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Joel. Wo war er?
In ihr begann es zu brodeln. So einfach liess sie sich nicht abservieren. Verena hatte einen Grund gesucht und gefunden, um sie loszuwerden. Nicht mit mir! Samantha drehte sich um und klingelte. Nichts passierte. Sie klingelte ein weiteres Mal. Die Tür öffnete sich, und sie fand sich einem verdutzten Joel gegenüber.
«Sammy, was machst du hier?»
«Deine Mutter hat mich rausgeschmissen.»
«Was? Wieso das?»
«Weil sie mich loswerden will und elegant einen Grund gefunden hat.»
«Sie hat sich unflätig benommen.» Hinter Joel war Verena aufgetaucht.
«Sammy hat was?»
«Sie ist unverschämt geworden und hat mich beschimpft.»
«Das stimmt nicht. Hören Sie endlich mit den Lügen auf!», rief Samantha.
«Was ist passiert, Sammy?», fragte Joel. «Was hast du gemacht?» Er wirkte verwirrt. Nein, das stimmte nicht. Hilflos? Das war es auch nicht. Er konnte die Szene, die sich ihm bot, offenbar nicht einordnen.
«Ich?», rief sie. «Sie ist es, die mich beschimpft hat und mir Unterstellungen macht.» Samantha war lauter geworden und kam richtig in Fahrt. Sie baute sich vor Joel und seiner Mutter auf und stemmte die Hände in die Seite.
Joels Blick wechselte zwischen Samantha und Verena hin und her. In seinem Kopf arbeitete es, als versuche er zu begreifen, was gerade geschah.
Verena gab einen erstickten Laut von sich und wischte mit dem Handrücken über ihre Augen. Ein Zittern durchlief ihren Körper, und sie schwankte. Samantha konnte nicht glauben, was für eine bühnenreife Show sie ablieferte.
Joel wirkte erschrocken. «Mueti?» Er berührte Verenas Arm. Das war zu viel für Samantha.
«Feiert eure Familienversöhnung, aber unter diesen Umständen bin ich nicht dabei. Das lasse ich nicht mit mir machen!» Mit ausgreifenden Schritten eilte Samantha zu Joels Wagen.
«Sammy! Warte.»
Samantha sprang in den Wagen. Als Joel auf sie zueilte, gab sie Gas und brauste davon.
Das Handy klingelte. Samantha schielte auf den Beifahrersitz, auf dem sie das Handy abgelegt hatte. Auf dem Display stand Joels Name. Nein! Die Wut brodelte weiter. Wie hatte er ihr das antun können? Er musste gewusst haben, was passieren könnte. Stattdessen fragte er sie, was sie getan habe. Immerhin kannte er seine Eltern, und es musste einen Grund geben, weshalb er den Kontakt abgebrochen hatte. Wenigstens hätte er sie vorbereiten können, damit sie sich hätte wappnen können. Das Klingeln hörte auf, und die Combox vermeldete den Eingang einer Nachricht.
Nein! Sie würde nicht zurückrufen. Zuerst brauchte sie Abstand.
Samantha verliess an der Ausfahrt Frick die Autobahn. Als sie durch den kurzen Tunnel unter der Bahnlinie hindurchfuhr, realisierte sie, Joels Auto zu fahren.
Bei der nächsten Strasse bog sie rechts ab und hielt am Strassenrand. Sie schaltete den Motor ab und liess ihren Kopf auf das Steuerrad sinken.
Verflixte Impulsivität. Sie hätte nachdenken und zuerst zu Joels Haus fahren sollen, um die Autos zu tauschen. Umdrehen oder weiterfahren? Joel begegnen wollte sie definitiv nicht. Verzweiflung schob die Wut zur Seite. Ihre kurz entschlossene Handlung wegzufahren war nicht richtig gewesen. Sie hätte bleiben müssen und die Situation aus ihrer Sicht schildern sollen. Nun gab es nur Verenas Version. Sie sah Joels Mutter vor sich, wie sie einen Zusammenbruch andeutete. Perfekt inszeniert. Joel war darauf eingegangen. Sie würde ihn weiter manipulieren können.
Das Klingeln ihres Handys liess sie aufschrecken. Dieses Mal war es nicht Joels Name, sondern Lorenas auf dem Display.
«Wie geht es, altes Haus?», erklang Lorenas muntere Stimme, als Samantha das Gespräch entgegennahm.
Statt zu antworten, brach Samantha in Tränen aus.
«Himmel, was ist passiert? Ich hoffe, es hat nicht mit dem Vorfall bei Augusta Raurica zu tun.»
Es dauerte einige Sekunden, bis Samantha in abgehackten Sätzen schildern konnte, was bei Joels Eltern vorgefallen war.
«Moment», unterbrach Lorena sie. «Das klingt alles total wirr. Wo bist du überhaupt?»
«Auf dem Heimweg nach Lenzburg.»
«Mir behagt es nicht, wenn du alleine bist. Weisst du was? Komm zu mir.»
«Um diese Zeit?» Samantha schielte zur Uhr. Inzwischen war es fast neun Uhr.
«Du brauchst jemanden, der dich aufbaut. Ausserdem ist heute der längste Tag im Jahr, was man bei diesem tollen Wetter ausnutzen sollte, indem man draussen sitzt.»
Wie Samantha es nach Brugg geschafft hatte, konnte sie nicht mehr nachvollziehen, als sie eine knappe halbe Stunde später vor dem Haus in der Nähe der Brugger Badi hielt. Sie wusste nur, gewendet zu haben und zurück auf die Autobahn gefahren zu sein.
Lorena musste sie erwartet haben und kam ihr entgegen, nachdem Samantha ausgestiegen war. Verdutzt hielt sie inne, als sie das Auto erblickte. «Ist das Joels Auto?»
«Der Aufbruch war ein wenig überstürzt, und ich habe nicht nachgedacht.»
Fest nahm Lorena Samantha in den Arm, und sie blieben eine Weile stehen.
«Komm erst mal. Setzen wir uns auf die Terrasse. Was möchtest du trinken? Wein?»
«Lieber nicht», sagte Samantha. «Ich muss später nach Hause fahren.»
«Musst du nicht. Du kannst gerne hierbleiben.»
«Trotzdem lieber Wasser.»
Nachdem Lorena zwei Gläser und eine Karaffe mit Wasser auf den Tisch gestellt hatte, setzte sie sich Samantha gegenüber.
«Wem gehört der Wagen mit dem Baselbieter Kennzeichen?» Lorenas Freund Cédric kam in diesem Augenblick auf die Terrasse. Seine Haare leuchteten in dem Licht der tief stehenden Sonne wie Lorenas kupferrot. Erstaunt blieb er stehen.
«So eine Überraschung», sagte er. «Nein, bleib mir lieber fern. Ich bin total verschwitzt.» Er deutete auf sein Joggingoutfit. «Wo ist Joel?»
«Ich bin alleine da.»
Deutlich las Samantha die Frage in seinen Augen, was der Grund für ihren Besuch war.
«Krisenbesprechung unter Frauen», sprang Lorena ein.
Cédric deutete mit dem Daumen auf das Haus. «Ich gehe duschen.»
«Erzähl noch mal langsam und von vorne», sagte Lorena. «Was ist genau passiert?»
Samantha kam der Aufforderung nach. Als Samantha zu der Szene vor der Tür kam, fiel sie Samantha ins Wort. «Was? Hat Joel nicht gemerkt, was abging?»
«Anscheinend nicht. Er sah aus, als wisse er nicht, was er tun sollte.»
«Joel? Wir reden von demselben Mann, nehme ich an.»
Samantha senkte den Kopf. Das Gefühlschaos hatte sie weiterhin im Griff und wechselte von Wut und Fassungslosigkeit zu Frust und Verzweiflung.
«Ganz klar hätte er sich auf deine Seite stellen müssen.»
«Wenn ich wüsste, wie es weitergehen soll.»
«Willst du meine ehrliche Meinung hören?»
Samantha hoffte, dass Lorena nicht mit ihrer alten Leier anfing.
«Eigentlich finde ich Joel sympathisch, aber von so einer Familie solltest du dich fernhalten», sagte Lorena, und Samantha wappnete sich, was als Nächstes kommen musste. Wiederholt hatte Lorena ihr erklärt, keine Zukunft in Samanthas Beziehung zu Joel zu sehen. Es war alles zu kompliziert: Er war Samanthas Vorgesetzter, und als sie zueinandergefunden hatten, hatte Samantha gerade in einer Krise wegen des Mordes an ihren Adoptiveltern gesteckt. Nach wie vor war Lorena überzeugt, Samantha habe all das, was im vergangenen Herbst passiert war, nach wie vor nicht verarbeitet und habe sich in die Beziehung zu Joel geflüchtet. Früher oder später werde sie enttäuscht sein.
«Wenigstens bist du nicht Hals über Kopf zu ihm gezogen, sondern hast deine Wohnung in Lenzburg behalten», hatte sie erklärt. Lorena war überzeugt, Joel habe die Situation damals ausgenutzt.
«Es ist eine neue Baustelle in eurer Beziehung», sagte Lorena. «In absehbarer Zeit wird es Probleme geben. Joel wird zwischen den Stühlen sitzen. Oder besser, das tut er bereits. Das Ganze wird eure Beziehung zusätzlich belasten.»
Samantha sackte in sich zusammen. «Ich weiss, du hast wiederholt in der Vergangenheit angedeutet, wir sollten uns trennen, und bist weiterhin davon überzeugt.»
«Das musst du entscheiden …»
Samantha schwieg. Die Niedergeschlagenheit nahm zu. Zum ersten Mal konnte sie Lorenas Gedankengänge nachvollziehen. Hatte sie damit recht? Hatte Samantha sich damals in die Beziehung geflüchtet und mehr darin gesehen, als es war? Bisher hatte sie nicht das Gefühl gehabt. Und würde eine Beziehung überhaupt so lange funktionieren, wenn es so war, wie Lorena meinte? Sie liebte Joel. Doch war es wirklich Liebe? Die Zweifel, die sie auf einmal empfand, waren neu.
«Du musst wissen, was du willst.» Lorena richtete sich abrupt auf. «Ausserdem finde ich es gemein von ihm, dich ins Haifischbecken zu schmeissen.»
«Was meinst du damit?»
«Er kennt seine Eltern und hätte wissen müssen, wie seine Mutter auf dich reagiert. Wenn er die Versöhnung sucht, wäre es ratsam gewesen, es erst einmal alleine zu tun. Die Aktion war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Was willst du jetzt tun?»
«Ich weiss nicht.»
«Morgen wirst du ihn sehen. Bis dahin solltest du einen Plan haben. Es sei denn, du meldest dich krank.»
«Morgen findet für die Angestellten eine kleine firmeninterne Gedenkfeier und ein Informationsanlass zu Alexander Bürgis Tod statt und wie es bei AarePharm weitergehen soll.»
«Ja und?», rief Lorena. «Darauf musst du keine Rücksicht nehmen.»
«Das ist eine seltsame Sache», sagte Cédric, der sich zu ihnen gesellte. «Der Mann fällt einfach die Treppe bei dem Theater runter, wenn man dem glauben kann, was die Medien berichten.»
«Er könnte einen Herzinfarkt gehabt haben», sagte Samantha. Dieses Thema war nicht unbedingt eins, über das sie sprechen wollte, aber sie war froh, von Joel und seiner Familie wegzukommen.
«Ist das erwiesen?» Offenbar teilte Cédric ihre Zweifel. «Seinen Tod finde ich genauso seltsam oder besser spektakulär wie den seines Vaters vor … wie lange ist das her? Zwei Jahre?»
«Spektakulär?» Samantha dachte an die Online-Artikel, die sie gelesen hatte. «In den Berichten im Internet stand, er sei in seinem Liegestuhl gestorben.»
«Am Anfang wurde vieles zurückgehalten», sagte Cédric. «Du musst die ersten Artikel, die darüber berichtet haben, gelesen haben. Erst später kam alles heraus. Die lokalen Medien haben hier lang und breit darüber berichtet. Er ist nicht einfach in seinem Liegestuhl, sondern bei einer grossen Poolparty gestorben. Zudem muss er fit wie ein Turnschuh gewesen sein, von dem sich mancher junge Typ eine Scheibe abschneiden konnte.»
«Zumindest bei uns wurde einiges darüber geschrieben», fügte Lorena an. «Wie weit bei euch in der Westschweiz darüber berichtet wurde, kann ich natürlich nicht sagen.»
Samantha überlegte. Während ihrer Zeit in Lausanne hatte sie wenig verfolgt, was die Medien berichteten. Sie war bis über beide Ohren mit der Entwicklung der neuen Medikamente beschäftigt gewesen. Da sie in Verzug waren, hatte sie Stress und keine Zeit für Nachrichten gehabt. Diese Schlagzeilen konnten durchaus an ihr vorbeigegangen sein.
Dunkel meinte sie sich zu erinnern, wie sich Kollegen über einen seltsamen Todesfall eines Unternehmers in der Deutschschweiz unterhielten. Aber sie hatte sich aus den Gesprächen ausgeklinkt und in die Arbeit gestürzt. Als sie sich später bei AarePharm beworben hatte, war es kein Thema gewesen.
«Mario hat das Gleiche wie die Artikel erzählt, die ich gelesen habe», sagte sie und fragte sich, wieso das nicht stimmen sollte. Nachdem Mario sie über die Erbreihenfolge aufgeklärt hatte, hatte er kurz die Umstände von Fritz Bürgis Tod angesprochen.
«Wer ist Mario?», fragte Lorena.
«Joels Bruder.»
«Das mit dem Liegestuhl stimmt teilweise», sagte Lorena. «Er und drei seiner Freunde haben sich zurückgezogen und gejasst. Zwei von ihnen sind nach einer Weile losgezogen, um was zu trinken zu holen. Als sie zurückkehrten, fanden sie die beiden Leichen.»
«Leichen?», wiederholte Samantha. Von zwei Toten hatte Mario nicht gesprochen.
«Der andere Kollege war ebenfalls tot. Er lag neben Fritz Bürgi auf dem Boden und hatte eine Platzwunde am Kopf.» Lorena machte eine Pause, und Samanthas Gedankenmaschinerie setzte sich in Gang. «Mord?», fragte sie. Wieso hatte Mario das nicht erwähnt? Weil er davon ausging, dass es alle damals genau verfolgt hatten und von dem anderen Toten wussten?
«Die Polizei fand nichts, was auf Fremdverschulden hindeutete. Glaub mir, sie werden genau hingeschaut haben. Es hat einen riesigen Wirbel gegeben, weil auf der Party keiner etwas bemerkt hat.»
«Sie waren gut sichtbar für andere Partygäste, aber keiner hat auf sie geachtet», ergänzte Cédric.
«Ist das glaubwürdig?», fragte Samantha.
«Keine Ahnung. Die Polizei vermutet, Fritz Bürgi könne einen Herzanfall gehabt haben. Der andere Kollege ist aufgesprungen, um zu helfen oder um Hilfe zu holen. Dabei ist er ausgerutscht und unglücklich gestürzt. Nach dieser Erklärung und der Beerdigung gab es keine weiteren Berichte in den Medien.»
Samantha sah an Cédric und Lorena vorbei zum Haus. Was bedeutete es, wenn Alexander ähnlich spektakulär starb wie damals sein Vater und dessen Jass-Kollege? Das unbestimmte Gefühl, etwas könne bei dem Tod nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, verstärkte sich. Sie fragte sich, ob es ratsam war, die Polizei über ihren Verdacht zu informieren. Nein, dachte sie. Sie würde sich lächerlich machen, wenn die Beamten nachfragten, wie sie auf eine derartige Vermutung kam, und sie antwortete, dass es ein Bauchgefühl sei. Ausserdem war sie am Sonntag dabei gewesen und hätte gesehen, wenn Alexander gestossen worden wäre.
VIER
Samantha war alleine in der Kaffeeecke ihrer Abteilung, worüber sie froh war. Sie hatte schlecht geschlafen und sah sich nicht in der Lage, Small Talk mit Mitarbeitern zu machen.
Ihr Handy klingelte. Patrick, der Sohn der Nachbarn ihrer Eltern. Sie hatte länger nichts mehr von ihm gehört und fragte sich, warum er während der Arbeitszeit anrief. Samantha stellte den Cappuccino neben die Kaffeemaschine und nahm das Gespräch entgegen.
«Störe ich?», fragte er.
«Nein, ich mache gerade Kaffeepause.»
«Ich bin heute Morgen Lorena begegnet», sagte er. Damit war Samantha sofort klar, warum er anrief. Sie konnte sich gut vorstellen, was das Thema der beiden gewesen war.
«Sie meinte, du könntest eine Aufmunterung gebrauchen. Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, am Abend zum Essen zu kommen. Ich koche.»
Das klang ganz nach Lorena. Samantha konnte sich bildlich vorstellen, was sie erzählt hatte, und sie würde den Bericht ausgeschmückt haben. Bestimmt sah sie eine Chance, Patrick mit Samantha zu verkuppeln. Es wäre nicht das erste Mal. Patrick und sie waren zusammen aufgewachsen, und er war ihr erster Freund und der Erste, mit dem sie geschlafen hatte. Sie schätzte ihn, aber in ihrer Beziehung hatte etwas gefehlt, das sie nicht benennen konnte. Nach der Trennung waren sie weiter in Kontakt geblieben und hatten ihre Freundschaft fortgesetzt, die ähnlich tief wie Samanthas zu Lorenas war. Lorena dagegen konnte nicht verstehen, dass Samantha Schluss gemacht hatte, und versuchte wiederholt, sie und Patrick zusammenzubringen.
«Ich weiss nicht», sagte Samantha.
«Komm schon. Ich werde dir ein tolles Essen auf den Tisch zaubern.»
«Ich weiss, wie gut du kochst.»
«Eben.»
Samantha trank einen Schluck Cappuccino und leckte mit der Zunge den Schaum von der Lippe.
«Patrick, heute lieber nicht, aber gerne ein anderes Mal.»
«Fein», rief er. Samantha merkte, wie gut es ihr tat, mit ihm zu sprechen.
Sie plauderten eine Weile über Belangloses. Bevor sie das Gespräch beendeten, versprach Samantha, sich zu melden. Sie betrachtete das Display eine Weile. Es würde bestimmt helfen, mit ihm über die verfahrene Situation zu sprechen und die Sicht eines Mannes zu hören, der nicht direkt betroffen war.
Ein Räuspern liess sie aufschauen. Samantha erschrak. Unweit von ihr lehnte Joel gegen die Wand. Wie lange stand er schon dort? Seit Samantha vor eineinhalb Stunden die Firma betreten hatte, waren sie sich nicht begegnet. Er war nicht in seinem Büro gewesen, als sie daran vorbeigegangen war und den Schlüssel seines Wagens auf den Tisch gelegt hatte.
«Ich verstehe», sagte er, und es war Samantha, als prallten Eissplitter gegen sie. «Damit ist mir klar, warum du nicht ans Telefon gegangen bist und nicht in Lenzburg warst. Ich hoffe, er hat dich gut getröstet.»
Bevor Samantha reagieren konnte, knallte er den Schlüssel des Smart auf die Anrichte neben der Kaffeemaschine und drehte sich um. Getröstet? Ihr wurde heiss, als sie begriff, was Joel dachte. «Joel, warte!»
Joel bog um die Ecke. Sie wollte hinter ihm hereilen, blieb aber stehen, als Erik und Julia dort auftauchten.
Woher wusste er, dass sie nicht in Lenzburg gewesen war? Nur, weil sie das Telefon nicht abgenommen hatte?
Am Abend war sie nicht mehr in ihre Wohnung zurückgefahren und hatte Lorenas Angebot angenommen, bei ihr zu übernachten, da sie froh war, nicht alleine sein zu müssen. Schlafen konnte sie trotzdem nicht, und sie fühlte sich wie gerädert. Die ganze Nacht wälzte sie sich hin und her und verwünschte, auf Joels Bitte eingegangen zu sein, mit ihm zum Geburtstagsnachtessen seines Vaters gefahren zu sein.
Lorenas Argumente schoben sich als Nächstes in ihren Kopf und machten Platz für weitere Gedanken, welche ihr keine Ruhe liessen. Sie musste Lorena recht geben. So war das kein Zustand. Egal, ob ihre Beziehung eine Zukunft hatte oder nicht. Sie sollte die Konsequenzen ziehen und kündigen. Das hätte sie schon früher tun sollen. Einiges wäre einfacher gewesen.
Am Morgen war sie kurz nach sieben Uhr nach Lenzburg gefahren und hatte sich umgezogen, bevor sie nach Egerkingen weitergefahren war. Als sie angekommen war, hatte sie einen Augenblick gewartet, bis sie das Gebäude von AarePharm betreten hatte. Sie war direkt zu Joels Büro gegangen, hatte ihn aber nicht angetroffen. Sie war darüber erleichtert gewesen, war sich gleichzeitig aber im Klaren, demnächst mit ihm reden zu müssen.
Sie war froh über diesen Aufschub, da sie sich nicht sicher war, wie und ob es mit ihnen weitergehen würde. Sie liebte Joel. Das war ihr inzwischen klar. Aber es war ihr unklar, ob sie, abgesehen von den Hürden wie zum Beispiel, dass er ihr Vorgesetzter war, mit der ablehnenden Haltung seiner Familie leben konnte. Samantha brauchte die Geborgenheit einer Familie um sich herum.
Bestimmt dachte Joel, sie hätte sich in die Arme eines anderen Mannes geflüchtet. Nicht irgendeines Mannes, sondern in Patricks. Joel hatte immer seltsam reagiert, wenn die Sprache auf Patrick gekommen war. Es war Eifersucht, wie Samantha klar wurde, wofür es keinen Grund gab.
«Mars an Erde», sagte jemand dicht neben ihrem Ohr.
Erik grinste breit.
«Entschuldige, was?»
«Ich hatte gefragt, ob du weisst, um wie viel Uhr der Informationsanlass stattfindet?»
«Ich glaube um elf Uhr», antwortete Samantha.
***
«Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme», sagte Reto Bürgi. Er stand am Rednerpult, und Samantha hatte das Gefühl, er klammere sich daran fest.
Linda und Erik hatten sich gewundert, warum es diese Informationsveranstaltung geben musste. Die Angestellten waren bereits innerhalb der Teams über Alexander Bürgis Tod in Kenntnis gesetzt worden beziehungsweise hatten es aus den Medien erfahren.
«Auch wenn Alexander Bürgi bei AarePharm nicht präsent ist, ist er immerhin Miteigentümer», hatte Joel erklärt.
Vorne an der Seite hatten Retos Mutter Johanna und Lisa Bürgi Platz genommen. Sie starrten auf Reto, der erklärte, dass der Betrieb der Firma so weiterlaufen würde wie bis anhin und es keine Änderungen in der nächsten Zukunft gäbe. Das wäre bestimmt im Sinne seines Bruders. Lisa Bürgi sah blass aus. Johanna dagegen hatte eine rosa Gesichtsfarbe, und auf ihrer Stirn hatten sich Schweisstropfen gebildet, die sie hastig wegwischte.
Es war heiss und stickig im Raum, der bis auf den letzten Platz besetzt war.
Um das Rednerpult war ein schwarzes Band gewickelt, und daneben standen auf einem Tischchen ein Foto von Alexander Bürgi und eine Kerze. Reto Bürgis Rede wechselte zum Lebenslauf seines Bruders. «Er hat keine Funktion bei AarePharm innegehabt, aber er hat sich dem Pharmaunternehmen stets verbunden gefühlt.»
Reto Bürgi berichtete vom tragischen Tod seines Vaters, erwähnte aber den Tod des zweiten Mannes nicht. Samantha wunderte sich, warum er ausschweifte, und fragte sich gleichzeitig, warum Mario nur die halbe Wahrheit gesagt hatte. Ob er die Details bewusst ausgelassen, es nicht anders gewusst oder ob er gelogen hatte. Egal, welche Version zutraf, Samantha hätte gerne den Grund gewusst. Sie beschloss, ein weiteres Mal im Internet zu surfen, ob sie andere Berichte über Fritz Bürgis Tod fand.
Samantha war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt und fuhr erschrocken auf, als Reto Bürgi zur Seite trat, um seiner Mutter Platz zu machen. Samantha sass nah genug, um Johannas Gesichtszüge, die von Schmerz gekennzeichnet waren, zu erkennen. Die Augen hinter der Brille waren übergross und glasig, und die Röte des Gesichtes hatte sich intensiviert. Sie war einen Kopf kleiner als ihr Sohn und verschwand fast ganz hinter dem Rednerpult. Nur ihr Kopf schaute über die Kante. Als sie die Hände auf die Holzfläche legte, meinte Samantha, ein Zittern zu erkennen. Sie räusperte sich und griff nach dem Glas, das sie in einem Zug leerte. Sofort füllte Reto Bürgi es wieder mit Wasser auf. Johanna öffnete den Mund und hustete. Sie nahm das Glas erneut und trank in grossen Schlucken.
«Geht es?», fragte er.
Sie nickte, was fahrig auf Samantha wirkte. Johanna Bürgi wischte sich über die Stirn und über den Mund. Samantha fragte sich, ob die Frau der Aufgabe einer Ansprache gewachsen war.
Reto Bürgi setzte sich auf den Stuhl, auf dem vorher seine Mutter gesessen hatte.
«Liebe Angestellte von AarePharm», begann sie. «Es ist schwer, ein Kind …» Ihr Kopf ruckte hoch, und sie fasste sich an den Hals und hustete erneut. Ihr Atem hatte sich beschleunigt, und sie schwankte.
Reto und Lisa sprangen gleichzeitig mit Joel und Paul Schäfer auf. Joel hielt ihr das Glas mit Wasser hin, und Lisa strich über den Oberarm ihrer Mutter. Ein weiteres Mal leerte Johanna Bürgi das Glas in einem Zug.
«Mutter, was ist?», fragte Reto Bürgi.
«Ich fühle mich nicht wohl», krächzte sie. «Ich möchte gerne an die frische Luft.»
Unruhe entstand, als Lisa in Begleitung von Joel und Paul Schäfer Johanna Bürgi aus dem Raum führte.
«Soll ich einen Arzt rufen?», hörte Samantha Lisa Bürgi fragen.
«Nicht nötig. Es geht bestimmt gleich wieder.»
***
Die Stille, die in Lindas und Samanthas Büro herrschte, in das alle aus Joels Team im Anschluss gegangen waren, empfand Samantha als bedrückend. Keiner blickte den anderen an, und jeder hing seinen Gedanken nach. Sogar Julia schwieg.
Nach kurzer Zeit waren Lisa, Joel und Paul Schäfer zurückgekehrt. Samantha hatte sich gewundert, warum keiner bei Johanna Bürgi blieb. Vermutlich hatte sie darauf bestanden.
Lisa hatte den Teil ihrer Mutter übernommen. In Samanthas Kopf hallten ihre Worte wider.
«Als AarePharm gegründet wurde, war meinem Grossvater bewusst, wie viel wir den Mitarbeitern zu verdanken haben. Ohne Ihre Mithilfe und Loyalität kann ein solches Unternehmen nicht überleben und wachsen. Daher hat mein Grossvater beschlossen, dass nach einem Todesfall innerhalb der Familie für die Angestellten einmalig eine Zahlung geleistet und mit dem nächsten Lohn ausgezahlt werden soll.»
Samantha war hin- und hergerissen, ob sie es grosszügig oder makaber finden sollte. Gelegenheit, die Mitarbeiter für ihre geleistete Arbeit zu honorieren, gab es schliesslich genug und musste nicht unbedingt erst bei einem Todesfall geschehen.
Als sie zum Büro zurückgekehrt waren, hatten sie darüber diskutiert und waren sich einig, nicht zu wissen, was sie von dieser Geste halten sollten.
Am Ende hatte Lisa Bürgi allen für ihre Anteilnahme gedankt und betont, wie wichtig diese für sie und ihre Familie in der schweren Zeit sei. Ausserdem entschuldigte sie ihre Mutter. Wahrscheinlich habe sie sich bei ihren Enkelkindern mit einer Sommergrippe angesteckt.