- -
- 100%
- +
Auf Sieglindes Gesicht machte sich Erleichterung breit. Sie war froh, eine Aufgabe zu haben und das Zimmer verlassen zu können.
»Luzia, ich bitte dich, so hilf mir doch! Ich glaube nicht, dass ich den Sonnenaufgang noch erleben werde«, flehte die werdende Mutter mit leiser Stimme, dabei wirkte sie so müde und kraftlos, dass Luzia sich ernsthafte Sorgen machte. Anselmas Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Unheilvoll kündigte sich bereits die nächste Wehe an. Irmtraud kam mit zwei Talglichtern ans Bett, und Luzia konnte besser sehen, wohin ihre Hände griffen.
»Ich halte diesen Schmerz nicht mehr länger aus! Bitte mach, dass es aufhört«, bettelte Anselma hilflos, bevor sie in dem vergeblichen Versuch, den Schmerz zu ersticken, die Luft anhielt.
Luzia nickte ihr zu, ihre Hände, die immer noch kalt und steif waren, fanden ihren Weg zu Selmas Bauch. Behutsam legte die Wehmutter ihre Handflächen auf die heiße, zum Bersten gespannte Haut. Sie spürte den kühlen Schauer, der die Gebärende durchlief. Mit einem Ausatmen lehnte Anselma sich zurück in das Kissen, ihre Anspannung ließ leicht nach. Luzias Hände lagen immer noch auf Selmas Bauch, und nun setzte ein wohliges Kribbeln unter ihren Händen ein. Während Anselmas Schmerz durch ihren eigenen Leib strömte, schloss die junge Wehmutter die Augen. Bald löste sich die Gebärende aus dem eisernen Griff der Angst.
Luzia sah Anselmas fragenden Blick. Was war da gerade mit ihr geschehen?, fragte dieser Blick. Und woher kam das helle Glitzern in den Augen der Hebamme? Luzia spürte, dass Anselmas Schmerz erträglicher wurde, und schöpfte neuen Mut.
Jetzt durfte Luzia keine weitere Zeit mehr verlieren. Ihre kundigen Finger tasteten behutsam und fest zugleich. Stück für Stück wanderten sie über Anselmas Bauch. Wo die Wehmutter die kleinen Füße des Kindes spüren sollte, befand sich der lange, fast ausgestreckte Rücken. Während sich der, Kopf auf der rechten Bauchseite der werdenden Mutter abzeichnete, befanden sich die Füße links. Das Kind lag falsch! Aus dieser Lage konnte es niemals geboren werden. Solange das Kleine quer im Mutterleib lag, waren die Wehen wirkungslos. Einzig eine Drehung konnte bewirken, dass sie ihren Zweck erfüllten und dem Kind ans Licht der Welt halfen. So brachten sie Anselma nur sinnlose Qualen. Wenn jetzt nichts geschah, würden die Wehen bald schwächer werden und dann würden sie wirklich Pater Wendelin brauchen. Luzia spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat.
»Große Mutter, steh uns bei! Ich bitte dich, hilf mir und führe meine Hände«, betete Luzia stumm.
Sie erschrak, als sie die tanzenden Schatten an der Wand entdeckte. Schwarz und unheimlich krochen sie immer näher. Luzia meinte, sie kichern zu hören.
Entschlossen rief sie nach der alten Wachterin und reichte ihr ein kleines, prall gefülltes Flachsbeutelchen. »Das ist Beifußkraut. Bereitet daraus einen sehr starken Aufguss, rasch! Wenn Ihr etwas weißen Wein im Haus habt, wäre das noch besser als Wasser.«
Das schwere, erdige Aroma des Beifußes breitete sich schnell in der niedrigen Kammer aus. Flink warf die Hebamme ein paar Samen des Bilsenkrauts in den dampfenden Becher und gab ihn Anselma zu trinken. Bilsenkraut nahm den Schmerz und entführte den Geist in selige Welten. Zuviel davon brachte allerdings den Tod! Als sie sicher sein konnte, dass die leicht berauschende Wirkung Selma beruhigt hatte und ihr weher Leib betäubt war, fettete Luzia ihre Hände mit Schweineschmalz. Vorsichtig, ganz behutsam glitten ihre Hände in Anselmas Leib. Die Wehen hatten dafür gesorgt, dass sich die Geburtswege unter Luzias Händen weich und weit anfühlten. Dank des Bilsenkrauts verspürte Anselma nur ein leichtes Ziehen im Leib. Obwohl sie ahnte, was die Hebamme tat, dass ihre Hände sich an einem Ort befanden, den nicht einmal sie selbst berührte, lag Anselma völlig still.
Luzia wollte versuchen das Kind im Mutterleib zu drehen. Sie fühlte den kleinen, festen Kopf, einen kleinen Arm und ein angezogenes Beinchen. Schweiß floss ihr in einem dünnen Rinnsal von der Stirn, den Hals entlang und sammelte sich zwischen ihren Brüsten. Ein paar Strähnen ihres roten Haares klebten feucht an ihren Schläfen. Der kupferartige Geruch von Blut stieg ihr in die Nase. Luzia griff nach dem Köpfchen, um es nach unten zu drehen. Gleichzeitig versuchte sie den winzigen Körper dazu zu bringen nach oben zu gleiten. Doch immer wenn sie glaubte, jetzt könnte es ihr gelingen, drehte sich das Kind zur Seite. Ähnlich einem kleinen Fisch entglitt ihr das Ungeborene wieder und wieder. Wenn sich das kleine, aalglatte Körperchen einen Zentimeter bewegen ließ, rutschte es im nächsten Augenblick wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. Luzia wusste, dass allmählich die Zeit knapp wurde. Anselma wurde zunehmend unruhig, denn die Wirkung des Bilsenkrautes ließ schon wieder nach. Allzu oft durften ihre Versuche jetzt nicht mehr misslingen. Aus den Augenwinkeln sah Luzia, wie die finsteren Schatten über die Wände leckten und sie verhöhnten. »Bist eine dumme Gans«, geiferten sie im Chor.
Als sie erneut den kleinen Kopf nach unten drehen wollte, spürte sie, dass die Nabelschnur um den Hals des Kindes lag. Das Kind würde sterben, wenn es nicht bereits tot war. Welch eine Ironie, wenn die pulsierende Lebensader gleichzeitig den Tod brachte. Ihr schwand der Mut.
»Großer Gott, hilf uns! Du kannst uns jetzt nicht im Stich lassen.« In einem letzten Versuch gelang es ihr, einen Finger zwischen den winzigen Hals des Ungeborenen und die todbringende Schlinge zu bringen.
Luzias Mund fühlte sich an, als habe sie Sand gegessen. Als sie auf ihre Unterlippe biss, schmeckte sie warmes Blut auf ihrer Zunge. Es verursachte ihr fast Übelkeit. Doch nun spürte sie auch das Pulsieren der Nabelschnur. Das Kind lebte!
Jetzt zählte jeder Augenblick. Jeder hoffnungsvolle Atemzug. Jeder wertvolle Herzschlag. Hinter ihr leierten die alte Wachterin, Irmtraut und Sieglinde ihre Gebete herunter: »Ave Maria, gratia plena … Sancta Maria, Mater Dei …« Luzia spürte ihre Blicke auf sich ruhen. Auch ihnen war nicht entgangen, dass die Zeit verran.
»Gib nicht auf, du bist auf dem rechten Weg!«
Luzia hob ruckartig den Kopf und sah auf die Feuerstelle. Das Flüstern war aus den Flammen gekommen. Ein kaum sichtbares Lächeln umspielte ihren Mund.
Jetzt suchte sie nach dem Augenblick. Der winzigen Lücke in den mächtigen Speichen im Rad der Zeit, in welche sie mit Gottes Hilfe den Stab des Schicksals senken konnte. Nur einen Atemzug. Und noch einen. Die Minuten verrannen. Und da, endlich vermochten Luzias Finger das Kleine zu greifen und es schließlich im Bauch der Mutter zu drehen, wobei sie die Nabelschnur über den Kopf des Kindes gleiten ließ, damit sie keinen Schaden mehr anrichten konnte.
Dann ging alles sehr schnell, und nach drei weiteren Wehen, die Selma zwar Schmerzen bereiteten, sie aber nicht in die tiefsten Abgründe rissen, gebar sie ihr Kind aus eigener Kraft. Luzia nahm das Kleine in Empfang.
»Da haben wir ja den neuen Erdenbürger!« Triumphierend hielt die Wehmutter das neugeborene Menschlein, das sich mit kräftiger Stimme über die kalte, ungewohnte Umgebung beklagte, in die Höhe. So konnte auch Selma einen ersten Blick auf ihr Kind werfen. Als sie sah, dass sie einen Jungen geboren hatte, fiel die Erleichterung noch um einiges größer aus. »Ein Bub, es ist ein Bub!«, rief sie erleichtert.
Selbst die alte Wachterin, deren schlohweißes Haar ihr mittlerweile in wilden Büscheln um den Kopf stand, schien mit dem Ausgang der Geburt sehr zufrieden. Mit einer Regung, welche einem Lächeln schon sehr nahe kam, segnete sie die junge Mutter und das Neugeborene, indem sie beiden ihre Hand auf die Stirn legte.
Mit sanften Berührungen umfingen Luzias Hände den rosigen, kleinen Körper und hoben ihn in sein erstes Bad. Zart strichen ihre Finger über die kleinen Augen, die noch geschlossen waren. Zufrieden entspannte sich das Neugeborene von seiner langen Reise.
»Du bist wunderschön«, flüsterte Luzia.
Der Knabe öffnete seine tiefblauen Augen und schaute sie an, als verstehe er jedes Wort.
Luzia wickelte das Kind in Leinen, ehe sie es Anselma in die Arme legte. Im Anschluss warf sie mit sicherer Hand trockenes Holunderholz in die glimmenden Kohlen des Wärmebeckens. Eine kleine Flamme entstob den rot glühenden Kohlen. Ganz offensichtlich betrachtete Perchta ihr Opfer mit Wohlwollen. »Weise Mutter, ich danke dir für dein unerschöpfliches Wissen. Nimm das heilige Holz des Holunders und behüte Mutter und Kind. Schütze sie vor allem, was ihnen Böses will.«
Inzwischen brachte die Altmutter den frischen Schilfgrassack. Traditionell wurden ihm die Kräuter des Frauenbündels beigemischt. In der Regel handelte es sich um Labkraut, Quendel, Leinkraut, Dost, Weidenröschen, Kamille, Gundelrebe, Frauenmantel und Johanniskraut, die von den Frauen zwischen Sommersonnwende und den Hundstagen gesammelt wurden. Auf diese Weise hielt die große Mutter durch ihre heiligen Schätze ihre schützende Hand über die Wöchnerin und ihr Neugeborenes. Die wertvollen Heilpflanzen bewahrten Mutter und Kind auch vor den Druden. Vor den unheimlichen Nachtmahren fürchtete sich jeder. Sie krochen durch Schlüssellöcher und Fensterritzen, um die ungeschützten Menschenseelen zu entführen oder gegen ein Feenkind auszutauschen.
Luzia setzte sich einen Augenblick und nippte an dem Dünnbier, das ihr die Altmutter servierte.
Heilige Stille erfüllte die kleine Kammer, einzig durchbrochen von den leisen Atemgeräuschen und dem zarten Schmatzen des Kindes, das im Arm seiner Mutter lag. Diesem Moment wohnte immer etwas Heiliges inne.
Der Anfang jeden Lebens gleicht einem Wunder, dachte Luzia. Um dieses Wunder zu ermöglichen, durchschreitet die Frau alle Tiefen der Unterwelt. Sie bezahlt mit ihrem Schmerz, einem Herzen voller Angst und ihrem Schweiß. Erst wenn sie dem Tod als Unterpfand ein kleines Stück ihrer Seele überlässt, darf sie die heilige Flamme des Lebens weiterreichen. So lautet der Handel. Das ist der Preis.
2
Luzia bückte sich nach den leuchtenden Ringelblumen, die neben vielen anderen Heilpflanzen, Gemüsen und Blumen in Elisabeths Garten wuchsen.
»Calendula officinalis«, sagte sie und lächelte. Pater Wendelin bestand darauf, dass sie auch die lateinischen Namen aller Heilpflanzen kannte. Sie pflückte eine Handvoll Blütenköpfe und schüttelte dabei vorsichtig die Regentropfen der letzten Nacht ab. Sie würde aus den Blüten eine Salbe bereiten und etwas davon dem Pater bringen. Er litt unter offenen Beingeschwüren.
Mit einem Korb voller Blüten betrat sie das kleine Fischerhaus von Jakob und Elisabeth. Die sanfte Kühle des dicken Gemäuers umfing sie angenehm und frisch. Wie die anderen Häuser in der Fischergasse war auch dieses aus weißen und in allen Grautönen schimmernden Flusssteinen errichtet. Das über die Jahre gedunkelte Fachwerk bildete einen lebhaften Kontrast zu den unbehauenen Steinen. Luzia ging in die Küche und legte die Blüten auf den Tisch. Sie öffnete die kleinen Fensterluken zur Seeseite hin und bemerkte Nepomuk, der ihr maunzend um die Röcke strich.
»Dann hat’s mit der Jagd wohl nicht geklappt? Na komm!« Sie stellte dem Kater ein Schüsselchen Milch hin und streichelte ihm über das Fell. Im Anschluss schüttelte sie die braunen Schaffelle aus, die auf den Bänken lagen, und rückte Holztisch und Sitzbänke zurecht. Im großen gemauerten Herd brannte schon ein Feuer für die Morgensuppe. Und bald kochte in dem verbeulten Eisenkessel ein dicker Dinkelbrei. Nur ihre Tante ließ noch auf sich warten. Sicher jätete sie noch das Unkraut unter den Essigrosen, denn noch war es nicht so unerträglich heiß, doch die Vorboten der Hitze waren schon jetzt spürbar. Nach dem Gewitter und den sintflutartigen Regengüssen der letzten Nacht würde es ein schwüler, drückender Tag werden. Dabei begannen die Hundstage erst in vier Wochen. Heute war schließlich erst der 21. Tag des Weidemonats im Jahre 1483. Heute war Sommersonnwende.
Luzia beeilte sich, denn sie hatte an diesem Tag noch viel zu tun. Sie machte einen kurzen Wochenbettbesuch in der Kreuzgasse und freute sich, dass die Wöchnerin wohlauf war. Dann sah sie bei der Schäferin vorbei, die ihr drittes Kind erwartete.
»Ein Kind zu Sonnwend. Das wäre schön«, sagte die junge Frau.
»Freu dich nicht zu früh!«, entgegnete Luzia lächelnd und hoffte, sie möge Recht behalten. Wie alle jungen Frauen und Männer wollte auch sie die kürzeste Nacht des Jahres feiern. »Ich glaube nicht, dass dein Kind schon heute kommt«, sagte sie, nachdem sie den Bauch abgetastet hatte. »Lass ihm nur noch ein wenig Zeit und ruh dich aus. Ich sehe morgen wieder nach dir.«
Sie ermahnte die beiden Töchter der Schäferin, gut auf ihre Mutter zu achten, dann machte sie sich auf den Weg den Hügel hinauf, der zusammen mit dem Wald und den Feldern Seefelden umschloss. Am Hang des Hügels fing sich die Sonne, hier wuchsen die besten Kräuter. Heilpflanzen, die zur Sommersonnwende gepflückt wurden, hatten besondere Kräfte. Jetzt musste gesammelt werden, was das Jahr über gebraucht wurde. Selbstverständlich waren die Kräuter für die Hebammentasche schon beisammen und zum Trocknen aufgehängt. Aber ihren eigenen Kräuterbuschen wollte Luzia unbedingt noch pflücken.
Sie lief den kleinen Berg hinauf und genoss den atemberaubenden Blick über das tiefblaue Wasser des Sees, der unter ihr lag. Vereinzelt tanzten ein paar Wellen auf der glatten Oberfläche. Im Osten erhoben sich riesige Berge. Viele von ihnen waren schneebedeckt. Auf den weißen Gipfeln der Eisriesen dauerte der Winter das ganze Jahr.
»Wie weit die Sicht von dort oben wohl sein mag?«, fragte sie Nepomuk, der sie wie immer begleitete. Doch der Kater beachtete sie nicht. Mit zuckendem Schwanz pirschte er sich an einen Kohlweißling heran. Er machte einen Satz auf das Insekt zu, verfehlte es aber und setzte dem davonfliegenden Tier in ausgelassenen Sprüngen nach. Luzia lachte still in sich hinein und bückte sich nach den ersten Johanniskräutern. Quendel und Kamille wuchsen hier im Überfluss. Den Beifuß, eines der wichtigsten Sonnwendkräuter, ließ sie stehen, er wuchs bei ihr zu Hause. Die Ringelblume ebenfalls. Nach Eisenkraut und Schafgarbe musste sie länger suchen.
Als ihr Arm nicht mehr Zweige fassen konnte, rief sie Nepomuk und machte sich auf den Heimweg.
Sie ging direkt in den Garten, weil sie dem heilbringenden Strauß noch eine große, gelbe Königskerze in die Mitte stellen wollte. Elisabeth stand neben der Kuhschelle und zupfte vorsichtig die blauen Blütenblätter ab.
»Luzia, da bist du ja«, rief Elisabeth und säuberte ihre mit Erde bedeckten Hände an der Schürze. »Pater Wendelin hat nach dir geschickt. Er klang sehr aufgeregt. Wie es scheint, haben ihm die Mönche des Klosters Reichenau ein paar neue Pflanzen geschickt und du sollst ihm beim Einsetzen helfen.«
»Dann wurde seine Geduld ja endlich belohnt«, entgegnete Luzia und legte die bunten Sonnwendkräuter auf die kleine Bank neben der Haustür. »Er wartet schon seit Tagen auf die Setzlinge, denn eigentlich ist die Pflanzzeit schon längst vorüber.«
Elisabeth lachte. »Wenn ich mich nicht täusche, bist auch du begierig auf die Schätze von der Reichenau«, neckte sie.
»Du weißt doch, wie gerne ich selbst einmal durch den Klostergarten des Walahfrid Strabo gehen würde.«
Elisabeth hoffte, dass Luzia einmal die Gelegenheit bekommen würde. Doch bei der Abtei handelte es sich nun einmal um ein reines Männerkonvent. Besucher waren zwar willkommen, ihnen gestattete der Abt auch die Messe zu besuchen und die Besucherräume zu betreten. Doch der Garten blieb ihnen verschlossen.
»Na dann geh schon und lass den Pater nicht mehr länger warten!«
Luzia nickte. »Sobald ich die Kräuter für die Sonnwendfeier versorgt habe.«
Elisabeth sah ihrer Nichte nach, als sie den bunten Strauß ins Haus trug. Sie dankte Gott für jeden Tag, den Luzia bei ihr und ihrem Mann wohnte. Luzia war ihr wie eine Tochter. Die einzige Tochter und ihr einziges Kind. Luzia war für Jakob und sie ein Geschenk des Himmels. Wenn sie an die Zeit seit jenem heißen Tag des Erntemonats vor sieben Jahren zurückdachte, konnte sie sich nur an Gutes erinnern. Anna, ihre engherzige Schwester, hatte die damals Dreizehnjährige von Ravensburg zu ihnen nach Seefelden gebracht. Als uneheliches Kind aus einer flüchtigen Nacht geboren, war Luzia ihrer Mutter vom ersten Tag an eher eine Last als eine Freude gewesen. Anna und Luzia waren wie Feuer und Wasser, daran hatte sich bis heute nichts geändert. Anna war froh, Luzia weit weg bei ihrer Schwester zu wissen. Wenn Elisabeth nur daran dachte, wie verdreckt und geschunden das Mädchen damals bei ihnen angekommen war. Doch in ihrem Hause war sie aufgeblüht. Wie eine Blume ihr Gesicht nach der Sonne dreht und gedeiht, so war Luzia in der Wärme und Fürsorge von Elisabeth und Jakobs Haus gediehen.
Schon als sie noch in Ravensburg gelebt hatte, war Elisabeth der kleinen Luzia nahe gewesen. Fremde hielten sie oft für Mutter und Tochter. Besaßen sie doch beide jenes rote, wilde Haar, welches sich nur mühsam bändigen ließ. Ebenso blickten beide aus wachen, fast veilchenblauen Augen immer eine Spur zu neugierig in die Welt. Selbst die weiblichen Formen schien Luzia sehr viel eher von ihrer Tante zu haben als von ihrer Mutter. Beide umgab eine sinnliche Aura der Warmherzigkeit und des Mitgefühls.
Als die Glocke von St. Martin zur Vesper läutete, rannte Luzia wie der Wind durch die Fischergasse zum Kirchplatz.
Sie betrat das kleine Pfarrhaus, und Pater Wendelin erhob sich von seinem Platz am Schreibtisch.
»Luzia, wie schön, dass du so schnell kommen konntest«, sagte Wendelin freudig. »Nun lassen wir die Bücher erst einmal liegen und wenden uns Wichtigerem zu!«
Luzia nickte und folgte dem Pater durch die kleine Schreibstube.
»Hier habe ich Euch noch ein wenig von der Calendulasalbe mitgebracht«, sagte sie und stellte das irdene Gefäß neben die anderen Behältnisse in das Regal neben dem Vorratsschrank. Hier verwahrte der Pater neben Weißdornwein und Spitzwegerichsirup noch weitere Schätze, die seiner Gesundheit dienten. »Legt sie zur Nacht als Salbenverband um Eure Unterschenkel, dann fällt Euch das Gehen bald wieder leichter.«
Wendelin nickte anerkennend. »Genau so werde ich verfahren. Danke mein Kind. Gott schütze dich.«
Luzia machte einen Knicks und bedankte sich für den Segen.
»Möchtest du dich vielleicht setzen und einen Schluck Bier oder zur Feier des Tages einen Schoppen Wein mit mir trinken?«
Luzia lehnte sein Angebot ab, wusste sie doch, dass er nur höflich sein wollte. Später würde noch genügend Zeit bleiben, ein wenig beisammenzusitzen.
»Lasst uns lieber sehen, was Euch die Brüder geschickt haben. Ich merke doch, dass es Euch unter den Nägeln brennt und Ihr es kaum erwartet, bis die grüne Pracht sicher und wohl in der Erde sitzt.«
Wendelin nickte zustimmend und rollte die Ärmel seiner Soutane zurück. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine vollen Lippen. »Zielstrebig und wissbegierig wie immer! So gefällt es mir. Gott hat seine Freude an den Menschen, aber allen voran an jenen, die mit Freude bei der Arbeit sind.« Mit beiden Händen schob er die junge Frau in den kühlen Wirtschaftsraum, der in den großen, sorgfältig angelegten Garten führte.
Als der alte Pater im angrenzenden Schuppen verschwand und es hinter den verwitterten Brettern lautstark rumorte, rührte sich auch in Luzia die Neugierde.
Nach kurzer Zeit rief er sie zu sich. Gemeinsam schleppten sie die schwere Holzkiste in den Pfarrgarten. Als sie die erdverkrustete Kiste neben dem weitläufigen Beet abstellten, reichte sie ihnen bis zum Knie. Der Pater wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann lachte er still in sich hinein und genoss Luzias erwartungsvollen Blick. Mit wenigen Handgriffen öffnete Wendelin den Deckel und bald strömte ihnen ein wunderbarer Duft entgegen. Würzig, holzig und sehr aromatisch. Luzia erschnupperte schwere balsamische Nuancen sowie frische Anklänge von Zitrone.
»Und, was sagst du zu unseren Schätzen?«, wollte der Pater wissen, während er sich die grobe Gartenschürze umband, um sein dunkles Gewand zu schützen. »Abt Johann von Nordstetten und Bruder Markus haben sich wieder einmal überaus großzügig gezeigt. Weiß er doch um unsere große Freude über jede einzelne Pflanze, die noch nicht im Kirchgarten gedeiht. Du weißt ja, ich stehe in regem Austausch mit dem findigen Botanicus. Schon oft habe ich ihm von deinem Interesse an den Medizinalpflanzen berichtet.«
Luzias senkte den Blick und errötete leicht. »Oh, das solltet Ihr nicht! Mein Wissen ist viel zu gering. Jedenfalls lohnt es nicht, darüber zu sprechen.«
Wendelin schüttelte tadelnd den Kopf. »Deine Bescheidenheit ehrt dich, mein Kind, aber du hast mehr in deinem schönen Kopf als viele, die sich mit dem Beruf des Medicus schmücken. Selbst vor jenen, die für die Heilkunst ein Studium auf sich nahmen, brauchst du dich nicht zu verstecken!«
Um die Peinlichkeit des Lobes nicht länger ertragen zu müssen, wechselte sie rasch das Thema. »Wollen wir uns nicht endlich Euren Pflanzen zuwenden? Mit dem Duft allein ist es ja nicht getan.«
Das Ablenkungsmanöver schien gelungen, denn der Pater nickte eifrig.
Gemeinsam wanderte ihr Blick in die dunkle Truhe. Bruder Markus, der Botanicus, hatte für den Transport alle Blätter entfernt und jedes der kleinen Gewächse sorgfältig zurückgeschnitten. Zusätzlich hatte er die kleinen Wurzelballen mit einer Handvoll Erde in einen Streifen Sackleinen geschlagen. Hier reichte Liebhaberei allein nicht aus. Nur das geschulte Auge erkannte, um welche Pflanzen es sich handelte.
»Jetzt bringe ich dir noch eine Abschrift unseres lieben Walahfrid, und du kannst die Pflänzchen an den richtigen Stellen im Garten einpflanzen.«
Luzia und Pater Wendelin hatten den Pfarrgarten gemäß den Empfehlungen angelegt, die Walahfrid Strabo, der frühere Abt des Klosters Reichenau, in seinem bereits im Jahre 827 verfassten Liber de cultura hortorum, auch bekannt als Hortulus, vorgegeben hatte. Die Schrift, wonach eine kluge und wohldurchdachte Nachbarschaft der Medizinalpflanzen ihr gegenseitiges Wachstum förderte, war in Versform verfasst und sorgfältig aufgezeichnet. Weil sie den Hortulus schon oft gemeinsam gelesen hatten, schenkten sie den ersten drei Abschnitten heute keine weitere Beachtung, sondern begannen gleich mit den Zeilen, die Strabo dem Salbei gewidmet hatte.
Später kniete Luzia dann auf dem weichen Sandboden und wartete mit ausgestreckter Hand darauf, dass der Pater ihr den ersten Setzling reichte.
Pater Wendelin hob einen Wurzelballen aus der geheimnisvollen Kiste.
»Marrubium vulgare?« Gespannt wartete er auf Luzias Antwort. »Der gemeine Andorn. Er gehört zur Familie der Labiaten, also ein Lippenblütler. Sein Duft ist bitter und ein wenig krautig. Schon die heilige Hildegard empfahl den Andorn mit Fenchel und Königskerze bei Husten und Brusthitze.«
Der Pater nickte zufrieden. »Der Name Marrubium kommt ursprünglich aus dem Hebräischen. Wobei ›Mar‹ bitter bedeutet und ›Rob‹ viel heißt.«
»In dem Fall wurde beides in gleicher Weise ins Lateinische übernommen«, bemerkte Luzia und blies sich eine freche Strähne ihres roten Haares aus dem Gesicht. Sie setzte den feuchten Ballen mit dem fleischigen Stängel vorsichtig in die gelockerte Erde.
»Nepeta cataria?«, fragte der Pater gespannt.
»Die echte Katzenminze. Ihr Duft ist minzig-frisch. Katzen lieben den Geruch der blühenden Pflanze.«
»Sehr gut!«
Auch diesen Setzling legte Luzia in die feuchte Erde.
»Artemisia absinthum?«, wollte Pater Wendelin wissen.
»Der gemeine Wermut. Ebenfalls eine Beifußart. Er wird auch als bitterer Beifuß bezeichnet.«
Pater Wendelins Augen verrieten, wie außerordentlich stolz er auf Luzia war. Dabei merkte sie, wie ihr schon wieder die Wärme in die Wangen stieg. Nachdem auch dieser Setzling mit Erde bedeckt war, reichte der Pater ihr den Nächsten.
»Hier haben wir etwas Lieblicheres. Artemisia abrotanum?«
»Die Eberraute. Ebenfalls eine Beifußart. Ihr Duft ist leicht und frisch. Sie wird in der Volkssprache auch Pfarrerkraut genannt«, entgegnete Luzia und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
Während der nächsten halben Stunde gruben sie Löcher, setzten die restlichen Pflanzen ein und drückten die Erde vorsichtig an. Dann betrachteten sie die getane Arbeit. Als Luzia die Kräuter gießen wollte, meinte der Pater: