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Kurz nach unserer Rückkehr nach Bielitz erkrankte mein älterer Bruder schwer. Meine Eltern ließen sofort einen Arzt namens Dulawa rufen, der in der Stadt schon vor dem Krieg sehr bekannt und hochgeschätzt war. Er war immer zu meinen erkrankten Geschwistern gerufen worden. Der Arzt war Jude und hatte glücklicherweise den Krieg überlebt. Trotz seiner direkten Art mit Menschen umzugehen, war er in der Stadt beliebt.
Doktor Dulawa konnte auch diesmal meinem Bruder helfen und nach der Heilung war es ihm sogar gelungen, ihn durch seine alten Verbindungen in einem Sanatorium unterzubringen. Dort ging seine Genesung schnell voran und mein Bruder schoss förmlich in die Höhe.
Jetzt nach dem Krieg haben meine Eltern den Arzt oft eingeladen, um über das Erlebte im Krieg zu sprechen. Während eines Besuches beklagte sich meine Mutter, dass wir im Krieg alles verloren haben. Damit meinte sie die Firma meines Vaters und unseren ganzen Besitz …
Der Arzt erwiderte sichtlich mit sich ringend;
– Was sagst du da …?
– Alles verloren?
– Nichts hast du verloren! Du hast deinen Mann und alle deine Kinder behalten!
– Ich habe alles verloren!
– Meine ganze Familie wurde in Auschwitz umgebracht! Nur ich habe überlebt …

Das Haus in der Mackensenstraße 11
Nach unserer Rückkehr in das Haus in der Mackensenstraße haben wir dort kein einziges bekanntes Gesicht angetroffen. Nur die polnische Hausmeisterfamilie, die vor dem Krieg und währenddessen im Haus gewohnt hatte, war noch da. Die ersten Tage nach unserer Rückkehr haben wir beim Vater unserer Mutter verbracht, der uns in der Not aufgenommen hat. Nachdem wir die Zuteilung in die Wohnung bekommen hatten, haben wir jeden Tag unsere Habseligkeiten auf einem kleinen Zweiräderwagen dorthin gefahren. Ich erinnere mich noch genau an unsere erste Begegnung im Haus. Die Hausmeisterin hatte gerade das Trottoir vor dem Anwesen gekehrt und als sie uns erblickte, war sie erschrocken und schleunigst verschwunden. Sie bekam Angst, weil sie mit der Plünderung unserer Wohnung zu tun gehabt hatte.
Die alte Betonbrücke in der Nähe des Hauses Nummer 11,
die 1902 erbaut und 1945 von den Nazis in die Luft gesprengt wurde

Meine Eltern haben aber die beiden Hausmeister nie darauf angesprochen. Später, als meine Mutter eine Nachbarin aus dem Haus in der Stadt traf, erfuhr sie von dieser, dass der Hausmeister zusammen mit seinem Schwiegersohn das Piano unserer Mutter nach unserer Flucht aus der Wohnung abtransportiert hatte.
Kinder aus dem Haus Kosciuszki-Straße 11, Bielitz 1950

Das Bild zeigt Kinder, die den Krieg überlebt haben, aber aus einer ganz anderen Region Polens nach Bielitz kamen. Das größte ist mein Bruder Fritz. Direkt vor ihm steht mein Bruder Karl, das Mädchen davor bin ich.
***
Nachdem Deutschland den Krieg verloren hatte und die Polen an die Macht kamen, waren die Deutschen in der Stadt nicht gern gesehen. Die Atmosphäre in der Stadt hatte sich total verändert. Als wir nach Bielitz zurückgekommen waren, hatte sich mein Vater sofort bei der polnischen Polizei gemeldet, obwohl ihm die politische Lage bewusst war. Die Polizisten haben nicht schlecht gestaunt, als sie einen Deutschen vor sich stehen sahen. Sie konnten seinen Namen nicht lesen, nicht aufschreiben, und nicht begreifen, dass er sich traute, in die Stadt zurückzukehren. Obwohl mein Vater kein perfektes Polnisch sprach, konnte er sich mit ihnen verständigen, und er nannte ihnen einige Polen, mit denen er vor dem Krieg zusammengearbeitet hatte. Mein Vater war ja wegen der Gießerei genauso in der Stadt bekannt wie sein Vater, und beide haben einen guten Ruf in der Stadt genossen. Darauf baute mein Vater jetzt, und er wartete, bis die polnischen Polizisten die genannten Personen aufgesucht und befragt hatten. Einige von ihnen, die meinen Vater näher kannten, haben sogar bestätigt, dass die Nazis meinem Vater seine Firma weggenommen hatten, weil er nicht in die Hitlerpartei hatte eintreten wollen. Nachdem sie die Bestätigung dafür hatten, dass mein Vater sich nichts zu Schulden hatte kommen lassen, ein guter Vorgesetzter und während des Krieges parteilos geblieben war, haben sie ihn gehen lassen und er kam an diesem Tag beruhigt nach Hause zurück. Er war sichtlich erleichtert.
Wenige Tage darauf wurde mein Vater benachrichtigt, dass er sich beim Geheimdienst melden sollte. Vor diesem Termin hatte mein Vater aber große Angst, da in der Stadt Gerüchte umgingen, dass die Befragungen dort mit Schlägen und Folter einhergingen. Im Nachhinein waren die Sorgen, zumindest für ihn, unbegründet geblieben. Er kehrte nach dem Termin auch wohlbehalten nach Hause zurück. Das Wichtigste nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt war also erledigt.
***
Die Eltern meines Vaters hatten insgesamt sechs Kinder gehabt. Die drei ältesten haben sie verloren, sie waren an Keuchhusten erkrankt und da es Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kein Mittel dagegen gab, sind alle drei in kurzen Abständen gestorben. Danach kamen mein Vater Friedrich, geb. 1903, sein Bruder Viktor, geb. 1905, und seine Schwester Hedwig, geb. 1911, zur Welt, alle in Bielitz.
Nach unserer Rückkehr aus Bayern holte unser Vater seine Mutter zu uns. Sie war sehr verändert, schweigsam und in sich gekehrt. Ich ließ sie aber nicht in Ruhe, ich wollte so viel von ihr erfahren. Und eines Tages hatte ich sie so weit und sie fing an zu erzählen, dass mein Vater mit fünf Jahren schon Bücher gelesen hat, bevor er in der Früh zur Schule ging. Ich erfuhr auch, dass er in der Grundschule zweimal eine Klasse übersprungen hat. Den Krieg erwähnte sie mit keinem Wort. Nachher hatte mein Vater die Gewerbeschule in Bielitz besucht, aber das wusste ich schon von ihm selbst. Dort hat er die Examina zum Abschluß der Gewerbeschule bestanden und aufgrund seiner Jugend, schickte ihn sein Vater in die Schweiz, wo er bei Christiansen studierte und den Titel Maschinenbauingenieur erwarb.
Die Gewerbeschule in Bielitz

Mein Großvater hat gut für seine beiden Söhne gesorgt. Der Bruder meines Vaters, Viktor, hat in Wien studiert und wurde Förster in Jankowitz bei Pleß in Oberschlesien. Er war ein sehr naturverbundener Mensch, der sich keinen anderen Beruf vorstellen konnte. Nach seinem Studium wurde er Angestellter des Fürsten von Pleß, der ihm sein Reservat mit Auerochsen in Jankowitz anvertraute. Meine Kindheitserinnerungen sind stark mit dem einzigen Onkel verbunden. Wir Stadtkinder hatten in der Kriegszeit die Ferien an Ostern und Weihnachten, jedes Jahr in Jankowitz bei Onkel Viktor und Tante Hilda verbracht. Sie hatten drei Kinder, Lydia, Ruth und Otto. Wir fuhren immer mit dem Zug von Bielitz nach Pleß und am Bahnhof wartete bereits der Knecht unseres Onkels auf uns. Im Sommer ist er mit einer großen Kutsche mit zwei eingespannten Pferden gekommen und im Winter mit einem großen Schlitten. Er versorgte uns mit Lammpelzen, damit uns während der Fahrt nicht zu kalt wurde. Der Weg in die Försterei führte uns durch den verschneiten Wald in das Paradies des Onkels. Das war eine besondere Fahrt, ein Erlebnis, das mich sehr beeindruckte, und das Klingeln der Glöckchen an den Pferdeköpfen empfand ich immer wie eine Melodie, die mich träumen ließ.
Was ich auch nicht vergessen habe, sind die beeindruckenden, langen Spaziergänge im Sommer durch den schattigen, geheimnisvollen Wald, in dem uns das Jubilieren der Vögel entzückte. Dabei waren immer die beiden Dackelhunde Susi und Atti, die wir Kinder so liebten.
Mein Onkel Viktor,
geb. 1905

Mein Vater Friedrich,
geb. 1903

Nachdem sich mein Vater nach unserer Rückkehr aus Bayern bei den polnischen Behörden in Bielitz gemeldet hatte, fuhr er nach Jankowitz zu seinem Bruder Viktor. In der Försterei fand er aber einen neuen Förster vor. Mit einem schrecklichen Gefühl im Herzen fuhr er sofort weiter nach Teschen, um die Frau seines Bruders aufzusuchen. Er traf sie tatsächlich mit den Kindern bei ihrer Mutter, bei der sie Zuflucht gesucht hatte. Hier erfuhr er von unserer Tante Hilda die schreckliche Wahrheit. Die Russen hatten seinen Bruder verhaftet und in die Gefangenschaft nach Russland verschleppt! Unserer Tante blieb nichts erspart. Im Sommer des Jahres 1947 hatte sie ihre ältere Tochter Lydia durch einen Blitzschlag verloren. Sie hatte gerade die Grundschule als Klassenbeste absolviert und alle Klassen der Schule waren zur Beisetzung gekommen.
Viele Monate später sind einige Gefangene aus Russland zurückgekommen, darunter auch jemand aus Jankowitz. Er behauptete, dass er bei meinem Onkel war, als dieser gestorben war. Die Umstände der Gefangenschaft hätte er sehr schlecht ertragen und sehr unter der Sehnsucht nach seiner Familie gelitten. Unsere Tante konnte sich mit den Nachrichten nicht abfinden und wartete noch jahrelang auf seine Rückkehr. Tatsache ist, dass seine Kinder ihren liebevollen Vater verloren hatten, wir den besten Onkel, den man sich vorstellen kann und unser Vater seinen einzigen Bruder.
Der Krieg hatte alles zerstört! Und es gab keine schönen Aufenthalte im Wald mehr. Wir mussten uns mit dem schmerzhaften Verlust ebenso wie mit den Kriegserlebnissen abfinden. Der Schmerz ist geblieben, aber auch die schönen Kindheitserinnerungen an das Paradies im Wald bei Pleß. Die wenigen Fotos aus der Zeit, die wir bei Onkel Viktor verbracht haben, sind uns Kindern nach dem Krieg und dem Verlust des Onkels sehr wichtig geworden. Sie haben plötzlich eine besondere Bedeutung für uns bekommen. Hier ein paar Bilder aus der glücklichen Zeit, die wir trotz Krieg bei Onkel Viktor erleben durften.
Die Auerochsen im Reservat Jankowitz bei Pleß

Die Mutter meines Vaters, Maria O., geb. am 28. 09. 1878 in Teschen, mit ihrem
Sohn Viktor und seinen Kindern Ruth und Otto. Ein Bild aus den letzten gemeinsamen
Sommerferien in seiner Försterei in Jankowitz. Kurz darauf ist meine Familie
vor der russischen Armee geflüchtet.

Otto bei der Jagd

Der Abschied – Fritz und Otto

Die letzten Ferien in Jankowitz, Sommer 1943

Der Abschied, Sommer 1943. Meine Eltern und alle sieben Kinder,
Toni, Lydia, Ruth, Fritz, Karl, Otto und Maria.

***
Nach unserer Rückkehr dauerte es nicht lange und unser Vater wurde von der Zentralregierung Polens nach Warschau eingeladen. Nach der Anmeldung und einem sachlichen, kurzen Gespräch wurde er gebeten, sich beim Industrieministerium zu melden. Ab diesem Zeitpunkt war mein Vater kein freier Mensch mehr. Er erhielt den Auftrag, die durch den Krieg zerstörte industrielle Infrastruktur wieder aufzubauen. Zu diesem Zweck hatte man das Büro für Wiederaufbau gegründet, welches mein Vater leiten sollte. Man gab ihm noch drei Ingenieure als Mitarbeiter. Hauptthemen waren zunächst die zwei Häfen an der Ostsee und deren Wiederaufbau. Anschließend sollten die Hütten und Gruben in Schlesien wieder in Betrieb genommen werden. Im Laufe der folgenden Jahre musste mein Vater die zerstörten Fabriken und Betriebe in verschiedenen polnischen Städten wiederaufbauen lassen und das Ganze beaufsichtigen. Das Ministerium, dem er jetzt unmittelbar untergeordnet war, schickte ihn durch ganz Polen, von einer Stadt zur nächsten, und schließlich mussten wir 1953 Bielitz verlassen und nach Breslau umziehen. Mein Vater war ein guter Organisator, er arbeitete effizient und schnell. Innerhalb von zwei Jahren konnten alle Fabriken in Breslau wieder in Betrieb genommen werden. Mein Vater arbeitete schon ein Jahr in Breslau, als er unsere Familie nachkommen ließ. Ein Jahr konnten wir dort gemeinsam mit unserem Vater verbringen, danach wurde er schon in die nächste Stadt, nach Swiebodzin bei Posen abkommandiert. Beim Umzug nach Breslau waren meine älteren Geschwister Toni und Fritz schon außer Haus, ich war vierzehn und Karl fünfzehneinhalb Jahre alt, als wir nach Breslau umziehen mussten.
Das Team für den Wiederaufbau Polens (links mein Vater mit 44 Jahren)

Kapitel 2
Nördlich von meiner Heimatstadt Bielitz liegt die kleine Industriestadt Mikolow, die in den Sechzigerjahren ungefähr 22.000 Einwohner hatte. Es ist eine sehr alte, aber schöne und ruhige Stadt, die damals mit vielen Blumenrabatten geschmückt war. Das Zentrum der Stadt bildete ein großer Platz vor dem Rathaus, der damals noch mit Katzenkopfpflaster ausgelegt war. Um diesen herum befanden sich Lebensmittelgeschäfte, eine Apotheke, ein Restaurant, ein Kräutergeschäft und in einer schmalen und kurzen Gasse, die zum Rathaus führte, das einzige private Geschäft der Stadt, in dem ich Getreide kaufen konnte. Auch eine Buchhandlung und die Stadtbibliothek waren im Zentrum zu finden. Außerhalb befanden sich das Krankenhaus, das Kreisgericht und das Gymnasium, das meine beiden Töchter in den Siebzigerjahren besucht haben. Das Flair der Stadt hatte damals noch etwas Mittelalterliches.
Fünfzehn Minuten Busfahrt von der Stadt Mikolow entfernt liegt das kleine Städtchen Laziska Gorne, in das ich im Jahre 1964 mit meinen beiden kleinen Kindern zog. Hier wohnten überwiegend Bergmänner, die in der Grube „Boleslaw Smialy“ beschäftigt waren, mit ihren Familien. Da meine Kinder ein Altersunterschied von vier Jahren trennt, musste ich acht Jahre lang um 06:30 Uhr in der Früh zum einzigen Kindergarten gehen, der zur Kohlengrube gehörte, und danach weiter zur Bushaltestelle am Rathaus eilen, um den Bus um 7:05 nach Mikolow zu erwischen. Auf dem großen Platz im Zentrum dieser Stadt befand sich eine Bushaltestelle, wo ich nach Tychy umsteigen musste. Ich habe dort im Gesundheitsamt gearbeitet, und wenn es mir gelang, um halb acht in Mikolow umzusteigen, bin ich trotzdem jeden Tag zwanzig Minuten zu spät im Amt angekommen. Unannehmlichkeiten habe ich deswegen aber nicht bekommen, weil der Chef wusste, dass es für mich keine andere Verbindung gab.
Die rot bemalten Busse hatten damals noch ganz einfache Türen, die man selber aufmachen und schließen musste. Die Busse waren nicht immer pünktlich und jeden Tag gab es dasselbe Theater auf der weiteren Fahrt nach Tychy. Der Bus war in den Morgenstunden dermaßen überfüllt, dass die Menschen wie Trauben an den Treppen hängenblieben, um weiterzukommen. Der nächste Bus ist erst nach zwanzig Minuten gekommen und die meisten Bewohner der Stadt waren auf den Bus angewiesen, wenn sie nach Tychy oder weiter nach Bierun oder Auschwitz fahren wollten. Nur wenige Menschen konnten sich in den Sechzigerjahren ein Auto leisten. Es war ein Kampf hineinzukommen und ich musste oft auf einem Bein zwischen den anderen Passagieren stehen. Der Busfahrer, der sich an den Fahrplan halten wollte, hat den überfüllten Bus bei offenstehenden Türen in Fahrt gebracht, und die an der Treppe dicht aneinandergedrängten Menschen haben sich an den Innengriffen der Türrahmen festgehalten, die jederzeit abbrechen konnten. In Tychy angekommen hatte ich noch zwanzig Minuten zu Fuß zum Amt. Obwohl ich mich sehr beeilen musste, habe ich den Weg genossen, weil ich durchatmen konnte.
Es waren extrem schwere Jahre für mich, die ich durchhalten musste. Ich war aber jung und gesund, und an jedem späten Abend war ich froh, wenn ich mit allen Pflichten und geplanten Arbeiten fertig geworden war. Das Haus, in dem ich die kleine Wohnung bekam, war ein Neubau, aber es hatte keine Zentralheizung. Jeden Abend, wenn die Kinder schon schliefen, holte ich die Kohle für den nächsten Tag in den zweiten Stock, und mit dieser Tätigkeit war der Tag für mich erst abgeschlossen. Das waren Jahre ohne freie Wochenenden und Urlaub.
Meine einzige Schwester Toni, die neun Jahre älter war als ich, wohnte damals mit ihrem Mann Kurt und den beiden kleinen Kindern Halinka und Kornelius in der Stadt Beuthen, die nahe der Stadt Katowice liegt. Seitdem meine Schwester das Elternhaus in Bielitz mit neunzehn Jahren verlassen hatte und mit ihrem Mann nach Beuthen gezogen war, pflegte sie einen engen Kontakt zu mir. Ich war erst zehn Jahre alt gewesen, als sie uns verlassen hatte. Sie besuchte mich aber in Bielitz regelmäßig mit Kurt, der damals den Militärdienst als Deutscher unter der Erde in einer Grube in Beuthen leisten musste. In den späteren Jahren lief der Kontakt per Telefon während der Arbeit im Büro oder wir tauschten Briefe aus. Das war in der Zeit, in der sehr wenige Menschen sich ein Telefon zu Hause leisten konnten. Wir haben uns trotzdem unser Leben lang nicht aus den Augen verloren.
Im Jahre 1968 wollte ich mit meinen beiden Kindern, die fünf und neun Jahre jung waren, in meinen ersten Urlaub fahren. Ich habe von der Firma meiner Schwägerin kostenlos ein Campinghäuschen, das sich in den Bergen befand, zur Verfügung gestellt bekommen. Ein solches Angebot wollte ich mir nicht entgehen lassen. Als ich meiner Schwester von dem Urlaub erzählte, fragte sie mich plötzlich, ob ich ihre Tochter Halinka mitnehmen würde. Ich habe mir bei der Frage nichts gedacht, wunderte mich aber, dass sie keinen Urlaub für diesen Sommer planten. Ich war natürlich einverstanden, und so bin ich dann mit meinen Kindern und der damals zwölfjährigen Halinka in die Berge in die kleine Touristenstadt Weishell gefahren, die an der südlichen Grenze Polens lag. Aus dem Zentrum der kleinen Stadt führte uns ein steiler Weg zu unserem Urlaubsziel. Es hat genieselt und fast eine Stunde lang gedauert, bis wir mit unseren Rucksäcken auf dem Berg angekommen waren. Auf dem kleinen Campingplatz auf der Alm befanden sich circa zwölf kleine Campinghäuser. Rundherum stand ein dichter Wald und neben den Häusern sprudelte ein Bach. Einfach herrlich! Es war kein Mensch zu sehen. Das Campinghaus war klein und die Ausstattung bescheiden. Wir hatten vier einfache Klappbetten zur Verfügung, weiters standen ein kleiner Tisch und vier Stühle darin. Zum Kochen gab es einen kleinen Kocher mit einer Platte. Das alles hat mich aber nicht erschreckt. Wichtig war, dass die Kinder aus der Stadt weg waren und die frische, kristallreine Luft atmen konnten. Die Kinder haben sich schnell eingelebt, der dichte Wald, der sprudelnde Bach, das waren natürlich Attraktionen für die Kinder und sie haben trotz des Nieselns Stunden am Ufer spielend verbracht, und die kleinen, zahlreichen Salamander haben zusätzlich Spaß gemacht. Jeden Tag nach dem Frühstück haben wir uns alle gleich auf einen Wanderweg begeben und die Bauern in der Gegend aufgesucht, um Eier, Butter und Quark einzukaufen. Den bescheidenen Rest wie Obst und Brot haben wir aus dem Städtchen holen müssen. Da hatten wir schon nach unserer Rückkehr den halben Tag hinter uns. Während ich mich schnell um das Mittagessen kümmerte, haben die Kinder am Bach gespielt und ich freute mich, dass sie dort so viel Spaß hatten. Nachdem das Mittagsessen auf dem Tisch stand, ging ich zum Bach, um die Kinder zu holen und zu sehen, was sie sich da aus den Steinen alles gebaut und einfallen lassen hatten. Ich staunte, die Kinder hatten Fantasie! Die Beschäftigung mit den Steinen hat die Kinder doch am Bach gehalten und machte sichtbar Freude. Die Sonne wollte sich in diesen Tagen nicht richtig zeigen, es hat überwiegend genieselt und war kühl. Die Kinder haben ständig die Pelerine tragen müssen, aber das hat sie nicht gestört. An all den Tagen hatte ich keine Urlauber auf der Alm und auf den Wegen durch die Berge getroffen. Zum Nachdenken hatte mich die Tatsache nicht gebracht, ich dachte, dass die Leute sich einfach im Campinghaus die Zeit vertrieben oder unterwegs waren.
Ich hatte mit den Kindern kaum eine Woche in den Bergen verbracht, da weckte mich eines Tages – um 03:00 Uhr in der Früh – eine heftige Detonation! Sie war ganz nah und die Angst raubte mir sofort den Atem. Da ich wie ein Hase schlief, bin ich gleich erschrocken aus dem Bett hochgesprungen und ging wie ich war vor das Häuschen. Plötzlich hörte ich die nächste Detonation und Schüsse! Was war da los? Die Geräusche kamen von ganz nah. Dann schaute ich endlich genauer hin und merkte, dass an allen Campinghäusern eine Kette mit einem Vorhängeschloss hing! Das hat mich noch zusätzlich erschreckt, weil mir in diesem Moment klar wurde, dass ich mit den Kindern alleine auf der Alm war! Die Kinder haben tief geschlafen und nichts mitbekommen. Ich fing schnell an, unsere Sachen zu packen und das Frühstück vorzubereiten. Das schlechte Wetter war Ausrede genug, um den Urlaub abzubrechen. Erst bin ich mit den Kindern zu meinen Eltern nach Tychy gefahren, und als ich erzählte, was ich in der Früh erlebt hatte, sagte der Vater zu mir: „Bei uns haben die Fensterscheiben gezittert, wir haben es auch mitgekriegt.“ Mehr wollte er vor den Kindern nicht sagen, nur, dass ich zu Hause Radio einschalten sollte. Die Eltern haben jeden Tag die Nachrichten im Radio verfolgt und wussten, was los war. Dann zeigte mir die Mutter einen Brief von Toni, der grade angekommen war. Er war an mich adressiert. Ich machte schnell den Umschlag auf und las folgende Worte: „Liebe Maria, bitte kümmere Dich um unsere Halinka! Wir sind in den Urlaub nach Österreich gefahren und kommen nicht mehr zurück.“ Diese Nachricht hat das Kind nicht erschreckt, es schien, dass es sie noch nicht so richtig verstand.