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«Ist er gestolpert?», hakte Bachmann nach.
«Nein. Oder besser, ich weiss es nicht, da ich zuerst nicht genau auf die beiden geachtet und mich mehr auf das Theater konzentriert habe. Genauso weiss ich nicht, ob etwas auf dem Boden gelegen hat, über das er gestolpert ist.» Falls ein Gegenstand dort gelegen war, hätte man ihn bestimmt gefunden, dachte sie, liess den Gedanken allerdings unausgesprochen.
«Hat die Frau ihn gestossen?»
«Seine Frau lief vor ihm. Er ruderte mit den Armen und hat sie berührt, glaube ich.»
«Es war nicht seine Frau, sondern seine Schwester», erklärte Bachmann.
Samantha war der Fehler peinlich. Sie konnte sich aber nicht erinnern, dass die Beamten das gestern erwähnt hatten. Mit Joel hatte sie später nicht darüber gesprochen. Sie hatte sich zurückgezogen und wollte alleine sein, als sie bei ihm zu Hause angekommen waren. Joel hatte sie gewähren lassen. Er schien ebenfalls froh gewesen zu sein, einen Augenblick ungestört seinen Gedanken nachhängen zu können.
«Hat sie sich umgedreht und ihn dabei – versehentlich – gestossen?»
«Nein. Als sie sich umdrehte, stürzte er bereits nach unten.»
Bachmann schaute zu Landolt. «Das deckt sich mit der Aussage von Herrn Bürgis Schwester.»
«Von wem?», fragte Samantha.
«Sie wissen nicht, um wen es sich handelt?», fragte Bachmann.
«Gestern hat uns das keiner gesagt, und in den Medien werden keine Namen genannt.» Zumindest war das bis jetzt so.
«Alexander Bürgi ist der Bruder von Lisa und Reto Bürgi.»
«Sie meinen mit Reto Bürgi den CEO von AarePharm?», rief Samantha entsetzt.
«So ist es. Das könnte der Grund sein, warum Jan Nussbaum uns gebeten hat, Ihnen einige weitere Fragen zu stellen.»
«Hast du ihn nicht erkannt?», fragte Samantha.
Joel putzte sich die Nase und trank vom heissen Tee, den Samantha ihm gemacht hatte. Samantha hatte das Gefühl, er sei eine Spur blasser geworden, als sie ihm gesagt hatte, um wen es sich bei dem Verunglückten handelte.
«Ganz ehrlich, nein.» Joel stellte die Tasse zurück auf das Wohnzimmertischchen und griff nach Samanthas Hand. Sie setzte sich zu ihm auf die Sofakante. «Ich bin ihm ein- oder zweimal begegnet. Damals hatte er einen Vollbart und trug eine Brille. Das erste Mal habe ich Alexander Bürgi vor ungefähr zwei Jahren getroffen, kurz nachdem ich meine Stelle bei AarePharm angetreten hatte. Fritz Bürgi war ein oder zwei Monate vor meinem Stellenantritt verstorben und …»
«Wer ist Fritz Bürgi?», unterbrach Samantha ihn.
«Das war während der Zeit, als du bei der Firma in Lausanne warst. Er war der Eigentümer und ist mit siebenundsechzig an einem Herzinfarkt gestorben. Damals kam das für alle wie aus dem heiteren Himmel. Er war vital und dachte nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Jeder, dem er begegnete, nahm an, er werde mindestens hundert. Das habe ich bei dem Vorstellungsgespräch auch gedacht.» Joel beugte sich vor und nahm aus dem Päckchen ein neues Papiertaschentuch. «Scheisserkältung», murmelte er, als er sich schnäuzte.
«Es scheinen einige krank zu sein», sagte Samantha. «Bei diesem ständigen Auf und Ab der Temperatur ist es kein Wunder», fügte sie an, was Linda bereits am Morgen gesagt hatte.
«Das nützt mir herzlich wenig. – Zurück zu Fritz Bürgi. Er hat die Aktien von AarePharm seinen drei Kindern und seiner Witwe vererbt. Da nur Reto aktiv in der Firma tätig war, hatten wir weder mit Alexander noch mit Lisa und Johanna Bürgi Kontakt.»
«War Reto Bürgi schon damals CEO? Ich meine, als sein Vater starb.»
«Ja. Soviel ich weiss, hat sein Vater ihn fünf Jahre zuvor in die Firma geholt.»
«Möchtest du einen weiteren Tee?»
«Danke, nein. Ich kann bald keinen Tee mehr sehen. Wo wir bei AarePharm sind. Wie war es heute? Irgendwas Besonderes?»
«Julia», sagte Samantha gedehnt.
«Ich möchte gerne wissen, was mit euch beiden los ist.»
«Mit mir ist nichts los. Nur mit ihr. Ich weiss nicht, was ich ihr getan habe.»
Joel unterdrückte ein Seufzen. «Es hat ungefähr vor einem halben Jahr angefangen. Ich denke nicht, dass die Audits in Indien der alleinige Grund sind. Sprich mit ihr.»
«Das habe ich versucht.» Und aufgegeben, fügte sie in Gedanken an.
«Ich weiss.» Er richtete sich auf, legte den Zeigefinger an Samanthas Kinn und übte einen leichten Druck aus, damit Samantha ihn ansah. «Versuche es nochmals. Und wenn es nichts nützt, werde ich es ein weiteres Mal tun.»
«Bloss nicht!»
«Wieso?»
«So hat sie eine neue Gelegenheit, um mir zu unterstellen, etwas mit dir, Reto oder sonst wem aus der Firma zu haben.»
«Was?»
Bisher hatte Samantha Joel nichts von Julias Unterstellungen erzählt. Sie hatte befürchtet, es werde ihre Beziehung belasten.
«Na ja, Punkt eins, ich meine das mit dir, stimmt», sagte sie hastig, bevor er antworten konnte. Die Falten auf der Stirn verschwanden, und ein Lächeln umspielte seinen Mund. Samantha wich seinem Blick aus, da sie wusste, was als Nächstes kommen würde.
«Wo wir gerade dabei sind. Meinst du nicht, es wäre Zeit, unsere Beziehung offiziell zu machen?»
«Falscher Zeitpunkt.»
«Nur wegen Julia? Weil sie in dem Fall recht mit ihrer Unterstellung hat, wir hätten eine Affäre? Wir sind ein Paar wie viele andere.»
«Ich möchte aber nicht so enden wie Céline – meine ehemalige Arbeitskollegin in Lausanne.»
Samantha dachte an ihre Zeit in Lausanne. Céline hatte sich mit ihrem Chef eingelassen. Nachdem es bekannt geworden war, war die Bezeichnung Mobbing zu harmlos, um das zu bezeichnen, wie es ihr ergangen war.
«Meines Wissens hat ihr Vorgesetzter sie ausgenutzt und keine ehrlichen Absichten gehabt», sagte Joel. «Und er war verheiratet.»
«Hm.»
«Wie ehrlich die Absichten auf Célines Seite waren, wage ich deinen Schilderungen nach ebenfalls zu bezweifeln.»
Samantha schwieg.
«Wir brauchen uns nicht zu verstecken», fuhr er fort.
Samantha hob den Kopf, und ihr Blick begegnete seinen bittenden braunen Augen. «Geheimnistuerei ist nie gut», fügte Joel nach einer Weile an. «Die Gerüchteküche wird mehr angeheizt. Alles schaukelt sich höher. Wenn es rauskommt, ohne dass wir es gesagt haben, könnte das Verständnis abhandengekommen sein. Wie gesagt, wir brauchen uns nicht zu verstecken.» Er umfasste Samanthas Gesicht mit den Händen und gab ihr einen Kuss. «Wir sind mehr als ein halbes Jahr zusammen.»
«Es ist ja nicht topgeheim», sagte Samantha. «Lorena weiss es.»
«Deine Freundin ist die Einzige. Um deinem Wunsch zu entsprechen, habe ich meinen Freunden bis jetzt nichts von uns erzählt, obwohl sie regelmässig nachbohren. Lange kann und möchte ich diese Heimlichtuerei nicht aufrechterhalten.»
Erneut senkte Samantha den Kopf. Sie fragte sich, ob diese Angst nur mit dem zusammenhing, was damals mit Céline passiert war. Wie sie gemobbt worden war. Wie die Spirale, die daraus resultierte, ausser Kontrolle geraten war. Samantha hatte sich geschworen, nie so etwas erleben zu wollen. Aber sie konnte die Frage nicht beantworten, ob es nur daran lag. Ihr Unterbewusstsein gab keinen anderen Grund preis.
«Okay», hörte sie sich sagen. «Aber bitte langsam.»
«Eine Gelegenheit wäre der Geburtstag meines Vaters.»
Erstaunt hob Samantha den Kopf. Er schlug ausgerechnet seine Eltern vor. Soweit sie wusste, war das Verhältnis von Joel zu seinen Eltern nicht ungetrübt. Was genau vorgefallen war, hatte er ihr nie erzählt. Wenn das Thema auf seine Eltern zur Sprache gekommen war, hatte er sich ihr gegenüber sofort verschlossen. Samantha hatte den unausgesprochenen Wunsch respektiert und ihn nicht bedrängt, in der Hoffnung, er werde von sich aus darüber reden. War jetzt der Zeitpunkt?
«Okay. Wann?», fügte sie an, als er nichts sagte.
«Er hat heute Nachmittag angerufen und mich für morgen zu seinem Geburtstag eingeladen. Ich hoffe, ich bin morgen wieder fit.»
So aus heiterem Himmel? Samantha war sich nicht sicher, ob die Einladung tatsächlich so kurzfristig gekommen war oder Joel bereits länger davon wusste, sich aber nicht schlüssig gewesen war, ob er sie annehmen sollte.
DREI
«Ich werde zu Alexander Bürgis Beerdigung in Olten gehen», sagte Joel. «Als Geschäftsleitungsmitglied ist das Pflicht.» Er hatte sein Team zu einer Sitzung in sein Büro gebeten und die Mitarbeiter über den Tod von Reto Bürgis Bruder in Kenntnis gesetzt.
Er klang heiser. Als er beim Frühstück verkündet hatte, er werde zur Arbeit fahren, hatte Samantha diese Idee nicht gut gefunden.
«Man sollte mindestens einen Tag fieberfrei sein. Das gilt nicht nur für Kinder.»
«Gestern Abend hatte ich nur leicht erhöhte Temperatur», hatte Joel widersprochen. «Ich bin froh, dass es nur eine leichte Erkältung ist, die offenbar schnell vorbei ist.»
«Leicht würde ich das nicht bezeichnen», hatte Samantha dagegengehalten. «Du bist nur zwölf und keine vierundzwanzig Stunden fieberfrei.»
Joel war eisern geblieben.
Es ging ihm heute eindeutig besser als gestern. Dafür liess ihn seine Stimme beinahe im Stich.
«Die Teilnahme an der Abdankung, die voraussichtlich in Olten stattfinden wird, ist für die Angestellten keine Pflicht. Wer aber möchte, darf gerne hingehen.»
«Wir kennen ihn nicht persönlich», sagte Linda.
«Wie gesagt, du musst nicht gehen. Für die Mitarbeiter wird es einen firmeninternen Informationsanlass mit einer kleinen Gedenkfeier geben, die allerdings Pflicht ist. Sobald ich genau weiss, wann dieser Anlass stattfindet, werde ich es euch sagen.»
«Hast du gewusst, um wen es sich bei dem Mann handelte, der dir vorgestern vor die Füsse gefallen ist?», wandte Erik sich an Samantha.
«Bis gestern nicht», antwortete sie. «Ich musste gestern für weitere Fragen zur Polizei und meine Aussage unterschreiben. Die Beamten haben es mir gesagt.»
«Wieso fragen sie so hartnäckig nach?»
«Routine, haben sie mir erklärt.»
«Du meinst, sie wollen sicher sein, dass keiner nachgeholfen hat, weil er ein Mitglied einer einflussreichen Unternehmerfamilie ist?»
«So in etwa.» Sie dachte an Bachmanns Fragen. Wie er wiederholt nachgefragt hatte, ob ihr Alexander Bürgis Verhalten auffällig erschienen war. Ein Gedanke bildete sich in Samanthas Hinterkopf, verflüchtigte sich aber, bevor er fertig war. Sie versuchte ihn zurückzuholen, was nicht gelang. Das Einzige, das blieb, war das beunruhigende Gefühl, das sie dabei empfunden hatte.
«Musstest du auch eine Aussage machen?», fragte Julia Joel.
«Ja. Aber mir ist nichts aufgefallen, was auf Fremdeinwirkung hindeuten könnte. Er hat das Gleichgewicht verloren und ist gestürzt.»
«So etwas kann jedem passieren.»
Joel nickte.
«Ist er wirklich von ganz oben gefallen?», fragte Erik. «Soviel ich weiss, ist es ein imposantes Bauwerk.»
«Von der halben Höhe, aber das hat gereicht. Er muss nur mit dem Kopf ungünstig auf eine Stufenkante gefallen sein. Unser Team sollte Reto und seiner Familie eine Beileidskarte schreiben.» Er schaute Linda an.
«Ich werde das organisieren.»
Als alle Anstalten machten aufzustehen, um Joels Büro zu verlassen, hielt Joel Samantha zurück.
«Lisa möchte gerne mit uns beiden sprechen», sagte er, nachdem sich die Tür hinter den anderen geschlossen hatte.
«Lisa?»
«Retos und Alexanders Schwester. Sie hat uns gegen zwölf Uhr in den Gasthof Kreuz gebeten.»
«Du meinst das Restaurant an der Oltnerstrasse?»
«Ja.»
«Warum heisst sie eigentlich Bürgi?», fragte Samantha. «So wie ich die Beamten verstanden habe, ist sie verheiratet.»
«Sie hat ihren Namen behalten.»
Samantha musterte die schlanke gross gewachsene Frau, die an ihren Tisch trat. Ihr fein geschnittenes Gesicht war blass. Sie trug einen anthrazitfarbenen Hosenanzug mit einer dunkelgrünen Bluse. Ihre Brille mit dem grünen Rahmen war farblich auf die Kleidung abgestimmt. Ihre dunkelblonden Haare waren kurz geschnitten und von einigen grauen Strähnen durchzogen. Alles in allem eine attraktive Erscheinung. Joel stand auf und reichte ihr die Hand.
«Mein Beileid», sagte er.
Samantha schloss sich dem an und stellte sich vor.
Lisa Bürgi setzte sich zu ihnen an den Tisch, der unter einem der weissen Sonnenschirme auf der Terrasse des Gasthofs Kreuz in Egerkingen stand. Ein leichter, warmer Luftzug wehte und liess die Blätter der Bäume, die neben der Terrasse standen, rascheln. Ausser ihrem Tisch waren drei weitere besetzt. Der Kleidung nach zu urteilen handelte es sich um Geschäftsleute.
Die Kellnerin kam aus dem Gebäude und servierte gemischte Salate an einem der Tische. Ein Wagen hielt auf dem Parkplatz vor der Terrasse. Drei Frauen und ein Mann stiegen aus. Sie gingen an ihnen vorbei und verschwanden im Inneren des Gasthofs.
Die Kellnerin trat an den Tisch. «Möchten Sie etwas trinken?»
«Gerne Mineralwasser», erwiderte Lisa Bürgi.
Wenn Samantha nicht gewusst hätte, dass Lisa die Frau in Augusta Raurica gewesen war, die die Sanitäter von ihrem toten Bruder weggeführt hatten, hätte sie sie nicht erkannt. Überhaupt konnte sie sich nicht an das Aussehen oder die Kleidung der Frau erinnern. Genauso würde sie Lisa Bürgi nie für Reto Bürgis Schwester halten. Reto Bürgi war kräftig gebaut, ohne dick zu wirken. Lisas Gesicht war fein geschnitten und hatte nichts von Retos rundem Kopf. Die einzige Ähnlichkeit, die sie ausmachen konnte, war das distanzierte Auftreten, das ihre Unnahbarkeit verstärkte. Als die Kellnerin sich abwandte, drehte Lisa Bürgi sich zu Samantha und Joel um. Ihr Blick blieb an Samantha hängen. «Ist Mundart für Sie in Ordnung?»
«Ja, ich bin in der Schweiz aufgewachsen.»
«Ich möchte Ihnen ein weiteres Mal danken, dass Sie Alex helfen wollten.»
«Leider konnte ich nichts für ihn tun», sagte Joel.
«Ich weiss. Trotzdem zählt für mich die Geste. Heutzutage ist das nicht selbstverständlich, und die Leute wenden sich entweder schnell ab, weil sie damit nichts zu tun haben wollen, oder zücken ihr Handy, um den Film so schnell wie möglich auf Facebook und Co zu teilen.»
Die Kellnerin brachte das Wasser, und Lisa Bürgi trank einen Schluck. «Es mag seltsam anmuten, dass ich Sie zum Essen eingeladen habe, aber es wäre in Alex’ Sinn gewesen.»
Zum Essen eingeladen? Das hatte Joel nicht gesagt. Das mutete in der Tat seltsam an, aber wenn es der Frau in ihrer Trauer half, sollte es Samantha recht sein.
Die Kellnerin erschien. Lisa Bürgi und Samantha bestellten Saibling mit Spargeln und Joel Lammracks mit Kartoffelstock. Als die Kellnerin gegangen war, stellte sich Schweigen ein, das Samantha unangenehm empfand. Die gesamte Situation war unangenehm. Lisa Bürgi blickte zwischen ihr und Joel hindurch. Angestrengt überlegte Samantha, wie sie ein Gespräch in Gang bekommen konnte. Ein Thema, das in Anbetracht des Todes von Alexander Bürgi nicht taktlos anmuten würde. Über das Wetter zu sprechen kam nicht in Frage. Es würde wie eine Verlegenheitslösung herüberkommen.
«Ich gebe mir die Schuld an seinem Tod», ergriff Lisa Bürgi das Wort.
«Sie können nichts dafür», sagte Joel.
«Zum einen hätte ich hinter ihm laufen sollen. So hätte ich ihn eventuell auffangen können, als er strauchelte.»
«Es ist nicht gut, wenn Sie sich über das Wenn und Aber Gedanken machen», sagte Joel. «Sie hätten ihm nicht helfen können. Dazu ging es zu schnell.»
«Wir hatten unseren vierteljährlichen Geschwisterbrunch. Dieses Mal war ich dran. Reto und Alex kamen gegen zehn Uhr. Wir haben auf der Terrasse gegessen. Meine Brüder sind bis in den Nachmittag geblieben. Als wir beschlossen, einen kleinen Spaziergang zu machen, hat sich Reto verabschiedet.»
«Einen Spaziergang?», fragte Joel. «Sie sind bis nach Augusta Raurica gelaufen?»
«Ich wohne in Augst. Daher hatten wir es nicht weit», antwortete Lisa Bürgi und fuhr mit ihrem Bericht fort. «Reto fühlte sich nicht wohl und sagte, er wolle heimfahren und sich hinlegen. Er nahm an, eine Grippe – diese Sommergrippe, die im Moment im Umlauf ist – sei im Anzug. Ich vermutete eher, er habe zu viel gegessen und ihm sei daher schlecht. Wissen Sie, unsere Brunchtreffen haben es in sich. Meine Brüder können ordentlich zuschlagen.» Samantha fragte sich, warum sie ihnen das alles erzählte. Vermutlich half es ihr, über den Ablauf des Tages zu sprechen.
«Reto fuhr nach Hause. Auch Alex klagte über Unwohlsein, kurz nachdem wir losgezogen waren. Er sagte, ihm sei übel, und er schob es ebenfalls auf eine Grippe. Aber er wollte trotzdem zum Theater. Er sagte, so schlimm wie Reto fühle er sich nicht, um diese Tradition zu brechen, die wir nach dem Brunch pflegen, wenn er bei mir stattfindet. Inzwischen wünschte ich, ich hätte darauf bestanden, den Spaziergang nicht zu unternehmen. Alex wollte es unbedingt. Er mag das imposante Bauwerk.» Sie machte eine kurze Pause. «Als wir dort ankamen, sah er fiebrig aus und klagte über leichten Schwindel, wollte aber nicht umkehren, bevor er eine Runde durch das Theater gedreht hatte.»
Die Kellnerin brachte das Essen. Schweigen stellte sich erneut ein. Lisa Bürgi hatte ihren Blick starr auf ihren Teller gerichtet und kaute. Es sah aus, als müsse sie das Essen herunterwürgen. Wieder stellte Samantha sich die Frage, warum es ausgerechnet ein gemeinsames Essen sein musste, zu dem Lisa Bürgi Joel und sie gebeten hatte. Ein Kaffee hätte es auch getan.
Nach einer Weile legte Lisa Bürgi Gabel und Messer neben den Teller. Sie hatte nicht einmal die Hälfte gegessen. «Zum Glück sind die Kinder nicht mitgekommen und mussten zusehen, wie ihr Onkel in den Tod stürzte.»
«Wie alt sind Ihre Kinder?», fragte Joel. Er schien wie Samantha erleichtert zu sein, weil es eine Möglichkeit gab, das Thema zu wechseln.
«Meine Töchter sind dreizehn Jahre alt.» Lisa Bürgi hob den Kopf. «Haben Sie Kinder?»
«Nein», antwortete Joel.
Lisa Bürgis Augen wanderten zu Samantha.
«Ich auch nicht.»
«Sind Sie verheiratet?»
«Nein, aber ich habe eine Freundin.» Für einen Augenblick dachte Samantha, er werde ihre Hand nehmen. Lisa Bürgi musste es ebenfalls aufgefallen sein, und für einen kurzen Augenblick war sie irritiert. Zum Glück kam die Kellnerin und räumte die Teller ab. Als Lisa Bürgi fragte, ob sie gerne ein Dessert hätten, verneinte Joel zu Samanthas Erleichterung.
«Wir sollten zurück ins Büro, aber vielen Dank.»
***
«Ich denke, du solltest zur öffentlichen Abdankungsfeier in Olten kommen», sagte Joel, als er auf dem für seinen Wagen reservierten Parkplatz hielt. Er ergriff ihre Hand und strich mit dem Daumen über ihren Handrücken. «Ich weiss, was das in dir auslöst. Es wäre aber eine nette Geste Lisa Bürgi gegenüber.»
«Ich überlege es mir», murmelte Samantha.
Als Joel Anstalten machte auszusteigen, hielt Samantha ihn zurück. «Bist du Lisa Bürgi früher mal begegnet?»
«Das liegt ähnlich weit zurück wie die Begegnung mit Alexander. Damals hatte sie rote Haare und war pummelig. Sie hat ordentlich abgenommen.»
«Ich finde sie eine eindrucksvolle Frau.»
«Dem stimme ich zu.»
«Gleichzeitig ist sie mir ein wenig, wie soll ich sagen, unheimlich.»
«Wie meinst du das mit ‹unheimlich›?»
«Ich kann es nicht erklären. Sie ist sympathisch, aber gleichzeitig wieder nicht. Sie wirkt hart, und ich habe das Gefühl, derjenige, der sich mit ihr anlegt, hat nicht viel zu lachen.»
Joel machte den Eindruck, als liesse er sich das Gesagte durch den Kopf gehen und wägte ab, ob er dem zustimmen sollte oder nicht.
«Was macht sie beruflich?», fragte Samantha.
«Soviel ich weiss, ist sie Anwältin und ist mit einem Anwalt verheiratet.»
«Daher diese Ausstrahlung.»
«Ich denke eher, die hängt mit dem Tod ihres Bruders zusammen. Vergiss nicht, vor ungefähr zwei Jahren ist ihr Vater unerwartet gestorben, als er einen Herzinfarkt hatte.»
«Hatte ihr Bruder definitiv auch einen Infarkt?»
«Keine Ahnung. Eine offizielle Mitteilung hierzu gibt es nicht, sondern nur die Spekulationen in den Medien.»
«Bei Alexander Bürgi scheint gerade eine Grippe im Anzug gewesen zu sein, wenn ich Lisa Bürgis Erzählung richtig deute. Ihm könnte kurz schwindlig geworden sein, und daher hat er das Gleichgewicht verloren.»
«Dein Erklärungsansatz klingt logisch.»
«Aber sonst soll er kerngesund gewesen sein, wie es überall heisst.»
«Das galt sein Vater damals auch.»
«Müsste man nicht eine Vorgeschichte für einen Infarkt haben?»
«Worauf willst du hinaus? Veranlagung? Schlechter Lebenswandel? Ich meine zu viel Alkohol, Rauchen, Übergewicht?»
Samantha schwieg.
«Okay, geraucht hat er. Ich mag mich erinnern, wie Reto erwähnt hatte, er und seine Geschwister wollten mit dem Rauchen aufhören. Aber das Vorhaben haben sie nicht in die Tat umgesetzt. Zumindest Reto nicht, wenn ich an seine Stumpen denke.»
«Seine Schwester raucht auch.» Samantha dachte, wie Lisa Bürgi heftig an der Zigarette gezogen hatte, als sie sich vor dem Gasthof verabschiedet hatten.
«Das meine ich aber nicht», sagte sie. Dieses undefinierbare Gefühl, das sie am Vortag empfunden hatte, drängte an die Oberfläche.
«Willst du andeuten, jemand hat nachgeholfen?», fragte Joel überrascht. «Mit einer Grippe?»
Samantha senkte den Kopf. Mit einem Mal war der Gedanke da, der sich gestern geweigert hatte, fertig gedacht zu werden: zwei Todesfälle von gesunden Personen aus derselben Familie in einem relativ kurzen Abstand hintereinander – Samantha empfand zwei Jahre als nicht lange her. Das konnte kein Zufall sein. Jetzt, da der Gedanke da war, liess er sich nicht mehr abschütteln. Sosehr sie sich auch einzureden versuchte, wie absurd er war. Todesfälle konnten durchaus hintereinander in einer Familie vorkommen und waren auf den zweiten Blick nicht abwegig.
«Wir waren dabei und haben nichts Verdächtiges gesehen. Oder hast du gesehen, wie jemand Alexander Bürgi gestossen hat?»
Samantha verneinte.
Samantha starrte auf den Bericht des Re-Audits des indischen Lieferanten in Agra in Indien, ohne wahrzunehmen, was dort stand. Ihre Gedanken kreisten um Alexander Bürgi und seinen Vater. Warum liess sie die Frage, wie Fritz Bürgi genau zu Tode gekommen war, nicht los? Hatte er in einer ähnlichen Situation wie sein Sohn einen Herzinfarkt gehabt?
Samantha schielte zu Linda hinüber, die vertieft in ihre Arbeit war.
Als Samantha einen neuen Versuch unternahm, den Bericht zu lesen, verselbstständigten sich ihre Gedanken nach dem dritten Satz. Sie gab auf und öffnete das Internet. Samantha gab den Namen «Fritz Bürgi» und «Tod» in die Maske ein. Sogleich erschien eine Auflistung von Links zu verschiedenen Zeitungsberichten. Samantha klickte wahllos einen an und überflog die Zeilen. Es war ein Interview mit der Witwe am Tag, nachdem er gestorben war. Trotz der kurz angebunden wirkenden Antworten konnte Samantha sich ein Bild machen.
Fritz Bürgi hatte es sich an einem Samstagnachmittag im Liegestuhl auf der Terrasse seines Hauses gemütlich gemacht, hiess es in dem Artikel. Als ein Freund, der zu Besuch gewesen war, sich eine Viertelstunde später zu ihm gesellt hatte, war er tot gewesen. Es hatte Untersuchungen geben, die aber nichts anderes als den Herzinfarkt ergeben hatten. War es naheliegend, dass Kinder von Eltern mit Herzinfarkt gefährdet waren? So wie zum Beispiel die Veranlagung von Krebs vererbbar war. Aus den Augenwinkeln sah Samantha, wie Linda den Raum verliess. Sie rief einen anderen Artikel auf. Dieses Mal war es ein Interview mit Reto Bürgi, ebenfalls einen Tag nach dem Vorfall. In etwa stand hier das Gleiche, obwohl der Artikel nicht so ausführlich wie der erste war.
Du siehst Gespenster, dachte Samantha und schloss die Maske. Nur weil es um die Inhaber eines grossen Unternehmens ging, sollte sie nicht mehr in Vorfälle hineininterpretieren als nötig. Ausserdem ging es sie nichts an.
Samantha stand auf und trat an das Fenster. Auf der Autobahn Richtung Bern hatte es Stau. Du solltest eindeutig weniger Krimis lesen. Sie drängte ihre Gedanken auf die Seite. Sogleich schlich sich ein neuer hinein. Die offizielle Abdankung in Olten. Am liebsten würde sie sich drücken, aber sie musste Joel recht geben. Da sie dabei war, als Alexander starb, war es beinahe Pflicht. Sie beschloss, spontan zu entscheiden, ob sie ging, wenn das Datum feststand.