine Antwort gab er nicht mehr.
Als Marlena ging, legte sie ihm kurz die Hand auf die Schulter, froh, all der Tristesse entkommen zu können. Sie stieg in ihr Auto und rollte ein paar Hundert Meter, ehe sie rechts ranfuhr.
Nachdenklich musterte sie die zwei Postkarten, die sie beim Hinausgehen vom Stapel geklaut hatte. Sie waren offensichtlich über eine App selbst gestaltet worden. Auf der Vorderseite prangte jeweils ein nichtssagendes Landschaftsbild, einmal ein Wald, auf der zweiten ein See, hinten derselbe computergenerierte Text: »Es geht mir gut, Táta!« Keine Unterschrift. Rechts unten stand die ebenfalls über den Computer erstellte Adresse. Darüber die Briefmarke. Und …
Marlena erstarrte.
Mit einem Mal wurde ihr klar, warum Jelena bislang so schwer zu finden gewesen war. Und dass sie ihrem Vater sehr wohl mitgeteilt hatte, wo sie steckte.
8
LILLY
Wien, ein paar Tage später
Es war so weit.
Ferdl hatte sich gemeldet.
»Das Stierln hat’s gebracht, Lilly! Ich weiß was!«
Wir verabredeten uns am Würstelstand bei der Albertina, mitten im ersten Bezirk. Ferdl hatte dort einen Dreh und wie immer danach Hunger. Als ich kam, kaute er schon vergnügt eine vor Fett triefende Käsekrainer. Weil ich ihn kannte, holte ich ihm gleich noch eine.






