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Die Tür öffnete sich, und Samantha zuckte zusammen. Sie stöhnte innerlich auf, als hinter Linda Julia den Raum betrat. Im nächsten Augenblick stutzte sie. Julia musste während der Mittagspause beim Coiffeur gewesen sein. Ihre vorher braunen Haare leuchteten rot. Ihnen war ausserdem ein Kurzhaarschnitt verpasst worden, der vermutlich jugendlich wirken sollte. Samantha wusste von Julia, die sich mit Mitte vierzig alt vorkam, dass sie unbedingt einen jugendlichen Eindruck erwecken wollte. Doch dieser Aufzug verfehlte den von Julia gewünschten Effekt völlig.
Linda stellte ein Kuchenstück auf Samanthas Schreibtisch. «Den habe ich für dich vor den Vielfrassen dieser Firma in Sicherheit gebracht.»
Samantha musste verwirrt aussehen. «Mein Geburtstagskuchen. Du warst ja am Mittag mit Joel zu diesem Mittagessen mit Frau Bürgi weg.»
Julias Miene verfinsterte sich, aber sie enthielt sich zu Samanthas Erleichterung eines Kommentars.
«Der sieht fein aus.»
«Rüebliltorte.» Linda grinste. «Ich weiss, es ist dein Lieblingskuchen, und ich habe ihn ausprobiert. Ohne mich selber loben zu wollen, muss ich sagen, mein erster Versuch ist mir gelungen.»
Sie backte für ihr Leben gerne. Ihre Eltern hatten in Deutschland eine Konditorei gehabt. Zu deren Leidwesen hatte Linda diese nicht übernommen.
Samantha biss in das Stück. «Der schmeckt gut. Vielen Dank.»
Neben ihr erklang ein Räuspern. Samantha drehte sich in die Richtung und blickte in Julias säuerliche Miene. Sie legte den Kuchen zurück auf den Teller. «Was kann ich für dich tun?» Innerlich wappnete sie sich auf die nächste Anschuldigung und überlegte bereits, wie sie eine Affäre – mit wem auch immer – abstreiten konnte.
«Hast du etwas, das du an unserem Workshop besprechen möchtest?» Das klang beinahe normal. «Ich würde es dem Coach, den Joel hinzuziehen möchte, weiterleiten.»
«Ich habe keine Ergänzungen zu dem, was ich dir letzte Woche geschickt habe.»
Julia nickte, drehte sich um und war in der nächsten Sekunde aus dem Raum hinaus.
«Sie war direkt freundlich zu dir», sagte Linda.
«Ich frage mich, was dieser Workshop bringen soll», sagte Samantha.
«Ich finde es gut, weil Joel ihn angeordnet hat. Vieles ist in diesem Team im Argen, was man nicht merkt, weil man sich daran gewöhnt hat.» Linda war es gewesen, die Joel den Vorschlag zu einem Workshop wegen der festgefahrenen Situation im Team gemacht hatte, als sie während einer Teamsitzung darauf zu sprechen kamen. Teilweise harzte es mit der Zusammenarbeit und Kommunikation, und der Umgangston liess wiederholt zu wünschen übrig. Die Hauptschuld an der Situation gab Samantha Julia, die seit letztem November alles aufmischte und eine Unruhe in das Team brachte.
Joel hatte ausgerechnet Julia damit beauftragt, diesen Workshop, der auf neutralem Terrain in Kandersteg stattfinden sollte, zu organisieren. Als sie ihn auf den Widerspruch angesprochen hatte, hatte er dem nicht zugestimmt. «Den Workshop von Julia organisieren zu lassen ist Absicht», hatte er erklärt.
Samantha blickte auf die Uhr und erschrak. Heute Abend war das Geburtstagsessen von Joels Vater. Sie sollte dringend los.
***
Der Bruder heisst Mario, dachte Samantha. Und Joels Schwester ist Simona. Seine Eltern heissen Beat und Verena. Simona ist mit Maik verheiratet und hat einen kleinen Jungen, der erst drei Wochen alt ist. Sein Name ist … Es war hoffnungslos. Wie sollte sie sich das alles merken? Ihre Aufregung nahm zu. Wie würden sie auf Samantha reagieren? Soviel sie wusste, hatte Joel seiner Familie bisher nichts von ihr erzählt. Das war nicht verwunderlich, da der Kontakt zu seiner Familie bisher aus Samanthas Sicht so gut wie nicht existent war. In dem halben Jahr, in dem sie zusammen waren, hatte es nach Samanthas Wissen weder einen Telefonanruf, ein E-Mail oder eine Karte gegeben. Sogar zu Weihnachten war weder Joel zu seinen Eltern gefahren, noch hatte er jemanden aus seiner Familie zu sich eingeladen. Dabei wohnten seine Eltern in Liestal. An zu grosser Entfernung konnte es nicht liegen, und wiederholt hatte Samantha sich gefragt, was die Ursache für diese Funkstille war. Über den Grund für die spontane Einladung zum Geburtstag seines Vaters hatte Joel sich ebenfalls ausgeschwiegen. Wenn das Gespräch in diese Richtung gedriftet war, war er ausgewichen und hatte Samantha zu verstehen gegeben, nicht näher darauf eingehen zu wollen. «Warte, bis du sie kennenlernst», hatte er gesagt. Als ob das als Erklärung ausreichte. «Ich möchte dich nicht beeinflussen», hatte er nach einer Pause angefügt. «Du sollst ihnen ohne Vorbehalt begegnen.»
Das war schwerlich möglich, aber sie hatte es dabei belassen.
Wie die Beziehung zu seinen Geschwistern war, wusste Samantha auch nicht. Bis auf die Geburtsanzeige des Kindes von Simona hatte es keinen Kontakt zu ihr und ihrem Mann gegeben. Es hatte Samantha erstaunt, dass er für das Geburtstagsgrillieren seines Vaters zugesagt hatte. Sie hoffte, die Situation zwischen Joel und seiner Familie werde sich klären, da der anscheinend bisher unüberbrückbare Zwist sie traurig stimmte.
«Hast du ihnen gesagt, du würdest mich mitbringen?», fragte Samantha. Sie fuhr mit den Fingern durch die Pflanzenschale mit Kräutern, die sie als Geschenk gekauft hatte und auf ihrem Schoss balancierte. Zwischen die Pflanzen hatte Joel einen Essensgutschein eines Restaurants in Liestal, das Samantha nicht kannte, gesteckt. Thymian, Rosmarin und Oregano verströmten ein angenehmes Duftgemisch, das sie beruhigte.
Joel setzte den Blinker und bog rechts ab.
«Ja, ich habe gesagt, ich werde jemanden mitbringen.»
Jemanden? Das klang unbestimmt.
Er hielt vor einem Einfamilienhaus an und stellte den Motor ab. Samantha schaute sich um. Das Quartier bestand aus älteren Einfamilienhäusern, die teilweise hinter Büschen, Hecken und Bäumen versteckt waren. Zwischen den Bäumen konnte sie einen modernen grauen Block erkennen.
«Was ist das dahinten?», fragte sie.
«Das Gymnasium. Daher heisst das Quartier auch Gymhügel.»
«Bist du dort zur Schule gegangen?»
«Ja, ich habe meine Matura dort gemacht.»
«Du hattest es bequem. Ich meine, dein Schulweg war kürzer als meiner.»
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das erste an diesem Tag. Es drängte die Anspannung, die ihn den ganzen Tag umgab, in den Hintergrund.
«Es hatte gewisse Vorteile.» Joel zog den Schlüssel aus der Zündung. «Bereit?», fragte er.
«Bist du es?», stellte sie die Gegenfrage, als seine Miene wieder ernst geworden war. Ernst stimmte nicht ganz, versteinert passte eher.
«So schlimm wird es nicht werden», sagte sie betont locker. Sie beugte sich vor und gab Joel einen Kuss.
Erneut fragte Samantha sich, was zwischen Joel und seiner Familie vorgefallen sein musste. Er sah aus, als wünschte er sich an jeden anderen Ort auf dieser Welt und würde einiges darum geben, nicht aussteigen zu müssen. Warum hatte er die Einladung angenommen? Hatte sein Vater einen runden Geburtstag? Samantha war versucht, Joel vorzuschlagen, den Rückzug anzutreten. Dazu war es aber zu spät.
Sie stiegen aus. Entferntes Kinderlachen war zu hören. Ansonsten war es bis auf die im leichten Wind raschelnden Blätter ruhig. Schweigend gingen sie auf das Einfamilienhaus mit dem verwilderten Garten zu. Auf der rechten Seite des Weges blühte ein Durcheinander von Wildblumen. Die warme Luft war angefüllt von dem Summen der Insekten. Die Rosen auf der anderen Seite und an dem Bogen verströmten einen süssen Duft. Samantha verlangsamte ihr Tempo. Aus diesen Rosen konnte man bestimmt Rosenwasser, Sirup oder ähnliche Produkte herstellen. Sie widerstand dem Drang, an den Blüten zu schnuppern, und folgte Joel, der es auf einmal eilig hatte, zur Haustür. Sie stellte sich neben ihn. Als er klingelte, schaute sie in den Garten zurück. Die Kirschen waren reif und warteten darauf, geerntet zu werden. Ein Feigenbaum verdeckte den grössten Teil eines Schuppens. Er hatte, wie der in Joels Garten, bereits kleine Früchte. Samantha freute sich darauf, wenn die Früchte reif waren, da sie Feigen gernhatte.
Die Tür wurde geöffnet. Eine untersetzte kleine Frau mit einem Kurzhaarschnitt stand vor ihnen. Ihre Haare waren braun. Im Scheitel erkannte Samantha einen schmalen grauen Haaransatz.
«Hallo, Joel.» Das klang distanziert. Drei schnelle Küsschen rechts und links, bevor ihr Blick auf Samantha fiel.
«Wer ist das?», fragte sie. Abweisung pur.
«Das ist Samantha», sagte Joel steif. «Ich hatte angekündigt, jemanden mitzubringen.»
Samantha reichte der Frau ihre Hand, die aber nicht von ihr ergriffen wurde.
«Aber von einer Freundin hast du nichts erwähnt.»
«Ich dachte, es wäre klar.»
Samantha kam sich lächerlich vor, die Hand weiterhin ausgestreckt zu halten, und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie presste die Kräuterschale an ihren Körper. Der Blick von Joels Mutter wanderte von ihrem Gesicht zur Hand und zurück.
«Eine Ausländerin», sagte sie, was wie eine Anklage klang.
Samantha versteifte sich augenblicklich. Nur mit Mühe konnte sie eine Erwiderung zurückhalten.
Ihr war es bis jetzt nicht gelungen, sich ein dickes Fell zuzulegen, wenn sie aufgrund ihres Aussehens angegangen wurde. Zum Glück war es bisher nur verbal geschehen, aber es tat jedes Mal weh. Meistens reichte es, wenn sie auf Schweizerdeutsch antwortete und ihre Gegenüber so in Verlegenheit brachte. Doch sie war unfähig, einen Ton zu sagen.
«Samantha stammt aus Indien und wurde von Schweizern adoptiert, als sie ein Baby war», sagte Joel.
Weiterhin war der abschätzende Blick auf Samantha gerichtet, und sie hätte am liebsten kehrtgemacht.
Sekunden verstrichen, in denen Samantha sich fragte, ob Joels Mutter sie überhaupt ins Haus lassen würde. Die peinliche Stille wurde unterbrochen, als ein kräftig gebauter Mann Ende dreissig hinter Joels Mutter trat. Der Statur nach würde sie auf Schwingen als sein Hobby tippen.
«Vreni?», fragte er.
«Joel ist da», erwiderte sie. Ihre Stimme klang wie eine knarzende Tür.
«Hallo, Joel», sagte er und reichte im Anschluss Samantha die Hand. «Ich bin Maik.»
Maik? Samantha forschte in ihrem Gedächtnis. Richtig, der Mann von Joels Schwester.
«Soll ich dir das abnehmen?»
Mechanisch reichte Samantha ihm die Kräuterschale.
«Wir sind draussen auf der Terrasse und haben den Grill angeworfen. Er machte eine Bewegung mit der Hand. Als Samantha an Verena vorbei hinter Joel ins Haus schlüpfte, spürte sie deutlich, wie Verenas Ablehnung gegenüber ihr wuchs.
Das Gefühl, unerwünscht zu sein, verebbte nicht, als sie auf die Terrasse trat. Joels Vater nickte ihr kaum merklich zu, und Joels Bruder Mario liess nur ein kurzes «Hoi» in ihre Richtung verlauten, als Joel Samantha vorstellte. Sie bemerkte, wie auch er sie musterte. Die Art, wie sein Blick über ihren Körper glitt, verursachte ihr Unbehagen.
«Vreni», sagte Joels Vater zu seiner Frau. «Das Fleisch ist gleich fertig.» Er deutete auf den festlich gedeckten Tisch.
Samantha setzte sich bewusst ganz aussen an den Tisch. Mario ergriff die Gelegenheit und nahm neben Samantha Platz. Joel setzte sich auf ihre andere Seite an das kurze Tischende und warf ihr einen schnellen Blick zu. Entschuldigend, wie Samantha meinte. Es war definitiv ein Fehler gewesen, mitzukommen. Der Tisch passte nicht zu der eisigen Stimmung. Kleine Blumensträusse standen in der Mitte neben Salatschüsseln. Bei dem Geschirr musste es sich um das handeln, das nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt wurde. Auf den Tellern waren die Servietten zu kunstvollen Gebilden gefaltet.
Joels Schwester Simona, die gegenüber von Samantha Platz genommen hatte, reichte ihr die Salatschüsseln. Samantha schöpfte sparsam vom grünen Salat und dem Teigwarensalat. Sie wartete, bis sich alle vom Fleisch bedient hatten, und nahm ein kleines Stück Pouletfleisch. Sie wich den verstohlenen Blicken aus.
«Verstehen Sie Deutsch?», fragte Joels Vater in Schriftdeutsch. Samantha fiel auf, bisher nichts gesagt zu haben.
«Ich bin in der Schweiz aufgewachsen», wiederholte sie in Mundart das, was Joel vorhin seiner Mutter gesagt hatte. Kurz entgleisten seine Gesichtszüge. Würde sie diese Szene im Kino sehen, wäre es witzig, aber jetzt wäre sie am liebsten im Boden versunken.
Immerhin kam nach und nach ein Gespräch in Gang, das vorwiegend von Maik, Mario, Joel und seinem Vater geführt wurde. Simona und Verena schauten wiederholt in Samanthas Richtung. In Verenas Blick lag weiterhin Ablehnung. Simonas konnte Samantha nicht richtig deuten. Unter anderen Umständen hätte sie es Neugierde genannt.
Verstohlen betrachtete Samantha die Anwesenden. Joels Vater hatte schneeweisse volle Haare und war ähnlich gross wie Joel, wenn auch nicht so schlank. Simona und Mario konnten es nicht leugnen, Joels Geschwister zu sein. Sie hatten die gleichen dunklen Augen und dunkelbraunen Haare mit dem leichten Kastanienton. Marios waren circa fünfzehn Millimeter kurz geschnitten. Simonas dagegen fielen in weichen Wellen über ihre Schultern. Neben ihrem Mann sah sie zerbrechlich aus.
«Ihr wart am Sonntag in Augusta Raurica?», fragte Joel Maik erstaunt und brachte Samantha damit dazu, ihre Aufmerksamkeit zur Unterhaltung zurückzuführen.
«Wir wohnen in Mumpf», sagte Maik, schaute dabei Samantha an, als wolle er sie mit ins Gespräch ziehen.
Obwohl sie keine Ahnung hatte, wo dieser Ort lag, und zu gerne nachgefragt hätte, beschloss sie, weiterhin zu schweigen.
«Es war unser erster weiter Ausflug mit Nico», fuhr Maik fort, da Samantha nichts erwiderte. «Wenn man überhaupt von weit sprechen kann. So langsam versuchen wir unseren Aktionsradius auszudehnen. Bisher reichte er nur rund um das Dorf. Einen Spaziergang durch Augst stuften wir als machbar ein. Dabei sind wir am Theater vorbeigekommen. Wir haben die beiden sogar gesehen. Wir haben das Theater verlassen, und sie strebten gerade darauf zu. Der Mann war blass, und ich habe zu Simona gesagt, er sähe aus, als würde er sich gleich übergeben.»
«Schade, dass wir euch nicht getroffen haben», sagte Simona und blickte dabei Samantha an.
«Wir waren geschockt, als wir von dem Unglück in den Medien hörten», sagte Maik. «Herr Bürgi ist dein Arbeitgeber?», frage er Joel.
«Indirekt. Vor ungefähr zwei Jahren ist sein Vater gestorben und hat die Aktien der Firma unter der Mutter und den drei Geschwistern aufgeteilt. Aktiv in der Firma tätig ist aber nur Reto Bürgi. Das ist der Bruder des Verunfallten. Er ist der CEO.»
«Was passiert mit dem Anteil des Verunglückten?», fragte Maik. «Ich nehme an, das erbt seine Frau.»
«Er war nicht verheiratet», mischte sich Mario in das Gespräch ein.
«Woher weisst du das?», fragte Simona. «Hast du das aus den Medien?»
«Nein. Ich bin Kundenberater bei der Bank, bei der AarePharm ihr Konto hat. Ich bin der Zuständige für die Verwaltung der Firmenkonten des Unternehmens.» Er blickte Joel an. «Dank dir, Bruderherz. Okay, eher indirekt.» Sein Lächeln wirkte echt, obwohl Samantha sich nicht sicher war, wie echt es gemeint war. Wieso sollte Joel Mario geholfen haben, die Konten von AarePharm zu verwalten, wenn die beiden keinen Kontakt gehabt hatten?
«Wer erbt seinen Teil?», wiederholte Simona Maiks Frage.
«Keine Ahnung. Da weder Frau noch Kinder existieren, geht sein Vermögen an das zweite Parentel, würde ich vermuten», antwortete Mario.
«An sein was?», rutschte es Samantha heraus, bevor sie sich zurückhalten konnte.
Mario neigte sich leicht in ihre Richtung. Sein Oberschenkel berührte kurz ihr Bein. «Entschuldige mein Fachchinesisch.» Seine Augen hatten zu glänzen begonnen, und Samantha hatte das Gefühl, als habe er ihr zugezwinkert. Flirtete er etwa mit ihr? In Gegenwart seines Bruders? Für einen Moment senkte Mario den Blick, und Samantha spürte, wie seine Augen kurz auf ihren Brüsten ruhten. Als er sie erneut anschaute, glitzerte es in seinen Augen. Samantha unterdrückte den Drang, ein Stück von ihm wegzurutschen. Mario griff zum Glas und trank einen Schluck Wein. Als er es zurückstellte und seine Hand zurückzog, streifte er Samanthas Hand, die sie neben den Teller gelegt hatte. Die Berührung war wie ein Stromstoss, und Samantha rutschte auf ihrem Stuhl nach hinten. Joel versteifte sich neben ihr und legte seine Hand auf Samanthas linke. Verena stiess ein leises Schnauben aus.
«Kurzfassung, aber ohne Gewähr, ob ich es wirklich richtig im Kopf habe, denn ich bin kein Notar.» Mario zwinkerte Samantha zu, und dieses Mal war es nicht eingebildet. Es war definitiv ein Fehler gewesen, nicht den Mund zu halten.
«Stirbt eine Person, gibt es in der Schweiz eine rechtliche Erbfolge. Die ist in verschiedene Abschnitte aufgeteilt. Den Parentelen. An erster Stelle stehen der Ehe- oder der eingetragene Partner sowie die Kinder. Gibt es die nicht, kommen die im zweiten Parentel zum Zuge. Das sind überlebende Eltern und beziehungsweise oder die Geschwister, und wenn die nicht mehr existieren, geht es an deren Kinder. Damit meine ich Nichten und Neffen des Verstorbenen. Da aber Alexander Bürgis Mutter lebt, wird das meiste seines Vermögens an sie gehen, denke ich.»
«Ist das automatisch so?», fragte Maik. «Kann man nicht selber entscheiden, wem man sein Geld gibt und wem nicht?»
«Einen Teil kann man selber bestimmen, aber ein Pflichtteil wird an den Ehepartner, die Kinder beziehungsweise Enkel oder an die Eltern und Geschwister gehen.»
Das klang kompliziert. Ob es stimmte, was Mario erzählte, konnte Samantha nicht sagen, da sie sich mit Erbfragen nicht auskannte.
Samantha streifte durch den Garten. Sie war froh, das Essen überstanden zu haben, oder besser gesagt den Hauptgang, und einen Augenblick alleine sein zu können. Nach dem Essen hatte Joels Vater Maik und Mario gebeten, ihm zu helfen, einige Möbelstücke von einem in den anderen Raum zusammenzustellen, da nächste Woche der Maler kommen sollte und er es nicht alleine schaffte. Joel und Simona hatten ihrer Mutter geholfen, den Tisch abzuräumen. Samantha hatte sich im Hintergrund gehalten und war, nachdem alle verschwunden waren, aufs WC gegangen. Als sie Richtung Terrasse zurückkehren wollte und an der Küche vorbeigekommen war, hörte sie Verena gerade sagen: «Ich dachte, wir wollten einen Neuanfang versuchen.»
«Deshalb bin ich heute Abend hier», war Joels Antwort.
«Das wird nur möglich sein, wenn du die Beziehung zu dieser Person beendest. Ich will keine dunkelhäutigen Ausländerenkelkinder.»
Samantha hatte Joels Antwort nicht mitbekommen und war zurück zur Terrasse geflohen, wo sie beinahe mit Simona zusammengestossen war. Zu Samanthas Erleichterung war aus dem Babyphone unzufriedenes Geschrei geschallt.
«Er hat Hunger», hatte sie gesagt.
Samantha versuchte die Fassung zurückzuerlangen und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie hatte halbwegs gelernt, mit derartigen Äusserungen zurechtzukommen. Zumindest dachte sie das. Offenbar war dem nicht so. Sie wünschte sich, geblieben zu sein, damit sie Joels Antwort mitbekommen hätte. Wie wichtig war ihm der Neuanfang mit seinen Eltern? Würde er ihre Beziehung opfern? Sie liebte ihn und er sie. Doch wie gross war seine Liebe wirklich? Bisher hatte sie daran nicht gezweifelt. Samantha verfluchte sich, Unsicherheit zu spüren. Ein ungewohntes Gefühl, das weitere Unsicherheit nach sich zog.
Eins stand fest, sobald sie alleine mit Joel war, musste sie Verenas Aussage ansprechen, falls er es nicht tat. Samantha atmete mehrmals tief ein. Sie musste Kraft sammeln. Sie wandte sich nach links. Dieser Teil des Gartens machte einen gepflegt verwilderten Eindruck. Der Ort strahlte Frieden aus. Frieden, den sie nicht empfand und den es hier nicht gab. Sie lehnte sich gegen den Stamm eines roten Ahorns. Es war noch hell. Etwas, das sie genoss. Auch wenn man dazu verleitet wurde, spät ins Bett zu gehen und am nächsten Morgen hundemüde an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen. Samantha schaute auf ihre Armbanduhr. Es war zwanzig nach acht.
«Ein schöner Abend, nicht wahr?» Simona trat neben sie, und Samantha wich ein Stück zurück. Über ihrer Schulter lag ein Baby. «Das ist Nico», sagte sie und drehte sich so, dass Samantha das Baby besser sehen konnte.
«Wie herzig», entfuhr es Samantha. «Er ist so klein.»
«Er ist drei Wochen alt.»
«Es ist bestimmt anstrengend.»
«Ja, das ist es. Besonders das Gewecktwerden in der Nacht.»
Nebeneinander gingen sie auf das Haus zu. Dabei klopfte Simona leicht über den Rücken des Babys. Als sie bei der Terrasse ankamen, stiess Nico auf.
Die Anwesenheit der beiden tat gut. Simona wurde Samantha sympathischer. Samantha hatte das Gefühl, Simona sei die Einzige der Familie, die ihr gegenüber ohne Vorbehalte war. Sie wünschte, mit Simona über das sprechen zu können, was zwischen Joel und seinen Eltern vorgefallen war, wusste aber nicht, wie gross Simonas Loyalität gegenüber ihren Eltern war.
«Kannst du ihn bitte nehmen, damit ich das hier entsorgen kann?»
Nun sah Samantha den Plastiksack in Simonas anderer Hand.
«Ich soll ihn halten?»
«Das ist nicht schwer.» Simona legte Nico vorsichtig in Samanthas Arme. «Entspann dich. Ich bin gleich zurück.»
Bevor Samantha etwas erwidern konnte, war Simona im Haus verschwunden.
Samantha setzte sich und betrachtete das Baby, das wohlig vor sich hin gluckste. Es hatte einen dunklen Flaum auf dem Kopf und grosse blaue Augen. Die kleinen Finger der rechten Hand schlossen sich um Samanthas, als sie ihm ihren Zeigefinger hinhielt. Ein unbeschreibliches Gefühl breitete sich in ihrem Inneren aus.
«Das ist ja die Höhe!»
Samanthas schrak hoch.
«Wie können Sie nur!»
Im gleichen Moment riss Verena das Baby aus Samanthas Armen. Sofort setzte Nico zu einem Protestgeheul an. «Wie können Sie ihn nur schütteln!»
Samantha sprang auf. «Ich habe ihn nicht geschüttelt.»
«Natürlich haben Sie das. Wie gut, dass ich gerade gekommen bin.»
«Ich habe ihn nicht …»
«Was ist passiert?» Simona stürzte auf die Terrasse.
«Wie konntest du ihn nur ihr anvertrauen?»
Simonas Blick huschte von Samantha zu ihrer Mutter und zurück.
«Sie hat ihn geschüttelt», wiederholte Verena.
Simona schaute fragend Samantha an. «Habe ich nicht!», rief Samantha mit Nachdruck.
«Ausländerpack. Von so einer kann man ja nichts anderes erwarten.» Fest drückte Verena das Baby an sich. Nico schrie lauter, und sie reichte Simona ihr Kind. Nicos Gebrüll nahm weiter zu. Samantha hätte nie gedacht, dass ein Baby so laut schreien könne. Simona entfernte sich von Verena und Samantha. Sie trug Nico wiegend durch den Garten und verschwand hinter dem Kirschbaum.
«Verantwortungslos ist das», ereiferte sich Verena, bevor Samantha antworten konnte.
«Sie haben ihn zu Tode erschreckt, als Sie ihn aus meinen Armen gerissen haben», rief Samantha und richtete sich auf.
«Geben Sie mir etwa die Schuld?», ereiferte sich Verena.
«Ja», brach es aus Samantha heraus.
«Bitte verlassen Sie sofort das Haus.» Dicht trat sie an Samantha heran und stemmte die Hände in die Hüfte. «Und lassen Sie sich ja nicht mehr hier blicken. Wir können hier keine gebrauchen, die Kinder misshandelt.»
Samantha reckte den Kopf. «Ich habe ihn nicht geschüttelt, und das wissen Sie genau. Hören Sie auf, solche Unterstellungen zu verbreiten.»
«Raus!» Verena fasste Samanthas Arm und schob sie Richtung Terrassentür. Samantha schüttelte ihre Hand ab.
«Was soll das?», rief sie und sah sich nach Simona um. Diese war nach wie vor damit beschäftigt, ihr Baby zu beruhigen.
Als Verena Samantha durch das Wohnzimmer Richtung Haustür dirigierte, begegneten sie niemandem. Von oben drang Stimmengemurmel zu ihnen herab. Ein Gegenstand fiel zu Boden. Gelächter folgte.
Ein neuer Stoss gegen Samanthas Schultern und sie stand vor der Haustür, die mit einem Klicken hinter ihr ins Schloss fiel. Samantha versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war, und senkte den Kopf. Erstaunt stellte sie fest, den Schlüssel zu Joels Wagen in der Hand zu halten. Ihr Blick wechselte zwischen Haus und dem Audi, der direkt an der Strasse hinter zwei anderen Wagen stand. Sie war sich nicht bewusst gewesen, nach dem Schlüssel gegriffen zu haben, den Joel bei ihrer Ankunft auf das Regal neben der Tür gelegt hatte.