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An und für sich machte es Spaß, aber heute brauchte ich diese vielstündige Aufzeichnung überhaupt nicht. Unkonzentriert und lieblos spulte ich ab, was nötig war. Nicht einmal die Tatsache, dass ich den Kandidaten wählbar fand, half.
Die Dreharbeiten dauerten bis nach 23 Uhr. Als wir endlich fertig waren, beschloss ich hundemüde, bis morgen zu warten. Außerdem wollte ich Jelena ein wenig schmoren lassen. Sie wusste, dass ich sie kontaktieren würde, nicht aber, dass ich plante, unangemeldet bei ihr aufzukreuzen, um das Überraschungsmoment auf meiner Seite zu haben.
Gegen Mitternacht kroch ich ins Bett und schlief tatsächlich auch gleich ein. Mein letzter Gedanke galt dieser merkwürdigen Frau, die sich offenbar versteckt hielt.
Was ich morgen wohl alles zu hören bekommen würde?
Agnes hatte mir eine Adresse im 16. Bezirk aufgeschrieben, in der Roseggergasse in Ottakring. Dabei handelte es sich um ein Mehrparteienhaus aus den 1980er-Jahren, wie es sie in Wien zu Tausenden gab. Es war relativ schmal, wahrscheinlich eine aufgefüllte Baulücke, mit gesichtsloser, glatter Fassade und vielen Fenstern.
Auf ihrem stummen Zettel hatten eine Telefonnummer und diese Adresse gestanden. Mehr nicht. Jelena lebte offenbar inkognito hier.
Etwas verunsichert stand ich vor dem Eingang aus geriffeltem Sicherheitsglas und musterte die Klingelknöpfe mit den kleinen Schildchen daneben. Ich war aufgeregt, denn ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete und ob ich Jelena tatsächlich beichten würde, was ich ihrer Schwester angetan hatte. Es war kurz vor acht Uhr früh und ein Samstag, eine Zeit, zu der sie, wie ich annahm, jedenfalls zu Hause sein dürfte, egal was sie tagsüber so alles trieb.
In diesem Augenblick öffnete sich die Eingangstür und ein Junge mit einem Longboard unterm Arm erschien. Ohne mich zu beachten, schlurfte er mit verschlafenem Gesicht davon. Ehe die Tür wieder ins Schloss fallen konnte, war ich drin und landete in einem nichtssagenden Stiegenhaus samt Lift und jeder Menge Briefkästen. Da ich das richtige Stockwerk nicht kannte, musste ich jede Wohnungstür einzeln abklappern.
Pro Etage gab es jeweils drei. Ich inspizierte ein Namensschild nach dem anderen, aber keines passte. Schließlich gelangte ich unters Dach, wo ein Fenster in den Hinterhof wies und den Flur mit Tageslicht erhellte.
Zwei Türen.
Neben der einen eine leere Schuhablage und ein Schirmständer. Auf der Fußmatte mit der Aufschrift »Die Novaks« ein Fußball ohne Luft.
An der zweiten hing weder ein Schild noch irgendein anderes Indiz, das auf Bewohner hindeutete. Nichts als tristes Grau und sogar noch eine gute alte Klinke. Sicherheitsschlösser hatten es nicht hierhergeschafft, die Zeit schien seit den 1980ern stillzustehen. Türen, Geländer, Lift, alles war abgenutzt und nie erneuert worden.
Ich fasste mir ein Herz und presste den Daumen auf den roten Knopf rechts neben dem Museumsstück. Was konnte mir schon Schlimmeres passieren, als dass ich jemanden aufweckte und mich für die Unannehmlichkeit entschuldigen musste.
Doch es blieb still.
Ich kam mir dumm vor. Entweder war Jelena tatsächlich nicht zu Hause, oder sie stellte sich tot. Verständlich, ich an ihrer Stelle würde ebenfalls den Teufel tun, einer Fremden zu öffnen. Also doch ein Anruf. Ich suchte im Speicher nach der Nummer, wählte und drückte währenddessen probehalber die Klinke hinunter.
Die Tür gab nach.
Verwundert hielt ich inne. Stoppte das Telefonat. Lauschte.
Jetzt wurde eine Entscheidung fällig. Sollte ich mich lieber verziehen oder Hausfriedensbruch begehen, der mir im schlimmsten Fall als Einbruch ausgelegt werden konnte? Peinlich in jedem Fall.
Mein Bauchgefühl siegte.
Vorsichtig betrat ich den Flur. Mein erster Eindruck: penibelste Ordnung. »Hallo! Ist da jemand?«, durchbrach ich die Grabesstille und bemerkte einen Knoten in der Magengegend. Weitere Schritte, nochmaliges Rufen. Rechts von mir leere Garderobenhaken, darunter ein geschlossener Schuhschrank aus Holz. Blanke weiße Wände, auf dem Fußboden Parkett, eher strapazierfähig als teuer. Kein Teppich oder anderer Schnickschnack.
»Jelena!«, versuchte ich es erneut. »Sind Sie zu Hause?«
Die Wohnung war nicht besonders groß, es gab nur noch zwei weitere geschlossene Türen, einen offenen Küchen- und Wohnbereich mit blankgescheuerten Arbeitsflächen, ein helles Sofa aus Stoff, einen niedrigen Couchtisch und ein leeres Bücherboard. Alles Massenware. Kein Fernseher, keine Bilder, keine Pflanzen, keine Jelena.
Alles in mir drängte danach, von hier zu verschwinden, doch das konnte ich vergessen. Also ersparte ich mir sinnloses Rufen, machte weiter und landete in einem winzigen Badezimmer mit Dusche. Ebenso minimalistisch eingerichtet, ebenso sauber. Jelena schien ein kleiner Putzteufel zu sein.
Blieb nur noch die letzte Tür. Man musste kein Raketenwissenschaftler sein, um zu erahnen, dass sich dahinter das Schlafzimmer verbarg.
Ich stieß sie auf.
In den letzten Tagen hatte ich viel versucht, um Jelena Jelinek zu finden.
Nun hatte ich es geschafft.
Sie lag auf dem Boden, und ich brauchte sie nicht zu berühren, um zu wissen, dass sie tot war. Wohl noch nicht lange, aber zweifelsohne. Erst jetzt bemerkte ich den beißenden Geruch, der es noch nicht geschafft hatte, sich flächendeckend über alles zu legen.
Ich würgte.
Jelena war hübsch gewesen, ein zartes Persönchen. Vollkommen bekleidet lag sie seitlich und mit angezogenen Beinen auf dem Fußboden, wirkte unverletzt. Ein Wust dunkler Haare ergoss sich über ihr verkrampftes Gesicht, Blase und Darm hatten sich entleert und ihre grüne Freizeitkluft verschmutzt. Dazu bröckelige Flecken überall, Erbrochenes, aber bereits angetrocknet. Sie musste also schon vor etlichen Stunden gestorben sein – vielleicht genau zu der Zeit, als ich in der Schauküche halbgare Scherze gemacht hatte.
Ach Jelena, dachte ich mehr traurig denn entsetzt, wäre ich gestern noch gekommen, hätte ich vielleicht …
Wo war ich da bloß wieder hineingeraten?
Sorgsam schloss ich die Tür. Ich brauchte einen Plan, und den auszuhecken, war unmöglich mit einer Leiche vor Augen. Reiß dich zusammen, Lilly, rief ich mich zur Ordnung und suchte meinen Blick im Spiegel, während ich durchatmete. Noch mal würgte. Im Grunde war ja nur eines passiert: Ich hatte eine Tote entdeckt. Niemand wusste über die Hintergründe Bescheid. Nicht einmal Ferdl. Und selbst wenn die Polizei alles aufdeckte: Nachweisen konnte man mir nichts.
Weitere Minuten verstrichen, in denen ich verzweifelt versuchte, mich zu beruhigen, die Eisenklaue in der Kehle zu lockern. Schließlich hatte ich mich wieder unter Kontrolle. Halbwegs zumindest.
Brennende Fragen drängten sich auf.
War es überhaupt noch wichtig, warum, wie ich annahm, Jelena mir den Führerschein ihrer Schwester untergejubelt hatte?
Ja.
Würde ich die Polizei rufen?
Selbstverständlich!
War Jelena eines natürlichen Todes gestorben?
Nie im Leben!
Das hing doch alles zusammen! Sie war vor ihrem Tod offensichtlich untergetaucht. Ich hatte nach ihr gesucht und herumgefragt. War es meine Schuld? Hatte ich Jelena mit meinen Nachforschungen unabsichtlich das Leben gekostet? Musste ich tatsächlich jetzt auch noch ihren Tod auf meine Kappe nehmen?
Schon wieder steckte ich in Schwierigkeiten, die mir wie Blei auf der Seele liegen und mich vor sich hertreiben würden. Doch es war zu spät. Aus dieser Gleichung konnte ich mich nicht mehr herausnehmen, viel zu tief war ich darin verstrickt, trug Verantwortung. Die Frage war nur: wie viel? Ob ich also wollte oder nicht: Ich musste und würde weitermachen.
Der erste Schritt: nicht wie üblich kneifen, sondern den Polizeinotruf wählen. Alle Routinen anlaufen lassen. Und parallel dazu mein eigenes Süppchen kochen.
Noch einmal betrat ich das Schlafzimmer, sah mich um, ohne jedoch irgendetwas Verdächtiges zu bemerken. Wie in Trance beugte ich mich zu Jelenas totem Körper hinab und berührte sanft ihr wirres braunes Haar. »Ich werde herausfinden, was passiert ist«, murmelte ich, »es tut mir so unglaublich leid. Bitte verzeih! Und diesmal werde ich es richtig machen.«
Mit zusammengebissenen Zähnen richtete ich mich wieder auf.
Drehte mich um.
Im Durchgang stand eine reglose Gestalt.
9
MARLENA
»Was ist denn hier passiert?«
Marlena fixierte die bleiche Frau mit den langen dunklen Haaren, die soeben herumgewirbelt war.
Ferdl hatte ihr nicht erzählt, wer ihn gebeten hatte, nach Jelena zu suchen. Es herauszufinden war jedoch ein Kinderspiel gewesen. Ihr Onkel würde die Aktion nicht gutheißen, nichtsdestotrotz hatte sie sich vor dem Palais auf die Lauer gelegt und an die Journalistin drangehängt. Gestern Abend bis fast Mitternacht, heute Morgen seit sechs Uhr früh.
Unbemerkt war sie der Frau bis zu einem Mehrparteienhaus nach Ottakring gefolgt und – angetan mit Laufsachen, Mütze und Brille – hineingeschlüpft, das Paradebeispiel einer Bewohnerin, die soeben vom Joggen kam.
Danach musste sie nur noch die richtige Tür finden.
Manchmal verstand sie selbst nicht, was sie trieb. Sie folgte ihren Instinkten, und das so erfolgreich, dass ihr Onkel sie gerne zur Gänze in der Agentur angestellt hätte, was aber kein Thema war.
Seit ihrer Kindheit hatte Marlena jeden Sommer Zeit bei ihrem anderen Onkel Vlastemil in Wien verbracht, liebte die Stadt und sprach nahezu perfektes Deutsch. Vor ein paar Jahren war sie zur Gänze hergezogen. Ursprünglich, um auf die Uni zu gehen, doch dann hatte sie die Idee für das gehabt, was sie mittlerweile neben Nachforschungen hauptberuflich betrieb: ihren Umwelt-Blog »Green Things«, in dem sie interessante Menschen und nachhaltige Ideen präsentierte. Mittlerweile konnte sie, dank sorgsamer Produktplatzierungen, Ads, Bannern und bezahlter Postings, gut davon leben.
Jetzt allerdings war sie zur Gänze in ihr Alter Ego als Ermittlerin geschlüpft.
Im sechsten Stock bemerkte sie sofort die offen stehende Wohnungstür und stand wenig später vor der zu Tode erschrockenen Lilly Speltz.
»Sie ist tot!«, stammelte die bleiche Journalistin, um Besonnenheit bemüht.
»Weshalb entschuldigen Sie sich denn bei ihr?«, fragte Marlena verwundert.
Da ging ein Ruck durch ihr Gegenüber. »Was haben Sie hier verloren?«
Marlena kam näher, reichte der Frau gerade bis zum Kinn. »Keine Angst, ich weiß von der Geschichte!«
»Na wunderbar. Und wer sind Sie?«
Marlena antwortete nicht gleich, sondern warf einen Blick auf die Leiche, versuchte einzuschätzen, womit sie es hier zu tun hatte. Erst dann wandte sie sich wieder Lilly zu.
»Ich bin Marlena Houdek, Onkel Ferdls Nichte. Ich habe Jelena für Sie gefunden. Ist sie das?«
10
LILLY
Stämmig, mit frechem blondem Bubikopf und durchdringend grünen Augen – so stand Marlena Houdek vor mir, die ganze Person ein Ausbund an Selbstsicherheit. Noch immer zitterten mir die Knie. Als ich sie vorhin in der Tür entdeckt hatte, war ich überzeugt davon gewesen, dass nun alles aus war – und hatte dabei auch einen unvermuteten Hauch von Erleichterung verspürt.
»Verdammt noch mal«, hörte ich ihre seltsam raue Stimme, die so gar nicht zu dem zu kurz geratenen Körper passen wollte. »Sie müssen die Polizei rufen. Und zwar gleich. Aber verraten Sie mir vorher noch, warum Sie Jelena unbedingt finden wollten.«
Tut mir leid, Mädchen. So schlimm die Situation auch ist, ich werde es dir nicht auf die Nase binden, dachte ich. Wer weiß, inwieweit ich dir letztlich vertrauen kann.
Es war an der Zeit, den Spieß umzudrehen. »Was tun Sie hier, Marlena? Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen den Auftrag erteilt zu haben, mich zu beschatten!«
Sie wirkte ehrlich. »Stimmt. So wie es aussieht, haben wir beide Klärungsbedarf. Doch nicht jetzt. Jelena ist möglicherweise keines natürlichen Todes gestorben und Sie sollten keine Sekunde länger warten, Alarm zu schlagen, sonst wirft das ein sehr seltsames Bild auf Sie!«
Mir graute vor den Ermittlungen und ihren Folgen. Kaum war etwas Gras über die Sache mit Georg gewachsen, steckte ich prompt in der nächsten schrägen Geschichte, die noch dazu unmittelbar mit der alten Sache zu tun hatte. Ich sah mich schon Fingernägel kauend im Gefängnis schmoren. Wahrscheinlich hatte ich aber ohnehin nichts Besseres verdient. Und dann wäre es zumindest vorbei.
Mit verkrampftem Magen wählte ich die europäische Notrufnummer 112.
Als ich mich umdrehte, war Marlena verschwunden. Zum Glück, denn wie hätte ich der Polizei erklären sollen, was sie in der Wohnung zu suchen gehabt hatte? In Kürze allerdings würde ich dafür sorgen, dass sie es mir erklärte.
Ich hatte es befürchtet.
Vor mir standen genau die beiden Kriminalbeamten, die damals auch den Tod von Georg untersucht hatten. Bruce und Colin. Der Ältere hatte eine Glatze und markante Gesichtszüge wie Bruce Willis, der Jüngere die dichten Augenbrauen mit Eigenleben und das Grinsen des Schauspielers Colin Farrell.
Vor allem Colin mochte mich nicht und ließ mich das auch sogleich spüren. »Frau Speltz, sieh einer an. Und diesmal gibt’s auch tatsächlich eine Leiche!«
Vollidiot.
Es wurmte ihn, dass Georg nach wie vor verschwunden blieb und er mir nichts nachweisen konnte, was für mich sogar ein wenig nachvollziehbar war. Dennoch hielt ich nicht viel von ihm. Er gab offenbar den Bad Cop.
Inzwischen war das Vollprogramm angelaufen. Die erste Bewertung der polizeilichen Kommission hatte ergeben, was Marlena und ich auch schon vermutet hatten: dass ein Tötungsdelikt nicht ausgeschlossen werden konnte. Kurz danach war die Tatortgruppe aufgetaucht.
Bruce übernahm. »Es ist unklar, wie sie gestorben ist, deshalb behandeln wir die Situation als Mord und wie immer legen wir die Latte hoch. Wir werden hier alles auf den Kopf stellen und keinen Quadratzentimeter auslassen. Wenn da etwas ist, werden wir es auch finden. Beim letzten Fall hat es Tage gedauert. Letztlich war es DNA auf einem Zündholz, die den Täter überführt hat.« Während er sprach, hatte er mich nicht aus den Augen gelassen und ich hatte verstanden. Seine Worte waren nichts als eine kaum verhohlene Warnung. Wenn du Dreck am Stecken hast, kriegen wir dich!
Im Schlafzimmer waren Spurensicherung und Rechtsmediziner an der Arbeit. Einer hantierte gerade mit einem Fieberthermometer. Wir drei saßen traut vereint im Wohn-Essbereich. »Sie wissen, wer das ist?«, fragte Bruce und deutete in Richtung Schlafzimmer.
Ich nickte. »Ich denke, es ist eine Frau namens Jelena Jelinek.«
Bruce nickte. »In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihr?«
»In gar keinem. Ich kannte sie nicht.«
Ein ungläubiger Blick traf mich. »Und wie kommt es dann, dass Sie in dieser Wohnung waren und ihre Leiche entdeckt haben?«
Nun begann das Lügen. »Eine Quelle hat mich kürzlich kontaktiert, sprach von einer heißen Story und nannte dabei Frau Jelineks Namen. Und diese Adresse hier.«
Ich hielt inne, weil jemand im Schlafzimmer fluchte. Was die beiden Ermittler vor mir ungerührt zur Kenntnis nahmen. »Und weiter?«, drängte Colin.
»Ich dachte, ich höre mir die Geschichte mal an. Weil ich keine Telefonnummer hatte, bin ich heute früh hergefahren. Es war offen, also bin ich ins Haus und dann die Treppen hoch bis zu dieser Wohnungstür.«
Erneutes Fluchen drang aus dem Schlafzimmer, doch wiederum gab es kein Wimpernzucken der Beamten. Sie ließen mich erzählen, lauerten auf eine Ungereimtheit.
Konzentriert fuhr ich fort, mimte weiterhin die neugierige Journalistin auf der Jagd. »Ich war verwundert, als ich bemerkte, dass sie offen war. Also läutete ich und wartete einige Minuten. Dann hörte ich ein Geräusch und dachte, dass vielleicht jemand Hilfe braucht, bin in bester Absicht in den Flur, fand die Tote im Schlafzimmer und rief umgehend die Polizei!«
»Woher wissen Sie denn, dass es sich bei der Leiche um Frau Jelinek handelt, wenn Sie ihr noch nie zuvor begegnet sind, wie Sie behaupten?«
»Ich behaupte es nicht. Es ist so. Ich kenne sie nicht. Ich sagte doch gerade, ich denke, dass sie es ist, spreche also lediglich eine Vermutung aus. Ist sie es denn?«
Jetzt war es Colin, der antwortete. »Wir klären das gerade. Diese Wohnung läuft jedenfalls auf eine Agnes Bednarik. Sagt Ihnen die etwas?«
Ich hob die Achseln. Sollte er das doch auslegen, wie er wollte.
In diesem Augenblick trat einer der Rechtsmediziner hinzu. Er trug, wie alle Anwesenden, einen Schutzoverall und Handschuhe. Auffordernd sah Colin ihn an. »Der ungefähre Todeszeitpunkt liegt zwischen 23 Uhr und Mitternacht. Eher früher. Mehr wissen wir nach der Leichenöffnung. Wir nehmen sie dann mit!«
Erschöpft hatte ich zugehört. Seit über vier Stunden war ich schon hier und kein Ende in Sicht.
»Wo waren Sie denn zu der Zeit, Frau Speltz?« Bruce. Er musste das fragen, schon klar. Trotzdem schluckte ich. »Auf dem Weg nach Hause. Wir hatten einen Dreh im Dritten, der bis kurz vor elf gedauert hat.«
Ich konnte seine Rädchen im Hirn rattern hören. Vom dritten in den 16. Bezirk. Mit dem Auto hätte ich es schaffen und quasi einen Mord im Schweinsgalopp begehen können. Aber selbst er schien Zweifel an dieser Theorie zu hegen.
»Von wem haben Sie den Hinweis denn erhalten?«, fragte Colin scharf.
»Tut mir leid, das fällt unter Quellenschutz!«, antwortete ich und bemühte mich, nicht allzu triumphierend zu klingen.
Er sah aus, als hätte er eine Kröte verschluckt. Wie auch immer das hier weitergehen würde, für den Augenblick mussten sich die beiden damit zufriedengeben. Journalistischer Quellenschutz war zum Glück in Österreich immer noch eine heilige Kuh, trotzdem so mancher Politiker daran sägte.
»Nun gut. Wie Sie wollen, Frau Speltz. Ihre Fingerabdrücke haben wir, damit können wir abgleichen, was Sie berührt haben. Gibt es sonst noch etwas, was Sie uns sagen möchten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich würde gerne wissen, ob die Tote tatsächlich Jelena Jelinek war und woran sie gestorben ist. Wenn es Mord war, werden wir berichten, einen Selbstmord oder natürlichen Tod lassen wir selbstverständlich außen vor.«
Jetzt griff der gute Cop ein. »Wir können Sie natürlich nicht daran hindern, Frau Speltz. Aber vielleicht einigen wir uns ja auf Folgendes: Die Frau wird jetzt in die Gerichtsmedizin gebracht, heute noch obduziert und hoffentlich auch identifiziert. Rufen Sie mich morgen gegen Mittag an, dann haben Sie ein wenig Vorsprung vor Ihren Kollegen.«
Er deutete in Richtung Wohnungstür. Ich konnte mir leicht ausrechnen, was draußen vor dem Haus mittlerweile los war. Neugierige mit Handykameras, die darauf lauerten, alles abzufilmen und umgehend ins Netz zu stellen. Einige übertrugen die Szenen vielleicht ohnehin schon auf Facebook Live. Kollegen, die über ihre Kanäle von einem möglichen Tatort erfahren und sich in Position gebracht hatten. Und das, obwohl noch nicht einmal die Todesursache geklärt war.
Colins Gesicht war bei den Worten seines Kollegen eingefroren, er hatte sich aber unter Kontrolle. Ihm behagte Bruce’ wohlkalkulierte Großzügigkeit nicht. Nur zu gerne hätte ich gewusst, was die beiden wirklich dachten. Schon wieder die Speltz. Schon wieder eine seltsame Tote. All ihre Antennen waren auf mich gerichtet. Ich würde sehr vorsichtig sein müssen, wollte ich nicht mit Haut und Haaren gefressen werden.
»Ich kann also gehen?«
Colin nickte finster. »Vorerst. Halten Sie sich aber zur Verfügung. Im Augenblick gelten Sie als wichtige Zeugin!«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Beim Hinausgehen warf ich einen Blick durch die offene Schlafzimmertür. Jelenas Leichnam war inzwischen mit einem Tuch abgedeckt worden. Er wirkte winzig, ein kleiner Hügel Mensch, der kurz mein Leben gekreuzt hatte und schon wieder daraus verschwand.
Stumm schickte ich ihm eine Botschaft. Es ist noch nicht zu Ende, Jelena. Ich halte mein Versprechen.
Das Haus hatte einen Ausgang in den Hinterhof. Ich benutzte die dort aufgehängte Wäsche als Deckung, bis ich zu einer Durchfahrt gelangte. Schließlich stand ich wieder auf der Straße und ging mit gesenktem Kopf an den Neugierigen vorbei, die die Hälse reckten und sich Spekulationen zuflüsterten. Jetzt kam mir zugute, dass ich vorhin keinen Parkplatz vor der Tür bekommen hatte. So gelangte ich unbehelligt zu meinem E-Mobil und stieg ein.
Es gab nur eine Person, die mir weiterhelfen konnte. Ob sie auch heute arbeitete? An einem Samstag? Einen Versuch war es wert.
Nachdenklich kramte ich nach meinem Telefon, konnte es aber nirgends finden. Ich stülpte meine Tasche um, tastete in jeden Zwischenraum meines Autos, doch es blieb verschwunden. Verflixt noch mal! Hatte ich es in Jelenas Wohnung vergessen? Um nichts in der Welt würde ich dorthin zurückkehren und danach suchen, auch auf die Gefahr hin, dass Bruce und Colin es mitnahmen. Es war als Firmenhandy sehr gut passwortgesichert, also nicht leicht zu knacken, selbst für geschulte Polizeitechniker.
Mich ob meiner Nachlässigkeit verfluchend, öffnete ich mein Handschuhfach, um mein steinaltes Ersatztelefon auszumotten, ein billiges Ding, das seit Jahr und Tag dort vor sich hindümpelte und über genau eine Funktion verfügte: Telefonieren. Zum Glück lud ich es regelmäßig auf. Das Problem: Der Nummernspeicher war leer, der Internetzugang inexistent. Dankbar für Ferdls Umsicht kramte ich den Zettel heraus, auf den er mir Name, Adresse und Telefonnummer der Ordination aufgeschrieben hatte.
Ein paar Sekunden später hatte ich tatsächlich Agnes Bednarik am Ohr. Ohne mich zu melden, legte ich auf. Es war mir unmöglich, ihr am Telefon von Jelenas Tod zu berichten, also musste ich mich beeilen, denn es würde nicht lange dauern, bis die Polizei bei ihr aufkreuzen würde. Außerdem wollte ich verhindern, dass sie Bruce und Colin brühwarm von meiner Show in der Ordination erzählte.
20 Minuten später parkte ich mein Auto im Halteverbot und ging zu Fuß die letzten Meter in Richtung Salzgries. Zur Tarnung trug ich einen Hut samt Sonnenbrille und kam mir damit reichlich bescheuert vor. Außerdem knurrte mir der Magen. Mittlerweile war es fast zwei Uhr. Bisher hatte mir Jelenas Schicksal den Appetit verdorben, doch nun war mir flau. Der Menüvorschlag des Kandidaten gestern war auch zum Abgewöhnen gewesen. Nierchen mit Kartoffelpüree nach Uromas Art. Igitt!
Vor einem kleinen Laden mit dem Namen »Dolci Pensieri« hielt ich inne, nahm mir ein Herz und wählte erneut Agnes’ Nummer. Wieder war sie sofort dran. »Lilly Speltz hier!«, sagte ich hastig. »Ich muss Sie unbedingt sofort ganz dringend sprechen! Können Sie bitte herunterkommen ins ›Dolci Pensieri‹?«
Sollte ich sie erstaunt haben, ließ sie sich nichts anmerken. »Im Augenblick nicht. Aber wenn es Ihnen möglich wäre, etwas zu warten, dann gerne!« Offensichtlich war sie nicht allein.
Erleichtert über die kleine Gnadenfrist bestätigte ich und beschloss, mir einen Cappuccino und einige Tramezzini zu gönnen. Der Name des Lokals gefiel mir: »Süße Gedanken«. Schlimme hatte ich eh schon genug. Außerdem konnte ich mir dabei in Ruhe eine Strategie überlegen. Mein Gefühl sagte mir, dass Agnes nicht so leicht zu knacken sein würde.
Die kleine straßenseitige Terrasse war kaum besetzt. Sorgsam wählte ich den am wenigsten einsehbaren Tisch und zog den Hut noch tiefer ins Gesicht.
Agnes war die Einzige, die mir sagen konnte, warum oder vor wem Jelena sich versteckt hatte. Sobald sie von Jelenas Tod erfuhr, musste ihr klar sein, dass auch sie möglicherweise in Gefahr schwebte. Ich hatte Bruce und Colin nicht erzählt, dass wir uns kannten. Das musste unbedingt so bleiben. Also wollte ich Agnes davon überzeugen, dichtzuhalten und mir im Fall des Falles als die Quelle zur Verfügung zu stehen, die off the records mit mir gesprochen hatte. Ein hartes Stück Arbeit.
Höchstwahrscheinlich hatte die Polizei Jelena inzwischen identifiziert, wusste wahrscheinlich auch schon, dass sie Janas Schwester war: ein Riesenpfeil, der auf mich zeigte. Sie würden den Teufel tun, dabei an einen Zufall zu glauben. Sollte man mich hier erwischen, würde man mich wohl umgehend als Tatverdächtige verhaften oder zumindest aufs Revier schleppen. Bei dem Gedanken rutschte ich gleich noch ein wenig tiefer in meinen unbequemen Plastikstuhl.






