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Meine Eltern haben sich während der Kriegszeit nie aus den Augen verloren. Der Kontaktpunkt war Tante Hedi. Ich erinnere mich, wie unsere Mutter nach jeder Evakuierung eine Postkarte an sie geschrieben hat. Mein Vater, der sich auch ständig woanders aufhalten musste, hat seiner Schwester ebenfalls seine Adresse mitgeteilt. Meine Tante hat dann sofort dem anderen die aktuelle Adresse per Postkarte mitgeteilt und dank ihrer Unterstützung konnte uns unser Vater immer finden. Bewundernswert war die Post in diesen unruhigen Zeiten. Es ist nie eine Postkarte verloren gegangen und jeder wusste, wo sich der andere befand.
Das deutsche Geld auf dem Sparbuch war im Krieg noch gültig, aber unsere Mutter konnte unterwegs nicht immer Brot kaufen. Wir haben aber nie nach Essen verlangt. Die stete Angst, die uns jeden Tag begleitete, hat uns die Kehle zusammengeschnürt.
***
Kurz vor Kriegsende in Bayern angekommen, waren wir einmal stundenlang mit einem Zug unterwegs. Vater saß mit uns in dem überfüllten Abteil. Es war still im Wagon. Es war ein herrlicher Sommertag, die Sonne schien durch das Fenster des Wagons direkt auf mich, meine beiden Brüder schliefen wie immer wieder fest auf ihren Rucksäcken und der Zug fuhr durch eine schöne, ländliche Landschaft, die mich froh stimmte.
Das monotone Klappern des Zuges auf den Schienen wollte mich gerade in den Schlaf wiegen, als der Zug plötzlich mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam. In unserem Wagon brach Panik aus. Die Leute griffen schnell nach ihrem Handgepäck und ihren Koffern und rannten aus dem Zug. Meine Brüder wurden von den Eltern aus dem Schlaf gerissen, wir eilten auch aus dem Zug und folgten den Menschen Richtung Wald, der am Horizont zu sehen war. Da hörten wir schon das tiefe Brummen der Propellermaschinen und kurz darauf das Heulen von Maschinen im Sturzflug, die immer näher kamen. Wir rannten um unser Leben! Am Waldrand angekommen, ließen wir uns erschöpft und atemlos nieder und schauten zurück. Das Heulen der Flieger und das laute Stakkato der Maschinenkanonen hatte aufgehört, aber uns bot sich ein schreckliches Bild! Der Zug, in dem wir gerade noch gesessen hatten, stand in Flammen, die hoch in den Himmel loderten! Die Wagons waren durchschossen und brannten lichterloh. In diesem Moment wurde uns bewusst, wie knapp wir dem Tod entkommen waren! Unser Leben hatten wir der Aufmerksamkeit der Zugbesatzung zu verdanken. Der Lokführer hatte die schwarzen Punkte am Himmel richtig gedeutet und rechtzeitig den Zug angehalten, sonst hätten wir alle unser Leben verloren. Wir waren wie durch ein Wunder gerettet, keiner war verletzt, geschweige denn getötet worden. Der Wald um uns herum war voller Menschen. Bald bildete sich eine Kolonne und die Leute marschierten gemeinsam los. Wir schlossen uns an. Der Marsch durch den Wald hielt erst an, als wir eine asphaltierte Straße erreicht hatten. Hier wurde beraten, wohin und in welche Richtung es weitergehen sollte. Hinter uns lag der Wald und vor uns rechts und links zogen sich Getreidefelder die Straße entlang. Niemand wusste, wo wir uns genau befanden, geschweige denn, wohin die Straße führte. Die Menschen aus dem Zug hielten zusammen, sie bildeten erneut eine Kolonne und es ging nach links. Wir waren stundenlang zu Fuß unterwegs, es waren nur noch die Felder und Wiesen rechts und links zu sehen.
Als am Abend schließlich die Sonne unterging, fing es an zu nieseln, und ging in einen starken Regen über. Wir marschierten trotzdem die ganze Nacht weiter, wir hatten keine andere Alternative. Die Kolonne bewegte sich schweigend, resigniert und schleppend durch die dunkle Nacht. Jeder war durchnässt und sehnte sich nach einem warmen Bett. Mein Vater trug mich und meinen Bruder Karl abwechselnd auf seinen Schultern, dazu noch einen Rucksack und einen Koffer. Ich sah trotz der Dunkelheit, dass an beiden Seiten der Straße in regelmäßigen Abständen schmale, aber sehr hohe Bäume wuchsen. Die gaben uns aber keinen Schutz. Es war eine harte Nacht, die wir nie vergessen haben. Die gesamte Menschenkolonne schob sich schweigend und leise voran, ohne jegliche Hoffnung, bald auf eine Siedlung zu treffen. Es war noch ganz dunkel, als eine Frau meinem Vater plötzlich ein Fahrrad in die Hand drückte und gleich darauf verschwand. Dies passierte so schnell und überraschend, dass weder mein Vater noch meine Mutter wussten, woher die Frau gekommen und wohin sie verschwunden war.
An diese Nacht und die plötzliche Rettung in der Not erinnerte sich unser Vater noch viele Jahre später, als wir schon wieder in Schlesien lebten. Wir saßen alle zusammen beim Abendbrot, als unser Vater, der nachdenklich war und geschwiegen hatte, plötzlich leise sagte: „Es war Rettung in letzter Minute. Ich war schon so schwach, dass ich keine Kraft zum Weitergehen hatte, dann kam die Frau mit dem Fahrrad. Das war die Hilfe, um die ich Gott die ganze Nacht gebeten hatte. Er hat mich erhört.“ Wir wussten sofort, von welcher Nacht er sprach, aber keiner von uns sagte darauf ein Wort. Wir alle waren wieder mitten im Geschehen dieser Nacht und schwiegen. Wie es schien, waren die Kriegserinnerungen auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Unser Vater war nach dem sechsjährigen Krieg erst dreiundvierzig Jahre alt.
Als die schwere Nacht schließlich vorüber war und die Menschenkolonne in den Morgenstunden in einem Dorf ankam, breitete sich Erleichterung unter den erschöpften Menschen aus. Leider durften nicht alle bleiben. Der Bürgermeister ließ nur einige Familien mit Kindern im Ort, eben so viele, wie er auf die umliegenden Bauernhöfe verteilen konnte. Der Rest musste wieder aufbrechen. Wir durften bleiben und bekamen ein sehr kleines Zimmerchen bei einem Bauern namens Ziesel zugewiesen, der uns Flüchtlingen nicht wohlgesonnen war. Wir waren dermaßen erschöpft, dass wir den ganzen Tag und die folgende Nacht ohne etwas zu essen durchgeschlafen haben.
Am nächsten Morgen wollte mich meine Mutter nach draußen an die frische Luft schicken, doch ich wollte nicht gehen. Ich fürchtete mich vor dem Bauern. Meine Mutter nahm mich aber an der Hand und führte mich durch den langen, dunklen Flur hinaus. Ich blieb vor lauter Angst vor dem Haus stehen. Ich spürte den bösen Mann hinter der Tür, an der wir eben vorbeigegangen waren, und schaute ängstlich meiner Mutter nach, die zurückging und die Tür hinter sich schloss. In diesem Moment kam der Bauer mit einem Beil in der Hand aus der Küche heraus und ging wütend auf mich los. Der Schreck verlieh mir Flügel und ich rannte um das Haus herum. Meine Mutter stand am offenen Fenster, als hätte sie es geahnt, und hob mich schnell nach oben und ins Innere. Da stand der große Mann auch schon schwer atmend vor dem Fenster und blaffte meine Mutter an: „Ihr! Dahergelaufene Polen!“ Meine Mutter schrie wütend zurück: „Und Sie sind für mich der Teufel!“ Bis dahin hatte ich meine Mutter noch nie so aus der Haut fahren sehen. Mein Herz pochte wie verrückt, ebenso wie ihres. Der Bauer verschwand, weil er begriffen hatte, dass wir keine Polen waren, und ließ uns dann in Ruhe. Seine Frau, die nie gekämmt war, lud meine Mutter sogar einmal zum Essen zu sich in die Küche ein. Es gab damals Knödel aus gekochten Kartoffeln, die sogenannten „Fingerchen“, die sie nicht in Wasser gekocht, sondern in Schweinfett gebräunt hatte. Ich durfte mitessen. Das war für mich etwas Herrliches und es schmeckte hervorragend. Später erfuhr ich, dass man das Gericht Schupfnudeln nennt.
Und noch eine Episode aus der Zeit bei dem Bauern ist mir in Erinnerung geblieben. Der Bauer hatte einen Sohn in meinem Alter. Er hatte krumme Beinchen und ein großes Bäuchlein. Meine Mutter erklärte mir, dass der kleine Luis die englische Krankheit hat. Der Bub, der kleiner als ich war, rannte einmal unerwartet auf mich zu und biss mich in meinen Bauch. Ich schrie und die blauen Spuren seiner Zähne konnte ich lange Zeit sehen. Es waren dunkle Blutergüsse.
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In diesem Dorf, an dessen Name ich mich nicht mehr erinnere, erlebten wir schließlich auch das Ende des Krieges. Mein Vater hatte zu dieser Zeit alle Hände voll zu tun. Er reparierte im Dorf und in der Umgebung Feldmaschinen, Traktoren und sogar Uhren. Dafür entlohnte man ihn mit Lebensmitteln.
Am 09. Mai 1945, nach der Friedensproklamation, fuhr der Bürgermeister unseres Dorfes mit dem Auto und einer weißen Fahne an die Dorfgrenze und übergab das Dorf den Amerikanern.
Damit hat er vernünftigerweise ein unnötiges Blutvergießen vermieden, und nach der Übergabe kamen die Amerikaner ins Dorf. Ihre riesigen, schweren Panzer schoben sich sehr langsam vor unsere Augen. Wir Kinder standen vor dem Haus und schauten erstaunt und mit großer Neugier zu. Die Panzer waren so breit, dass sie die ganze Straße in Anspruch nahmen. Die Soldaten waren nicht zu sehen, sondern nur ihre Schuhe – wahrscheinlich steckten sie die schmerzenden Beine in die Klappe oben. Sie haben uns aber gesehen und warfen uns Kaugummi zu. Das war etwas, was wir auch noch nicht kannten.
Am 01. Juni 1945 haben die Amerikaner ein Fest für alle Dorfkinder veranstaltet. Sie bauten auf dem Flugplatz am Rande des Dorfes viele Zelte auf und in jedem gab es etwas für die Kinder. Es wurden Orangen, Schokolade, Kekse und Kaugummi verteilt und die Mutter bezahlte die Präsente mit einer Bonuskarte, die sie vom Bürgermeister für jedes Kind bekommen hatte. Die Überraschung und Freude der Kinder war groß und die Stimmung auf dem überfüllten Flugplatz war heiter, die Menschen haben gejubelt und sich gefreut, dass der Krieg endlich vorbei war, und die Jugendlichen durften noch eine zusätzliche Attraktion erleben. Die amerikanischen Soldaten, unter denen auch Farbige waren, haben die Buben in ihren Jeeps um den Flugplatz herum gefahren, dabei gesungen und Spaß gemacht. Ich staunte sehr, als ich erfahren habe, dass es auch Menschen gibt, die eine dunkle Hautfarbe haben. Es war für mich ein einmaliges Erlebnis, die Farbigen zum ersten Mal zu sehen, und auf meine Frage, wer sie sind, hörte ich, dass es Neger seien. Heute bezeichnet man sie als Afroamerikaner.
Nach der Friedensproklamation fand unser Vater gleich eine Beschäftigung bei der Firma Stehle in Memmingen. Wir wohnten vorerst direkt bei der Fabrik in einer Baracke, in der während des Krieges die Zwangsarbeiter untergebracht waren. Nach einiger Zeit wurde uns eine große Wohnung in einem Zweifamilienhaus zugeteilt. Diese war voll möbliert und sah so aus, als hätten die Leute, die hier gewohnt hatten, das Haus gestern erst verlassen –
vielleicht waren sie Juden gewesen.
Eines Tages, meine Geschwister waren schon in der Schule und Vater in der Arbeit, ist eine Frau zu uns nach Hause gekommen. Sie war eine Beamtin aus dem Rathaus und hat ein großes Buch mit Bildern von Häusern mitgebracht, das sie auf den Küchentisch legte. Die Frau machte meinen Eltern ein Angebot. Sie konnten ein Haus aus dem Buch aussuchen, der Staat würde dieses bauen und die Eltern würden es dann mit der Miete abzahlen können. Ich hörte neugierig zu. Meine Eltern waren über das Angebot verblüfft. Mein Vater meinte am Abend: „So früh nach dem Krieg? Ist das überhaupt schon möglich?“ Anscheinend war es möglich, sonst hätten meine Eltern das Angebot nicht bekommen.
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Mein Vater war ein Familienmensch. Er dachte ständig an seine Eltern, die in Bielitz geblieben waren, und als er in Bayern einen Bielitzer traf, der unsere Familie gut kannte, lud er ihn nach Hause ein. Er durfte sogar bei uns übernachten. Von diesem Mann haben meine Eltern viel erfahren. Er erzählte, was sich nach unserer Flucht alles in unserer Heimatstadt zugetragen hatte. Die Russen haben sich wie ein wildes Volk aufgeführt! Sie waren ständig betrunken und klauten alles, was sie mitnehmen konnten. Erst haben sie alle Häuser in der Stadt durchsucht und alle Deutschen, die sich in den Kellern und Dachböden versteckt hatten, auf die Straße gejagt. Dort war schon eine Menschenkolonne, der sie sich anschließen mussten und die unter Bewachung Richtung Bahnhof gelenkt wurde. Dort wurden sie in die Viehwagons gedrängt und nach Sibirien abtransportiert. Die dicht zusammengedrängten Menschen waren in Dunkelheit, ohne Wasser und Essen tagelang unterwegs. Die Schwachen, die die Fahrt ohne Wasser und Essen nicht überlebten, sind bei der Öffnung des Wagons tot herausgefallen.
In einem Keller hatte sich unter den erwachsenen Männern auch ein 15-jähriger Junge versteckt. Er wurde auch mitgenommen. Er hat die Fahrt nach Sibirien und die niedrigen Temperaturen dort überlebt. Nach vier Jahren Gefangenschaft ist er zu seiner Mutter in Bielitz zurückgekommen. Sein Vater war nicht mehr da, er war von den Russen erschossen worden. Der junge Mann war mein zukünftiger Schwager, Tonis Mann.
Die Russen haben nicht nur die Dachböden und Keller durchsucht, sondern auch die Gärten und die Gartenhäuschen. Sie haben die Mädchen, die dort versteckt wurden, gefunden und vergewaltigt, sogar eines, das sich in einer Tonne versteckt hatte, und dieses haben sie beinahe umgebracht. Die Russen waren betrunken mit den Gewehrkolben und mit Gebrüll in jede Wohnung eingedrungen! Mein Großvater hatte sich dabei so erschrocken, dass er am ganzen Körper zu zittern begann. Er hat bis zu seinem Tod nicht zu zittern aufgehört. Die russischen Soldaten haben alle Betagten aus der Stadt, auch meine Großeltern, in das Hotel „Präsident“ in Bielitz gebracht und in den Keller gesperrt. Sie haben wenig Wasser und kaum etwas zu essen bekommen und mussten auf dem nackten Betonboden schlafen. Sechs Monate lang hat meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, den zitternden Kopf ihres Mannes auf ihrem Schoß gehalten. Mein Großvater hat das Kriegsende nicht erlebt.
Nachdem der Krieg vorbei war, hat man die Menschen aus dem Keller freigelassen. Meine Großmutter hat Opa auf dem Friedhof gesucht, aber nicht gefunden. Er war mit anderen Verstorbenen dieser Zeit in einem gemeinsamen, namenlosen Grab beerdigt worden.
Die schrecklichen Nachrichten aus der Heimat haben meine Eltern erschüttert. Vater machte sich jetzt große Sorgen um seine Mutter, und meine Mutter sich um ihren Vater. Sie haben angefangen zu überlegen, ob sie in die Heimat zurückkehren sollten oder nicht. Das Schicksal der beiden Elternteile hatte meinen Eltern ab diesem Zeitpunkt keine Ruhe mehr gelassen und sie sprachen jeden Tag darüber. Nach reiflicher Überlegung entschlossen sie sich dazu, zurück nach Schlesien zu gehen, obwohl mein Vater schon eine gute Arbeit und auch ein Haus in Aussicht hatte.
Wir sind dann im Frühjahr mit einem großen Transport von Flüchtlingen in einem mit Stroh ausgelegten Güterzug nach Schlesien gefahren und in der Stadt Czechowice-Dziedzice angekommen. Der ganze Transport wurde unterwegs von einer amerikanischen Eskorte überwacht und alle Flüchtlinge wurden für den langen Weg mit UNRA-Paketen versorgt. Wir waren stundenlang mit dem Güterzug unterwegs und er hat selten angehalten. Während jedes Halts konnten die Menschen frische Luft schnappen und ihre Bedürfnisse erledigen. Nach einem Halt im Wald und Weiterfahrt des Zuges merkte eine junge Mutter in unserem Wagon, dass ihr Kind fehlte! Man sah sich im Wagon um, ob es sich versteckt hatte, aber es war nicht da. Es gab keine telefonische Verbindung mit dem Lokführer und man konnte niemanden benachrichtigen, somit ist das Kind auf der Strecke geblieben! Das Mädchen war in meinem Alter.
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In der Heimat angekommen, merkte ich sofort, dass plötzlich alles anders als in Bayern war. Schon mit dem Wetter fing es an. Es war kalt, es hat geregnet und gleichzeitig geschneit, während wir in Bayern schon viele sonnige Tage erlebt hatten und der Frühling in der Luft gelegen hatte. Die nächste Enttäuschung war die Tatsache, dass es in unserer Heimatstadt schwer war, Lebensmittel zu bekommen, und das stimmte uns nicht gerade froh. Zum Mittagessen haben wir ständig das Gleiche bekommen, entweder waren es Karotten mit Kartoffeln oder Kartoffeln mit Sauerkraut, und fast bis 1950 hat sich kaum etwas daran geändert. Pflanzenöl zum Beispiel war eine Rarität. Erst als unsere Mutter 1950 in der nahe gelegenen Raffinerie eine Stelle in der Buchhaltung und zusätzlich zu ihrem Lohn einen Liter Sonnenblumenöl bekam, wurde das Essen schmackhafter. In Bayern dagegen hatte meine Mutter unmittelbar nach dem Krieg schon eine volle Einkauftasche mit Gemüse nach Hause gebracht, sogar Orangen hatte sie irgendwo bekommen. Einmal lief ich ihr entgegen, als ich sie vom Einkaufen zurückkommen sah, da zeigte sie mir eine volle Tasche mit Rosenkohl. Ich kannte das Gemüse damals nicht und staunte, dass das Kraut so kleine Köpfe hatte. Sie sagte mir, sie hätte es bei den Zwergen gekauft, deswegen hätte es diese Größe. Ich war so irritiert, dass die Mutter dann lachend zugab, dass das ein Witz war.
Der einzige Trost für uns Kinder war damals die Tatsache, dass wir eine Wohnung in demselben Haus bekommen haben, aus dem wir 1944 vor der russischen Front geflüchtet sind. Das während der Flucht Erlebte, die Bilder aus dem Krieg haben wir lange im Gedächtnis getragen und nicht vergessen können. Meine älteste Schwester Toni war nach unserer Rückkehr in die Heimat erst fünfzehn Jahre alt, aber was sie gesehen hatte, hat sie noch mit einundzwanzig Jahren nicht vergessen und manchmal auch gezeichnet.

Meine Schwester Toni war sehr ehrgeizig, sie hat mit dreizehn Jahren die englische Sprache schon verstanden. So konnte sie dem Bauern, bei dem wir damals in Bayern das kleine Zimmer gehabt hatten, bei der Forderung der Amerikaner nach Wein und Eiern behilflich sein. Diese waren nach der Ankunft im Dorf von einem Bauern zum anderen gegangen und hatten diese Produkte verlangt. Sie kamen mit einem Gewehr an der Brust, um den Leuten Angst zu machen, aber der Bauer verstand sie nicht. Später sind sie dann alleine in den Stall gegangen und haben die Eier roh getrunken.
Nach unserer Rückkehr nach Bielitz wollte meine Schwester unbedingt, dass ich Englisch lerne. Sie hatte mit siebzehn Jahren schon im Büro des Vaters als Zeichnerin gearbeitet. Jede Woche drückte sie mir fünf Zloty in die Hand und ich musste die Englischlehrerin in der Stadt aufsuchen. Ich bin aber nicht sprachbegabt, für mich war Englisch wie ein Gesang. Der Traum meiner Schwester war, dass wir uns auf Englisch unterhalten können, wenn wir erwachsen sind.
Im Jahre 1948 bot man auf dem Schloss in Bielitz einen Malkurs an und meine Schwester meldete sich dafür an. Sie wollte unbedingt daran teilnehmen. Der Professor, ein älterer Herr, kam aus Krakau und war Jude. Beim ersten Zusammenkommen der Teilnehmer wollte er die Interessierten erstmal testen. Er stellte verschiedene Gegenstände auf das Pult und jeder konnte sich einen aussuchen, den er malen würde. Da ein freies Thema auch erlaubt war, zeichnete meine Schwester ein schlafendes Kind. Sie zeichnete nur den Kopf mit lockigem Haar und die Hände. Als der Professor hinter Toni stand und das Kind betrachtete, sagte er leise, aber voller Wut: „Das Kind hat germanische Gesichtszüge!“ Die arme Toni war so tief getroffen, dass sie aufstand und schweigend den Saal verließ. Sie ist nie wieder zu dem Malkurs gegangen.
Tonis Zeichnung

Meine Schwester Toni im Alter von 60 Jahren, München 1991

Die Flüchtlinge. Ein Werk von Toni,das sie im Alter von 65 Jahren angefertigt hat.

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Was unsere Gesundheit betraf, war der Krieg an uns Kindern doch nicht spurlos vorübergegangen. Ich habe nach dem Kriegsende am ganzen Körper große, braune Geschwüre bekommen, sogar hinter den Ohren. Gleich nach der Friedensproklamation ist meine Mutter mit mir nach München gefahren, um Hilfe zu suchen, obwohl sie noch nie in dieser Stadt gewesen war. Dort wurden wir von dem kaputten Tor des Bahnhofs empfangen und unser Zug konnte auf dem einzigen intakten Gleis einfahren. Alle anderen Gleise waren beschädigt, sie waren nach oben gekrümmt, was mich in Staunen versetzte, und jede Wand, jedes Gebäude wies Einschussspuren auf. Das Gesamtbild war für uns umso erschreckender, weil wir bis dahin die Folgen des Krieges, des Kampfes, in einer großen Stadt noch nie aus der Nähe gesehen hatten. Es war in meinem Alter von fünf Jahren überhaupt das erste Mal, dass ich so eine große Stadt sah. Alles kam mir unwahrscheinlich groß vor. Das breite Trottoir, auf dem kein Mensch zu sehen war, die breite und unendlich lange Straße, auf der kein Fahrzeug fuhr! Überall sah man nur Leere und in der Ferne die zahlreichen hohen und beschädigten Häuser. Der Bürgersteig an der breiten Doppelstraße schien kein Ende zu haben, aber meine Mutter, die mich an der Hand festhielt, ging einfach entschlossen weiter, bis wir bei einem großen Gebäude angekommen waren. Dieses war auch leer. Keinen Menschen haben wir darin gesehen. Wir haben viele Stockwerke mit langen Korridoren abgesucht, bis wir endlich eine Person angetroffen haben. Es war eine Krankenschwester in Zivil, die gerade von der anderen Seite des Flures hereingekommen war. Nachdem sie erfahren hatte, warum wir da waren, führte sie uns in ein kleines Zimmer, machte einen weißen, schmalen Schrank aus Glas auf und holte ein kleines Fläschchen mit einer grünen Flüssigkeit heraus. Mit dieser hat sie alle meine Geschwüre eingepinselt. Als wir das Krankenhaus verlassen hatten, stand wieder der lange Rückweg durch die Stadt bevor. Wir sind erschöpft am Bahnhof angekommen und mussten wieder lange warten, bis wir mit einem Zug nach Hause fahren konnten. Die einfache Behandlung wirkte nach einer kurzen Zeit, die Geschwüre sind verheilt und es sind nicht mal Narben zurückgeblieben.
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Kurz vor Kriegsende, das war noch zu unserer Zeit in Bayern, sind meine beiden Brüder, damals sechs und elf Jahre alt, mit dem 16-jährigen Sohn eines Bauern mit einem Leiterwagen und einem Pferd hinaus auf eine Wiese gefahren.
Plötzlich hörten sie das Brummen von Motoren am Himmel, dicht gefolgt vom mechanischen Geräusch des Maschinengewehrfeuer. Vom Boden her donnerten auch plötzlich Geschütze und leuchtende Geschosse zischten in den Himmel, den Fliegern entgegen. In diesem Geschosshagel und Lärm standen die drei Buben völlig schutzlos, mitten auf der Wiese! Mein jüngerer Bruder Karl erlitt in diesem Augenblick einen Schock. Er fing an, sich wie in Trance um die eigene Achse zu drehen und lief plötzlich schreiend los. Dabei fiel er in einen nahe gelegenen Bewässerungsgraben. Er wurde mit großer Mühe von den beiden anderen Buben aus dem Graben gerettet. Ganz in der Nähe, am Rande der Wiese, war ein Schützengraben ausgehoben und mit Sandsäcken und Tarnnetzen befestigt worden. Von dort kamen der Geschützdonner und die leuchtenden Geschosse, die himmelwärts jagten. Die Soldaten in der Stellung entdeckten die drei Buben und winkten ihnen zu, damit sie nicht auf dem offenen Feld stehenblieben. Die drei Jungen in ihrer Angst und Panik nahmen jedoch nichts weiter wahr als den Lärm und die Gefahr um sich herum. Letztendlich entdeckte einer von ihnen die winkenden Soldaten und sie liefen auf die Gräben zu. Dank der Hilfe der Soldaten überlebten alle den Angriff.
Das erlebte Trauma löste bei meinem jüngsten Bruder Herzbeschwerden aus. Er musste sein ganzes Leben lang Herzmedikamente einnehmen. Nachdem wir nach dem Krieg wieder in Bielitz angekommen waren, wurde er eines Morgens bewusstlos. Er kam in die Küche und kippte plötzlich um. Karl und ich haben jahrelang jede Nacht im Schlaf geschrien. Ich erinnere mich, wie mein Bruder noch mit 16 Jahren so unruhig geschlafen hat, dass er jede Nacht aus dem Bett fiel. Ich musste in der Früh durch sein Zimmer gehen und fand ihn meist auf dem Boden schlafend. Was mich persönlich betrifft, so wachte ich bis in meine Dreißigerjahre hinein nachts oft noch mit Geschrei auf.
Mein Bruder Karl im Alter von 16 Jahren, Swiebodzin 1955