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»Du musst dir keine Sorgen machen, das Wässern werde ich übernehmen! Ich weiß doch, dass du heute Abend wie alle jungen Frauen und Männer zum Johannisfeuer möchtest.«
Luzia nickte zögernd.
An diesem Tag feierten die Menschen das Fest des längsten Tages und der kürzesten Nacht mit dem Sonnwendfeuer. Die katholische Kirche sah das nicht gern und beging stattdessen das Fest des Johannes. Der Pater würde am kommenden Sonntag ausführlich über Johannes predigen. Aber heute würde es keine Andacht geben. Pater Wendelin galt als gemäßigter Gottesmann. Er las die Messe höchstens einmal am Tag, doch mit dieser Haltung machte er sich nicht nur Freunde. Anderen, die dachten wie er, war es schlecht ergangen. Im nahen Elsass war einem Geistlichen, der angeblich dem Bösen verfallen war, vorgeworfen worden, einen Pakt mit dem Teufel zu unterhalten. Der Papst hatte seine Enthauptung veranlasst. Papst Sixtus beklagte sich, weil immer mehr Menschen vom rechten Glauben abfielen, und warf ihnen vor, sich dem Bösen zuzuwenden.
Pater Wendelin hielt von all diesem verrückten Treiben überhaupt nichts. Wenn sich seine Schäfchen bereitwillig zur heiligen Messe einfanden, ihre Sünden angemessen bereuten und in Frieden miteinander lebten, ließ er die Mitglieder seiner kleinen Gemeinde zufrieden. Dafür liebten die Menschen den gutmütigen Mann. Aber Wendelin war klug genug, um die Gefahren zu sehen, die sein nachsichtiger Umgang mit den alten Mythen mit sich bringen konnte. Er wäre nicht der erste Gottesmann, den die Kirche mit Exkommunikation oder Schlimmerem bedrohte. Wendelin schüttelte ein wenig unwillig den Kopf. An diesem Abend wollte er sich über seinen Garten freuen und sich keine Sorgen machen.
»Ich werde heute früh zu Bett gehen«, sagte er zu Luzia. »Aber vorher lass uns ein Glas Wein auf die getane Arbeit trinken.«
Bei einem Glas Elbling plauderten sie über die Klosterinsel Reichenau.
»Bruder Markus würde dich von Herzen gerne kennenlernen. Möchtest du mich nicht einmal in den fast schon legendären Klostergarten begleiten? Es wäre mir eine Ehre«, versicherte Wendelin mit einem Lächeln.
Luzia fehlten die Worte. Helle Freude wirbelte durch ihren Kopf.
»Pater Wendelin, damit würdet Ihr mir einen meiner innigsten Wünsche erfüllen! Einmal den wunderschönen Kräutergarten Walahfrid Strabos betreten und ausgiebig studieren zu dürfen! Diesen Wunsch hege ich schon, seitdem mein Onkel Basilius mir zum ersten Mal davon erzählt hat!«
Wendelin wusste, dass Luzias Liebe zu den Heilpflanzen durch die Weitsicht ihres Onkels Basilius geweckt worden war, der die Apotheke in Ravensburg betrieb. Schon früh hatte Basilius den außerordentlich wachen Geist der kleinen Luzia erkannt. Er war es auch gewesen, der das Schulgeld für sie bezahlt hatte, obwohl ihre Mutter den Besuch einer Schule für bloße Zeitverschwendung gehalten hatte.
Und damit hatte das Drama angefangen, das erst mit Luzias Übersiedelung nach Seefelden ein Ende gefunden hatte. Eusebius Grumper, der hartherzige Schulmeister, der zu allem Überfluss auch noch ein Mann der Kirche war, hatte für Luzias wissbegieriges Wesen nicht sonderlich viel übrig gehabt. Ihr rotes Haar hatte er mehr als alles andere gehasst. Vom ersten Tag an hatte er sie spüren lassen, dass sie in seinen Augen eine »Rote« war, ein Kind der Wollust. Während der unreinen Tage ihrer Mütter gezeugt, umgaben die Roten etwas zutiefst Sündiges. Nachdem Luzia es zum ersten Mal gewagt hatte, dem Schulmeister vor den anderen Kindern zu widersprechen – es war dabei um den Namen einer Pflanze gegangen und Luzia hatte recht behalten –, hatte Kaplan Grumper keine Gelegenheit ausgelassen, Luzia zu bestrafen. Er demütigte und quälte sie bei jeder Gelegenheit. Manchmal steigerte sich seine Wut ins Unermessliche, weil Luzia nach wie vor unbeirrt zu ihm in den Unterricht kam. Die Unerbittlichkeit des Mädchens war für den Kaplan ein weiterer Beweis für ihre Gefährlichkeit. Ihr rotes Haar, die ungewöhnlich dunkelblauen Augen und der messerscharfe Verstand – sie alle waren seiner Einschätzung nach augenfällige Hinweise für ihre Andersartigkeit. Stolz und aufrecht trug sie ihr unbedecktes Haar durch die Gassen der Stadt. Daneben fehlte ihr die nötige Demut, was sie zu einer Feindin des wahren Glaubens machte.
»Mädchen wie du gehören hinter dicke Klostermauern, wo sie ihren Mitmenschen keinen Schaden zufügen können, oder besser noch gleich auf den Scheiterhaufen«, brüllte er sie an. Um sie auf den rechten Weg zu bringen, verlangte er von ihr, jeden Sonntag nach der Messe zu ihm zu kommen. Dort zwang er sie, stundenlang auf einem scharfkantigen Holzscheit kniend das Paternoster zu beten. Als die ersten Zeichen ihrer erblühenden Weiblichkeit erkennbar wurden, ging der Schulmeister dazu über, Luzia, während sie auf dem Boden kniete, mit einer Rute zu züchtigen. Dabei hatte er es besonders auf Luzias nacktes Gesäß und ihren entblößten Rücken abgesehen.
Die Vorstellung, wie sich der Kaplan beim Anblick von Luzias knospenden Brüsten ergötzt haben mochte, verursachte Wendelin heute noch Übelkeit. Der Pater hatte oft nach dem Grund für Luzias Beharrlichkeit gesucht. Nach der Quelle, die ihr die Kraft verliehen hatte, diese Jahre zu überleben. »Ich kann es Euch nicht sagen, aber meine Neugier siegte tagtäglich über die furchtbare Angst«, hatte ihm Luzia zur Antwort gegeben. Sie konnte nur von einer höheren Macht gekommen sein, dessen war sich Wendelin sicher. Selbst heute erinnerte sich der Geistliche noch beinahe an jedes ihrer Worte. Nach und nach hatte ihm das Mädchen die ganze Geschichte anvertraut. Einiges davon unter dem Geheimnis der Beichte. Manchmal waren ihre Geständnisse furchtbar gewesen. So schrecklich, dass auch ihm die Tränen gekommen waren.
»Ich würde Euch wirklich furchtbar gern begleiten«, antwortete Luzia, bevor sie einen Schluck aus ihrem Becher nahm.
Ihre Worte rissen den Pater aus seinen Erinnerungen. Er atmete tief durch und rieb sich das Gesicht, um die Erinnerungen hinter sich zu lassen. Ein Blick auf Luzia zeigte ihm, dass auch sie an ihre Kindheit in Ravensburg gedacht hatte. Er nickte ihr aufmunternd zu.
»Auf dein Wohl«, sagte er und hob seinen Becher.
»Also ist es beschlossene Sache?«, fragte Luzia nach.
»Bruder Markus wird dich ins Herz schließen und auch du wirst ihn mögen«, versicherte Wendelin und leerte seinen Becher.
»Ich hoffe, das Kind der jungen Schäferin geduldet sich wirklich noch bis morgen. Ich möchte doch so gerne mit den anderen zum Sonnwendfeuer.«
Elisabeth nickte und legte den gewaltigen Hecht zur Seite, den sie gerade schuppte. »Natürlich gehst du hin. Wenn die Schäferin dich braucht, kann man dich benachrichtigen.« Sie seufzte tief. »Die Jugend vergeht viel zu schnell, also nutze jede Gelegenheit zum Tanz.«
Die letzten Worte kamen Elisabeth fast ein wenig traurig über die Lippen. Immerhin hatte die weise Wehmutter bereits die Vierzig überschritten. Doch sie war immer noch eine anziehende Frau. Als Jakob zu ihnen in die Küche kam, lehnte sich Elisabeth bei ihm an.
»Wollen wir auch zum Sonnwendtanz gehen?«, neckte sie ihn.
»Wenn du möchtest, begleite ich dich auch zum Sonnwendfeuer.« Jakobs Worte wurden von einem Augenzwinkern begleitet. Sein ehemals dunkles Haar glänzte mittlerweile eher silbern. Was ihn für seine Elisabeth weitaus wertvoller machte. Silber war nun einmal von höherem Wert als Ebenholz, pflegte er zu sagen. Sein Humor und sein einnehmendes Wesen machten Jakob zu einem gerngesehenen Mann in Seefelden.
»Und du gehst mit Matthias?«, wandte Jakob sich an Luzia.
Luzia hörte die hoffnungsvolle Erwartung in seiner Stimme. Sie wusste, er sähe es gern, wenn sie sich bald entschließen könnte zu heiraten.
»Du weißt, wenn du heute Nacht mit einem Burschen übers Feuer springst, bringt das lebenslanges Glück.«
»Natürlich weiß ich das, und Matthias gibt sicher einen guten Ehemann ab, aber ich bin doch noch viel zu jung zum Heiraten«, versuchte Luzia das leidige Thema zu beenden und begann das Gemüse zu putzen, das in einem Korb auf dem Tisch stand. Sie hoffte, ihr geschäftiges Tun würde ihren Onkel davon abhalten, ihr zum hundertsten Male seine Sicht der Dinge anzutragen. Himmel, wie Luzia diesen Vortrag hasste!
»Zu jung bist du sicher nicht, allenfalls zu störrisch! Dabei solltest du dich freuen, einen wie Matthias zu haben.« Großer Gott, wenn er doch nur schweigen würde, dachte Luzia, während sie den Kohlkopf auf den Tisch warf und in die kleine Vorratskammer neben der Küche stürmte.
»Jakob«, mischte sich Elisabeth mahnend ein, während sie den verbeulten Kessel auf den Haken über dem Feuer hängte.
»Ja, ja, ich meine es ja nur gut«, brummte Jakob.
Diese Unterhaltung hatten sie schon oft geführt. Jakob ärgerte sich über Luzias Starrsinn. Die wenigsten Mädchen wurden gefragt, wen sie heiraten wollten.
Obwohl Luzia in der Vorratskammer rumorte und mehr Lärm erzeugte, als nötig gewesen wäre, redete Jakob unbeirrt weiter: »Im Gegensatz zu manch anderem würde Matthias dich auf Händen tragen. Einen besseren wirst du nicht finden.«
»Ich weiß ja, dass du recht hast«, lenkte Luzia ein, während sie die Tür zur Kammer wieder schloss. Sie wusste, dass Jakob sonst keine Ruhe geben würde. »Aber einen Grobian würde ich ohnehin nicht nehmen. Und sicher auch keinen Dummen. Zudem habe ich noch so viel zu lernen, frag Pater Wendelin, wenn du mir nicht glaubst! Wie gerne würde ich einmal den Kanon der Medizin von Avicenna lesen. Oder die Physica sowie die Causae et curae, welche beide von der großartigen Hildegard von Bingen verfasst wurden«, schwärmte Luzia, während ihre Hände den Kohlkopf zerteilten.
Jakob nickte. »Ich weiß, und ich wünsche es dir auch von ganzem Herzen, dass du Gelegenheit zum Studium dieser Bücher bekommst. Aber ich kann dir versichern, Matthias würde dir keinen Stein in den Weg legen.«
»Wahrscheinlich nicht, aber Matthias ist eben fast wie ein großer Bruder für mich. Ich mag ihn – aber heiraten könnte ich ihn nicht«, entgegnete Luzia beharrlich. »Außerdem ist er einfach ein Kindskopf.«
Elisabeth knuffte Jakob in die Seite. »Jetzt lass es gut sein! Wir wissen doch, wie Luzia über eine Heirat denkt, oder etwa nicht?«
Jakob gab sich geschlagen und nickte. Der Gedanke, seine starrköpfige Nichte könnte einmal einen Mann heiraten, der sie schlug oder ihr gar noch Schlimmeres antat, erfüllte Jakob mit Grauen. Natürlich gab er Luzia recht: Matthias hatte immer irgendwelche Grillen im Kopf, aber bei ihm hätte sie es gut. Und seine Nichte war auch nicht ohne. Im Gegensatz zu ihr war ein Esel geradezu einsichtig. Und was war eigentlich so falsch daran, dass er ihr einen geeigneten Mann wünschte? Einen, der bereit sein würde, ihre stürmische Natur allenfalls ein wenig zu bändigen. Und es war doch wichtig, dass sie heiratete. Eine unverheiratete Frau besaß keinerlei Rechte und war völlig schutzlos. Sie durfte nichts kaufen, was über Lebensmittel oder Haushaltswaren hinausging, noch etwas anderes verkaufen. Was sollte denn aus Luzia werden, wenn er und Elisabeth eines Tages nicht mehr sein würden?
Der Duft der Sommernacht war überwältigend. Süß und fruchtig brachte er die Kunde schwerer, reifer Sommerfrüchte. Jetzt bot die Natur alles im Überfluss und die Menschen schwelgten in dieser Fülle. Sie feierten den Sommer und mit ihm das Licht, das schon bald wieder sterben würde.
Ein sanfter Wind streifte Luzias warme Haut. Nepomuk strich um ihre Röcke und tat seine Ungeduld mit einem lauten Maunzen kund.
Mit wiegenden Schritten verließ Luzia die schmale Fischergasse und bog landeinwärts in die Schilfgasse ein. Hier standen die Häuser dicht an dicht. Am Ende der schmalen Gasse wohnte ihre Freundin Magdalena.
Luzia war froh, sich für das leichte Kleid aus moosgrünem Flachs entschieden zu haben. Es bildete einen lebhaften Kontrast zu ihrem feurigen Haar. Noch froher war sie allerdings über den glimpflichen Ausgang des Disputs mit ihrem Onkel. Luzia wusste, dass er sich im Grunde nur Sorgen um ihre Zukunft machte, aber trotzdem … Sie atmete seufzend aus.
»Luzia, na endlich, ich dachte schon, die Schäferin hätte dich im letzten Augenblick doch noch gerufen.« Das war die Stimme von Magdalena, die vor dem Haus auf sie wartete.
Luzia schüttelte den Kopf.
»Als ich heute Morgen bei ihr war, sah es nicht danach aus, als habe es das Kleine sonderlich eilig.«
Arm in Arm machten sie sich auf den Weg Richtung Seeufer. Die Freundinnen erreichten schon bald den moosbewachsenen Weg, der sie durch den kleinen Riedwald bis ans Ufer des Bodensees führte. Erdig, feucht, fast ein wenig saftig roch das Moos in der warmen Sommernacht. Sie folgten der in großen Schwüngen verlaufenden Seefelder-Ache. Den murmelnden Bach säumten viele knorrige Weiden. In der Dämmerung wirkten sie wie alte, weise, ehrwürdige Weiber, wie silberweiße, lichtgrüne Nebelfrauen. Luzia liebte die riesigen Bäume, deren weit hinabhängenden Äste teilweise den kleinen Fluss berührten, als würden sie ihn sanft streicheln. Sonst war es zwischen den alten Bäumen einsam und still, aber heute trug der milde Abendwind neben dem Duft von Seegras auch die Stimmen der jungen Leute herüber. In einem Halbrund öffneten sich die Bäume zum Ufer des Bodensees. Zusammen mit der gewaltigen Landzunge, die weit in den See hinausragte, entstand ein großer, fast runder Platz. Die untere Grenze bildete das Wasser.
Hier am Ufer des Sees war Perchta, die uralte Erdenmutter, noch immer allgegenwärtig. Aus jedem Stein, jedem Tropfen Wasser, ja selbst aus der prickelnden Abendluft strahlte ihre Anwesenheit und verzauberte die Menschen.
Als sie den Platz erreichten, sahen sie, dass die Burschen des Dorfes bereits das Feuerholz aufgeschichtet hatten. Sie standen um den riesigen Holzstoß herum, und mit ihnen die jungen Frauen des Dorfes, die wie Luzia und Magdalena einen Teil ihrer Johannisbuschen zum Kranz gewunden im Haar trugen. Die duftenden, bunten Sommerblumen schmückten die Frauen wie eine Sommerbraut oder eine Korngöttin. Fast alle trugen ihr Haar offen und hatten sich in ihre schönsten Gewänder gekleidet.
»Ich kann Hans gar nicht entdecken. Er wird doch heute Abend kommen?«, fragte Luzia.
Magdalenas Blick war schwer zu deuten.
»Ich weiß doch, dass er dir gefällt«, ermutigte Luzia die Freundin.
»Ich hätte doch lieber das rote Kleid wählen sollen. Oder meinst du, ich gefalle ihm auch in diesem blauen, alten Lumpen?«, fragte Magdalena zögernd. Sie wirkte plötzlich unsicher, obwohl es dafür überhaupt keinen Grund gab. Dennoch wusste Luzia, dass Magdalena sich ihrer Zähne schämte. Erst kürzlich musste sie der Bader wieder um einen Eckzahn erleichtern. Seither lachte Magdalena nicht mehr so gerne. Luzia fand das sehr schade.
»Mach dir nicht so viele Gedanken! Natürlich wird dich Hans schön finden! Sieh doch nur dein wunderschönes Haar!«
Magdalenas Arme legten sich um Luzias Mitte, und sie fand sich in einer stürmischen Umarmung wieder. Sie spürte Magdalenas Glück und die Ungeduld, mit der sie sich nach Hans umsah. Luzia konnte die Aufregung ihrer Freundin nur halb nachvollziehen. Sie war anders. Sie legte keinen Wert darauf, den jungen Männern aus dem Dorf den Kopf zu verdrehen.
Nach und nach trafen immer mehr junge Männer und Frauen beim großen Festplatz auf der Landzunge ein. Traditionell bestand das Holz für die Sonnwendfeier aus neunerlei unterschiedlichen Sorten: Eiche, Birke, Erle, Esche, Holunder, Ahorn, Weißdorn, Schwarzdorn und Weide wurden von einem jungen Paar entzündet. In diesem Jahr war die Wahl auf Josef, den jungen Schuster, und seine zukünftige Frau, Elisa, gefallen.
Bald brannte ein großes Sonnwendfeuer. Zweige knisterten und Funken stoben in die samtblaue Nacht. Der Mohrenwirt war mit seinem Karren von der Langen Gasse, wo sein Wirtshaus stand, bis ans Ufer des Sees gekommen. Unter den Bäumen hatte er seinen Stand aufgebaut und schenkte heißen Met aus. Luzia schaute ins Feuer. Glühend schossen die hellen Zungen weit in den Nachthimmel. Heute Nacht waren die Tore zur Anderswelt weit geöffnet. Dicht über der Wasseroberfläche schwebten silberne Schleier. Eine leichte Bö trug das leise Lachen der Wassergeister bis auf die Landzunge.
An eine Weide gelehnt verfolgte Matthias, wie Luzia ein wenig abseits des Feuers barfuß und mit gerafften Röcken im Wasser stand. Er schaute ihr schon eine ganze Weile zu, wie sie tief in Gedanken versunken auf den See hinaus blickte. Sie verzauberte ihn, so wie sie es immer tat. Es fiel ihm schwer, sich von ihrem Anblick zu lösen. Das silberne Licht des Mondes tanzte wie eine geheimnisvolle Brücke aus Feenhaar über dem nachtschwarzen See. Mondschein und Feuer hüllten Luzia in einen Mantel aus Licht, das sich im Wasser zu ihren Füßen spiegelte. Wie gerne hätte Matthias mit dem Licht getauscht. Aber Luzia ließ ihn nie richtig an sich heran.
Einen Augenblick hielt Luzia inne, um dem tiefen Herzschlag des Gewässers zuzuhören. Das grüne Haar des Sees bewegte sich im rhythmischen Puls der unsichtbaren Strömung. Neugierig liebkoste das kühle Nass ihre nackten Füße. Das leise Murmeln kam von der anderen Seite des Sees. Dort gab es einen unheimlichen Platz. Teufelstisch nannten die Leute die geheimnisvolle Felsnadel, die aus dem Wasser ragte. Über den Teufelstisch erzählte man sich furchterregende Dinge. Mitunter sollten dort riesige Welse leben. Halbe Seeungeheuer, die jedes Fischerboot mit sich in die Tiefe zogen. Boot und Fischer blieben auf ewig verschwunden.
Sie entdeckte Matthias, der langsam Richtung Feuer ging. Sie winkte ihm zu, und er kam zu ihr.
»Luzia, wie schön, dass du gekommen bist. Ich weiß nicht, mit wem ich sonst getanzt hätte«, begrüßte er sie.
»Ach nein, weil es hier außer mir keine weitere Frau gibt, oder wie?« neckte sie und bereute es gleich, weil Matthias’ Miene sich verdüsterte.
»Darf ich dich zu einem Becher Met einladen?«, fragte er zögernd.
Luzia deutete eine Verbeugung an. »Mit Vergnügen!«, erwiderte sie. Sie wollte heute ausgelassen sein. Lachen und Tanzen, bis ihr schwindelte. Und ein paar Becher Met waren auch nicht zu verachten.
»Dann lass uns zum Mohrenwirt hinüber gehen und sehen, was er dabei hat. Vielleicht verkauft er wieder die fettigen Küchlein vom letzten Jahr.« Luzia nickte und ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht.
»Die, von denen du schon zur Wintersonnwende zu viele gegessen hast?«
Matthias stutzte. »Das weißt du noch?«
Sie nickte. »Ich werde nie vergessen, wie du jammernd auf deinem Bett gelegen hast und mich davon überzeugen wolltest, dein letztes Stündlein habe geschlagen – dabei hattest du dich einfach nur überfressen! Ich hoffe, du hast daraus deine Lehren gezogen. Jedenfalls holst du mich nicht wieder zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett, hörst du?«
Matthias musste ebenfalls lachen. »War es wirklich so schlimm?«
»Schlimmer!«, bestätigte Luzia und rannte Richtung Mohrenwirt davon.
Sonnwendküchlein gab es tatsächlich, aber beide aßen nur sehr wenig davon. Dafür sprachen sie dem Met etwas ausgiebiger zu. Der heiße Honigwein rann ihnen die Kehlen hinunter und erzeugte einen leichten Schwindel.
»Lass uns tanzen!«, schlug Matthias übermütig vor. Gemeinsam schlossen sie sich dem tanzenden Reigen an. Männer und Frauen hielten sich an den Händen und umtanzten das Feuer. Auch Magdalena und Hans hatten sich bereits unter die Tanzenden gemischt. Luzia freute sich, als sie die beiden ausgelassen lachen sah.
Der Klang der Fiedel trieb sie zu immer schnelleren Drehungen an. Die jungen Leute lachten und tanzten so ausgelassen, dass manch einem schwindlig wurde. Doch müde durfte man ein andermal werden. Heute war die Nacht zu schade. Lau und süß flüsterte sie so den Menschen Unerhörtes ins Ohr. Als das Feuer kleiner wurde, begannen die jungen Leute durch die reinigenden Flammen zu springen. Die Flammen des Sonnwendfeuers galten als heilig. Sie schützten die, die durch sie hindurchsprangen, im neuen Jahr vor Krankheit und Leid. Im warmen Feuerschein glitzerten Luzias tiefblaue Augen dunkel und unergründlich. Lächelnd nahm sie ein paar Finger voll Teufelsklau aus ihrer Tasche. Im Alltag puderte sie damit rote Kinderpopos. Ins Feuer geworfen, knallte der Sporenstaub des Keulenbärlapps und glühte hell auf.
Matthias lachte. »Seit wann kannst du denn zaubern?«
»Das würdest du wohl gerne wissen!« Luzia beugte sich ganz nah an Matthias Ohr. »Schon immer. Hast du das denn nicht gewusst?«, flüsterte sie geheimnisvoll, während ihre weichen Lippen die erhitzte Haut seines Nackens streiften.
Matthias stand in Flammen. Eine prickelnde Gänsehaut umfing ihn von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Luzias geheimnisvolles Lachen klang in seinen Ohren warm, süß und verlockend. Nur eine Handbreite trennte ihn jetzt noch von ihrem Mund. Doch bevor er sie küssen konnte, entzog sie sich ihm und tanzte allein um das kleiner werdende Feuer.
Matthias lief ihr nach und sprang neben Luzia durch die Flammen. Er beobachtete sie von der Seite. Ihr Haar schien in Flammen zu stehen. Der helle Feuerschein brachte die langen, roten Flechten zum Leuchten. Manchmal glaubte er an ihr etwas Geheimnisvolles zu entdecken, als sei sie eine weise Frau, die das Wissen längst vergangener Zeiten in sich trug. Dann schienen ihre Augen unendlich tief wie zwei Seen. Er meinte dann zu sehen, wie sich zwei schwarze Rädchen in atemberaubender Geschwindigkeit um die Pupille drehten und jeden hineinzogen, der ihr zu nahe kam. In solchen Momenten kamen ihm die Augen der Hebamme geheimnisvoll und wissend vor. Aber bevor er sich vergewissern konnte, verschloss sich ihr Blick wieder und er meinte, sich getäuscht zu haben.
»Fang mich, wenn du kannst!«, rief sie übermütig und rannte vor ihm davon.
Matthias setzte ihr nach und packte sie am Arm. »Hab dich! Wenn du denkst, du kannst mir entkommen, liegst du falsch!« Niemals würde er sie entkommen lassen. Er wollte sein Leben mit ihr verbringen.
Gemeinsam rannten sie wieder zum Karren des Mohrenwirts und ließen sich dort erschöpft unter einer Weide nieder.
Matthias war glücklich. So war es immer, wenn er mit Luzia zusammen war. Leicht und selbstverständlich wie ein Herzschlag. Er drehte sich zu ihr herum. Der warme Feuerschein zauberte einen goldenen Schimmer auf ihre Haut, die vom vielen Tanzen glühte. Dankbar sog Matthias den warmen Duft nach Kräutern und Honig ein, der ihrer erhitzten Haut entströmte. Genauso roch Luzia. So hatte sie schon vom allerersten Tag an gerochen, an dem er sie gesehen hatte.
Ermutigt durch das Lächeln, das sie ihm schenkte, erhob er sich, klemmte die zerzausten Locken hinter die Ohren und trat von einem Bein auf das andere.
Sicher wäre jetzt der richtige Moment, Luzia zu fragen, ob sie seine Frau werden wollte. Er holte tief Luft, um die Worte zu sprechen, doch als Luzia ihn fragend ansah, verließ ihn der Mut wieder.
3
Fast zwei Monate später, am 6. des Erntemonats, brachte ein vorbeiziehender Handelsreisender einen Brief für Luzia. Er kam von ihrem Onkel Basilius Gassner in Ravensburg.
Jakob und Elisabeth baten den grauhaarigen Mann und seine beiden Söhne ins Haus und boten den verschwitzten Männern einen Krug Dünnbier und Brot an.
»Wie lange seid Ihr denn schon unterwegs?«, fragte Jakob und setzte sich zu den Leuten an den Tisch.
»Erst seit zwei Tagen. Wir hatten in Altdorf zu tun und wollen nun weiter in das Land der Eidgenossen.«
Jakob nickte. »Ich dachte nur wegen des Briefes. Hoffentlich enthält das Schreiben keine schlechten Nachrichten.«
Der ältere Mann hob bedauernd die Schultern und setzte den Becher ab, den er durstig geleert hatte. »Diese Hoffnung kann ich Euch leider nicht lassen, der Apothekarius, der mir den Brief gegeben hat, klang sehr besorgt. Ich musste ihm versichern, Seefelden in spätestens zwei Tagen zu erreichen. Der Inhalt des Schreibens scheint von großer Wichtigkeit zu sein.«
Elisabeth drehte das gesiegelte Schreiben nervös zwischen ihren Fingern hin und her. Sie hatte die große Schrift ihres Bruders Basilius gleich erkannt. Wenn er schrieb, dann musste es um etwas Wichtiges gehen.
»Wo ist Luzia denn?«, wollte Jakob wissen, ehe er sich wieder erhob und zum schmalen Fenster ging, von dem aus er die Straße überblicken konnte. Auch ihm stand die Sorge ins Gesicht geschrieben.
»Bei den Metzgers«, antwortete Elisabeth und füllte den Bierkrug der Besucher ein weiteres Mal. »Die Sofia bekommt ihr Kind. Aber sie ist schon seit den frühen Morgenstunden fort. Allzu lange kann es nicht mehr dauern.« An den Reisenden gewandt, fuhr sie fort: »Hat Euch Basilius denn gar nichts gesagt?«, fragte sie.