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Viele Betroffene wünschen sich vorbeugende Behandlungen auch deshalb, weil sie endlich Kontrolle und Sicherheit wollen, aber solche Ansätze werden vom Gesundheitssystem traditionellerweise kaum ernst genommen. So beobachtet Yoon eine wachsende Nachfrage nach »nährenden«, »schützenden« Hautprodukten. Ihre Kund*innen, erzählt sie, machen sich Sorgen wegen der Luftverschmutzung und der UV-Strahlung, die durch den Treibhauseffekt und die dünnere Ozonschicht zunimmt. Wenn die Erde ihre Schutzschicht verliert, müssen die Menschen eine eigene auftragen.
Alle Produkte, die Yoon auf meine Gesichtshaut gibt, versprechen zugleich Schönheit, Schutz und Pflege und weichen damit die Grenze zwischen kosmetischer Behandlung und dem notwendigen Schutz vor Giften und anderen Umweltgefahren auf. Bei einigen Ritualen erklärt mir Yoon, meine Gesichtshaut werde so mit Nährstoffen versorgt: »Damit bekommt Ihre Haut all die Vitamine, Mineralstoffe und Fettsäuren, die sie braucht.« Langsam bekomme ich das Gefühl, viel zu sorglos zu sein.
Kosmetika sind rechtlich gesehen keine Nahrungsmittel. Und weil sie nicht von sich behaupten können, bestimmte Erkrankungen zu behandeln oder zu verhindern, auch keine Medikamente. Trotzdem dürfen ihre Anbieter damit werben, sie würden der Gesundheit dienen. Doch den langen bürokratischen Prozess, den ein Medikament bis zur Marktreife zurücklegt, müssen sie nicht durchlaufen. Yoon gehört zu der jungen Unternehmer*innengeneration, die weder nur im Gesundheits- noch nur im Schönheitsbereich tätig ist, sondern in einer Mischung aus beiden. Die neuen Hautprodukte versprechen, Make-up und Medikamente überflüssig zu machen, weil die Haut »natürlich« schön werde. Angeblich lassen sie sie also nicht nur durch vorübergehende Erholungseffekte besser aussehen, sondern leisten etwas, was man normalerweise von Medikamenten erwartet: Hautproblemen vorzubeugen oder sie zu heilen.
Die aufstrebende Branche kann die sonst üblichen Markteintrittsbarrieren auch leicht umgehen, weil sie ihre Produkte aggressiv auf Instagram vermarktet. YouTube-Influencer*innen machen sich selbst zur Marke, setzen auf Lösungen von Haut-»Problemen«, die sich gegen das Establishment wenden, und reden mit einer Überzeugungskraft, die man an der medizinischen Hochschule wohl notgedrungen verliert. Jeder darf sich hier Expert*in nennen. Wenn etwas bei jemandem wirkt oder nicht wirkt, können selbst bergeweise Studien nicht das Gegenteil belegen.
Wenn Sie jemals mit Ihrer Haut unglücklich waren, wissen Sie wahrscheinlich, wie verlockend so etwas erscheinen kann. Als die Antibiotika, die mir mein Hautarzt gegen meine Pubertätsakne empfohlen hatte, nicht halfen, riet mir mein innovativer Zahnarzt-Vater, sie wegen der Nebenwirkungen nicht länger einzunehmen, sondern aufzutragen. Ich nahm die Tetracyclin-Kapseln, brach sie entzwei, vermischte den Inhalt mit Wasser und rieb mir damit das Gesicht ein. Nun war es nicht mehr rot und voller Pusteln, sondern gelb. Die Leute erkundigten sich, ob ich, wie damals viele Teenager*innen im Mittleren Westen, Bräunungsspray verwendet hätte. Lachend entgegnete ich, das sei doch albern. In Wahrheit hatte ich neben vielem anderen auch Selbstbräuner ausprobiert, um meine schreckliche Gesichtsfarbe irgendwie loszuwerden. Aber raten Sie mal, was man erhält, wenn man auf Rot und Gelb Orange gibt. Ein noch merkwürdigeres, unnatürlicheres, peinlicheres Orange.
Jetzt, da ich bei Peach and Lily auf frisch gestärkten Laken liege, weit weg vom Lärm und der Anonymität der Straßen unter mir, denke ich nicht an Marketing oder meine Teenager-Angst – und auch an sonst kaum etwas. Falls Sie noch nie eine Gesichtsmassage genossen haben, es ist wunderbar. Man spürt nicht nur die sanfte Massage und die Behandlung, sondern fühlt sich allen Alltagssorgen enthoben, einen Moment lang ist man König. Jemand nimmt sich die Zeit und streicht einem achtsam über das Gesicht, damit man besser aussieht und sich wohlfühlt.
Nachdem das Facelift abgeschlossen ist, packt mir Yoon jede Menge Pröbchen für zu Hause ein. Nur das »Glass Skin Refining Serum« könne sie mir leider nicht mitgeben, es sei überall ausverkauft, sie habe selbst nicht genug. Es sei in der Tat sofort nach Markteinführung ausverkauft gewesen.
»Sie sollten sich mehr um Ihr Gesicht kümmern«, sagt sie zum Abschied, zumindest solle ich eine Reinigungslotion verwenden. Ich lache. Sie nicht. Ich erröte. Als ich den Aufzug betrete, wiederholt sie mit Nachdruck: »Sie sollten mehr tun.«
Als ich mit meinem neuen Gesicht, das vor der Behandlung offenbar nichts als tote Haut und überschüssiges Fett war (wer hätte das gedacht?), auf die Straße trete, erlebe ich die Welt völlig anders. Wer sein Gesicht noch nie jahrelang nicht gereinigt und dann eine hochraffinierte Gesichtsbehandlung erhalten hat, kann es vermutlich kaum glauben, aber ein Schritt ins Sonnenlicht, und ich spüre die Welt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Meine Haut ist eindeutig weicher, und ich habe das Gefühl, anders angesehen zu werden, auch wenn ich mir das vielleicht nur einbilde. Gehe ich mit meinem neuen Selbstvertrauen plötzlich beschwingter, oder sehe ich wirklich besser aus? Vielleicht wirke ich auch einfach wie jemand, der sich Matcha fürs Gesicht leisten kann.
Jedenfalls fühle ich mich anders. Und manchmal ist das ja alles, was wir wollen. Nicht unbedingt besser zu sein, sondern anders. Wie leicht gewöhnt man sich an den Blick, mit dem einem die Welt entgegentritt, und sieht sich mit ihren Augen. Wenn wir uns verändern, merken wir schnell, dass wir auch andere Erfahrungen machen, man uns freundlicher oder unfreundlicher begegnet, als wir es unserem erworbenen Selbstbild nach verdient haben. Und dafür reicht es schon, unser äußeres Erscheinungsbild ein wenig zu verändern, uns etwa piekfein anzuziehen oder uns einen völlig neuen Haarschnitt zuzulegen. Dann werden wir mit einem gewissen Unbehagen spüren, wie stark das Verhalten der anderen durch unser Aussehen bestimmt wird.
Doch noch etwas hat sich verändert, und diese Veränderung wird wohl langlebiger sein. Bislang bin ich ganz gut ohne Gesichtsbehandlung durchs Leben gekommen. Sollte sie meine Gedanken überhaupt gestreift haben, tat ich sie schnell als maßlose Eitelkeit oder, da bin ich wohl ein echter Junge aus Indiana, als unmännlich ab. Und letztendlich war ich auch nicht bereit, dafür Geld oder Zeit zu opfern. Aber nachdem ich nun erlebt habe, dass ich völlig anders durch den Tag gehe, wenn mir jemand nur irgendetwas im Gesicht verreibt, halte ich eine solche Behandlung nicht mehr für sinnlos oder überflüssig. Ich merke, wie die Seren, Öle und Masken, wie so vieles, was sich erst extravagant anfühlt, plötzlich ihre luxuriöse Anmutung verlieren und zur Gewohnheit, gar zur Notwendigkeit werden könnten.
Viele Körperpflegegewohnheiten, die uns selbstverständlich erscheinen, sind eigentlich noch gar nicht alt. Erst in den letzten Jahrhunderten haben sich unsere gesellschaftlichen und individuellen Sauberkeitsnormen derart entwickelt, dass aus dem gelegentlichen Sprung in den Fluss die tägliche Dusche oder Badewanne wurde. Heute ist allein die Information, man dusche nicht täglich, wie man mir zu verstehen gab, »kein Thema fürs Abendessen«.
Hin- und hergerissen zwischen einer Welt der minimalen und der maximalen Körperpflege fragte ich mich, wie der goldene Mittelweg aussehen könnte. Ich hatte nicht vor, mir eine neue teure Angewohnheit zuzulegen (und brauchen die Schnecken ihren Schleim nicht eigentlich selbst?), wollte aber auch nichts von dem verpassen, was viele andere offensichtlich genossen und was das alltägliche Zusammenleben erheblich beeinflussen konnte. Wie sollte ich meine Haut pflegen? Wie viel von all dem, was die Leute taten, machten sie wirklich aus reiner Freude oder zumindest, damit sich die anderen nicht ekelten oder sie in deren Augen nicht nachlässig oder vergesslich wirkten? Wie viel brauchte ich tatsächlich für meine Gesundheit und mein Wohlbefinden?
Auf jeden Fall würde es schwer werden, wieder zum Nichtstun zurückzukehren.
***
Niemals ist mir eine so ausgewogene Mischung aus Zuneigung, Ekel, Neugier und Zorn entgegengeschlagen wie 2016, als ich in einem kurzen Artikel für The Atlantic bekannte, nicht mehr zu duschen. Zu Hunderten brachten Leserinnen und Leser ihre Gefühle zum Ausdruck und ließen dabei keine emotionale Regung aus. Manche hatten das Nichtduschen schon längst für sich entdeckt, andere erklärten mich für vollkommen verrückt, und wieder andere erkundigten sich, ob ihre eigene Hygiene wohl medizinisch vertretbar sei.
Manche konnten es nicht fassen, wie ein Arzt so unverantwortlich sein konnte, Hygiene als überflüssig zu betrachten, obwohl es immer noch Cholerafälle gab und jedes Jahr Hunderttausende an Grippe starben. Andere waren wutentbrannt, weil ich nicht verdeutlicht hätte, dass nicht zu duschen das Privileg des weißen Mannes in einem wohlhabenden Land sei.
Andere fanden es geradezu selbstverständlich, nicht zu duschen. Aus Deutschland schrieb mir Patricia: »Sie haben mir aus der Seele gesprochen!« Sie hatte es sich zuerst gezwungenermaßen abgewöhnt.
Am Ostersonntag 2007 begab sie sich mit furchtbaren Rückenschmerzen ins Krankenhaus, und man teilte ihr mit, sie habe einen Schlaganfall erlitten. »Mit eineinhalb Händen ist Duschen echte Arbeit«, schrieb sie. »Ich bat alle Nachbarn und Freunde, mir Bescheid zu geben, falls ich stank!« Aber »alles war und ist in Ordnung. Außer meiner >Katzenwäsche< dusche ich nur noch einmal im Monat oder so.« Als ihre Füße nicht mehr rochen und Haut und Haare nicht mehr so viel Fett absonderten, habe sie die Abstände zwischen dem Waschen noch vergrößern können.
Die neunundachtzigjährige Claire aus Ontario schrieb mir, sie und ihr Mann (der mit sechsundneunzig starb) hätten nie geduscht. Das hielten sie einfach für gesund, und als Beweis schickte sie ein Foto mit, auf dem sie jünger wirkt, als sie ist. Mit weißer Schirmmütze und Shorts winkt sie in die Kamera: »Alle sind erstaunt, wie außergewöhnlich gesund ich bin. Vielleicht liegt es daran, dass ich Sport treibe und mich SEHR bedacht ernähre«, schrieb sie. »Gestern habe ich zweimal den Schnee von der Auffahrt geschippt und mich kein bisschen müde gefühlt.«
Ich antwortete ihr und fragte, wie sie auf die Idee gekommen seien, nicht zu duschen. »Tja, warum waschen wir uns überhaupt so oft?«, fragte sie zurück. »Wir haben doch eine wunderbare Haut, die sich beständig schuppt und selbst reinigt, durch Seife wird sie nur entfettet.« Das sei Teil einer Lebensphilosophie, die ja neuerdings sogar populär geworden sei. Sie empfahl mir, »wie ein Höhlenmensch« zu essen.
Ja, Claire war eine der ersten Verfechter*innen der Steinzeiternährung. Ihre »Höhlenmensch«-Vorstellung tauchte auch in vielen anderen Zuschriften auf, die ich erhielt. Das moderne Leben sei die Ursache der vielen chronischen Erkrankungen; wenn wir uns nur wie in der Steinzeit, also im Wesentlichen von Rindfleisch und Butter ernährten und auf Agrartechnologie verzichten würden, dann wäre alles gut. Nur leider wurden die Menschen in der Steinzeit längst nicht so alt wie heute. Und Kühe gab es auch nicht.
Aber unbestritten hatte die Steinzeit auch ihre Vorteile. Damals lebten die Menschen in derart dünn besiedelten Landschaften, kleinen Dörfern oder Höhlen, dass sie Flüsse und Bäche bedenkenlos als Toilette nutzen konnten. Sie konnten jagen und sammeln, ohne die Ressourcen aufzubrauchen. Die Menschen waren Sonne, Hitze und Kälte ausgesetzt und kamen mit der Erde und mit nach unseren heutigen Vorstellungen »unsauberen« Tieren und Menschen unmittelbar in Berührung.
Wenn man die Menschheitsgeschichte betrachtet, war diese Lebensweise eigentlich bis eben noch möglich. Noch um 1600 hatte London nur ungefähr 200.000 Einwohner. Im Zweiten Weltkrieg waren es dann schon 8,6 Millionen. Auch in New York City leben heute etwa so viele Menschen. Die Innenraumflächen von Manhattan sind insgesamt mittlerweile dreimal so groß wie die Insel selbst.
In diesen vertikal in den Himmel wachsenden Siedlungen werden, in einem radikalen Versuch am lebenden Objekt, Menschen und Ressourcen immer mehr verdichtet. Die weltweite durchschnittliche Lebenserwartung beträgt heute um die zweiundsiebzig Jahre. Und alle auf dieser Erde brauchen regelmäßig Strom, Transportmittel und Produkte aus der industrialisierten Landwirtschaft. Dazu holzen wir Bäume ab und verbrennen fossile Kraftstoffe, die Smog und Rußpartikel in die Luft entlassen. Diese gelangen tief in unsere Lunge und sind eine der häufigsten Ursachen für Krebs und Herzerkrankungen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt die Zahl der Todesfälle durch Luftverschmutzung auf jährlich sieben Millionen.
In der Steinzeit gab es auch darum selten chronische Krankheiten, weil viele Menschen früh an Infektionen und Unfällen starben. In den vergangenen zweihundert Jahren ist die Wahrscheinlichkeit, an einer Infektionskrankheit zu sterben, rapide gesunken, die, an einer chronischen Erkrankung zu sterben, dagegen erheblich gestiegen. Letztere werden weltweit schon bald für drei von vier Todesfällen verantwortlich sein.
Trotz aller modernen Medizin und Technologie führt die heutige Lebensweise zu Krankheiten, die früher viel seltener waren. Autoimmunkrankheiten, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nehmen einerseits zu, weil wir heute länger leben als die Generationen vor uns. Andererseits leiden aber auch viele Jüngere an chronischen Erkrankungen, es besteht also wohl ein Zusammenhang mit unserer Lebensweise und unserer Umwelt.
In den letzten Jahren rückten unsere Ernährung und unser Bewegungsmangel als mögliche Faktoren für chronische Erkrankungen in den Fokus. Anderen Faktoren widmen wir hingegen erheblich weniger Aufmerksamkeit. Etwa dass der Mensch in vielen Weltregionen sein Leben überwiegend in klimatisierten Räumen verbringt, wo es keinen Dreck und kaum Tiere und Pflanzen gibt, wo die Fenster nur an strahlenden Tagen geöffnet werden. Die meisten Menschen kommen mit vielem, was früher einmal normal war, nicht mehr in Berührung.
Manchmal muss man sich auch abschotten. So sollten die Menschen 2019 im smogverhangenen Delhi tagelang nicht ins Freie gehen und körperlich anstrengende Tätigkeiten vermeiden. Solche Umweltereignisse oder auch Infektionskrankheiten, bei denen man sich abschotten muss, werden in Zukunft noch häufiger sein und in zunehmend mehr Regionen auftreten.
Bislang verstehen wir erst in Ansätzen, welche Folgen es für unser Immunsystem und unser wichtigstes Immunorgan, die Haut, hat, wenn wir, gezwungenermaßen oder freiwillig, in von der Außenwelt abgeschotteten Räumen leben. Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte lernte unser Immunsystem durch beständigen Mikrobenbeschuss, wann und wie es reagieren muss. Doch heute ist es durch die evolutionär völlig neuen Umwelteinflüsse häufig verwirrt und weiß nicht mehr, wogegen es sich mit einem Hautausschlag wehren soll und wogegen nicht. Dies wird auch dadurch gefördert, dass wir uns gründlich, täglich oder sogar mehrmals täglich waschen, weil wir dies für gesund oder unabdingbar halten. Selbst wo die Gefahr von Infektionskrankheiten gering ist, sollen wir am besten alles tun, um ihnen vorzubeugen. Wenn wir nicht als heruntergekommen, faul, unattraktiv, primitiv, unhöflich, unprofessionell, kurzum als unsauber gelten wollen, darf an uns nirgends das geringste bisschen Schmutz, Schlamm oder Staub zu entdecken sein.
***
Wenn Kanadas Luft im Oktober trockener wird, strömen besonders viele Männer in die Praxis von Sandy Skotnicki. Den Männern juckt die Haut.
Skotnicki verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz. Ehe sie Professorin für Dermatologie, Arbeitsmedizin und Umwelthygiene an der University of Toronto wurde, arbeitete sie als Mikrobiologin. In den zwanzig Jahren, die sie bereits in der Dermatologie tätig ist, hat sie die Folgen der Umwelt, auch der Mikroben, für unsere Hautgesundheit nie aus dem Blick verloren.
»Ich frage die Leute: >Wie duschen Sie?<«, sagt sie. Ihre Patienten, so Skotnicki, würden gern der Jahreszeit die Schuld geben, als könne die Haut nur im Sommer normal funktionieren. Doch dann erkundige sie sich nach den Waschgewohnheiten: »Die Männer schrubben den ganzen Körper mit irgendeinem >Männerduschgel<. Weil sie draußen arbeiten, duschen sie zweimal täglich. Aber wenn ich ihnen sage, dass sie damit aufhören sollen, und sie nur noch bestimmte Stellen waschen, geht es ihnen wieder gut.«
Ich frage nach den »bestimmten Stellen«.
»Achseln, Genitalbereich, Füße«, sagt sie. »Muss man sich, wenn man in der Dusche oder Wanne ist, hier«, sie zeigt auf den Unterarm, »auch waschen? Nein.«
Mit fast verzweifelter Stimme berichtet sie, wie oft sie den Männern erklären müsse, dass sie sich nicht vollständig mit Duschgel einschäumen sollen. Die Haut brauche Feuchtigkeit oft nur, weil sie schon zu lange zu häufig gewaschen wurde.
Und selbst Wasser allein habe Folgen für die Haut. Insbesondere warmes Wasser spüle die Fette ab, mit denen unsere Drüsen die Haut feucht halten. Alles, was die Haut trockener und poröser mache, erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf Reizstoffe und Allergene reagiere.
Skotnicki ist überzeugt davon, dass zu häufiges Waschen die Haut schädigt und Menschen mit entsprechender genetischer Prädisposition dadurch häufiger Neurodermitis entwickeln. Doch Neurodermitis, die an sich schon nervenzehrend genug ist, kommt häufig nicht allein. Offenbar gehört sie zu einem Symptomkreis, der durch irrtümliche Immunreaktionen verursacht wird. Rund die Hälfte aller Kinder mit schwerer Neurodermitis entwickelt später, in einem sogenannten »Allergischen Marsch«, immunologische Überreaktionen wie allergischen Schnupfen oder Asthma.
Der Allergische Marsch mit den genannten Symptomen wurde von Allergolog*innen der Universitäten von Pennsylvania und Chicago erstmals 2003 beschrieben. Später wurde das Krankheitsbild noch erweitert. In neueren Studien wird sogar die immer häufigere Erdnussallergie dazugezählt. So zeigten sich Fachleute am King’s College London im Jahr 2010 »bestürzt« darüber, dass Babys mit Asthma eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, auch an einer Erdnussallergie zu leiden. Der Leiter des US-amerikanischen Nationalen Instituts für Allergie und Infektionskrankheiten, Anthony Fauci, riet Eltern 2019, »durch frühzeitigen Hautschutz Lebensmittelallergien bei ihren Kindern vorzubeugen«.
Wir wissen noch nicht genau, wieso eine gute Hautpflege vor Lebensmittelallergien schützt, doch laut neuerer Expertenempfehlungen kann ein früher Kontakt mit Erdnüssen, und nicht etwa das Vermeiden derselben, die Wahrscheinlichkeit verringern, eine schwere Erdnussallergie zu entwickeln. So wie das Immunsystem durch Impfungen lernt, Infektionskrankheiten zu bekämpfen, so könnte es durch kleine Erdnussmengen lernen, Erdnüsse zu tolerieren. Doch bis heute entscheidet man sich bei allergenen Hautreaktionen genau für die gegenteilige Strategie. Häufig werden sie mit Medikamenten behandelt, die die Immunreaktion unterdrücken, mit Antibiotika und natürlich mit regelmäßigen, aggressiven reinigenden und feuchtigkeitsspendenden Anwendungen.
Neurodermitis ist so weit verbreitet, dass sie gern als kleines Ärgernis betrachtet wird, was sie häufig auch ist. Doch manchen kann es dadurch richtig elend gehen. Eine Neurodermitis kann den Schlaf beeinträchtigen (nachts ist das Jucken am schlimmsten) und, wenn man sich stets kratzen muss, sogar die Existenz bedrohen. Hier kommt offenbar alles zusammen, was schlecht für die Haut ist: eine gestörte Schutzschicht, ein mikrobisches Ungleichgewicht und eine Vermehrung der Immunzellen. Wird die Schutzschicht der Haut durch Waschen oder Kratzen beeinträchtigt, kann sich die mikrobielle Besiedelung verändern und das Immunsystem dadurch hochgefahren werden. Den Hautzellen wird dann signalisiert, sich rasch zu vermehren und mit Entzündungseiweißen anzureichern. So entsteht ein sich selbst erhaltender Kreislauf aus Entzündung, Jucken, Zusammenbruch der Schutzschicht und mikrobiellem Ungleichgewicht. »Könnte es nicht sein«, spekuliert Skotnicki, »dass die Neurodermitis überhaupt erst durch das häufige Waschen in unserer Gesellschaft ausgelöst wird?«
Jedenfalls hat beides zur gleichen Zeit zugenommen, und es gibt Hinweise darauf, dass ein Zusammenhang besteht. Doch anstatt die Haut wieder mehr Umgebungsreizen auszusetzen, verleiten uns Allergien und Überempfindlichkeiten dazu, uns noch intensiver zu säubern und unsere Umgebung noch steriler zu halten. Patient*innen, die zu Skotnicki kommen, leiden häufig seit Wochen oder Monaten unter Ausschlag, und sie würden sich am liebsten noch mehr schrubben und einseifen. Sie hoffen auf ein neues Produkt, das die bisher verwendeten ungeschehen machen oder wenigstens ausgleichen kann. Etwas »Mildes, Natürliches«. Etwas, was, na ja, eigentlich eher nichts sein soll.
Doch für Ärzt*innen ist es schwer, nichts zu verschreiben. Häufig wünschen sich die Patient*innen eine Behandlung, wenn schon kein Rezept, so doch zumindest etwas, was sie regelmäßig tun können. Skotnicki hat einen Weg gefunden, aus dem Nichts etwas zu machen. Sie empfiehlt eine radikale Produkt-»Diät« oder -»Bereinigung«, das heißt, mit allem aufzuhören. Oder mit möglichst allem. Selbst wenn die Probleme nicht durch bestimmte Produkte ausgelöst wurden, vertreten Dermatolog*innen zunehmend diesen Ansatz.
Es kann psychologisch hilfreich sein, zu erkennen, wie wenig wir eigentlich brauchen, und erst dann behutsam nur noch das zu verwenden, was wir wirklich wollen. Denn im Grunde ist unsere Haut sehr widerstandsfähig. Wir können versuchen, sie mit den aktuellsten Produkten zu regulieren oder zu kaschieren, aber auf die beständigen inneren und äußeren Signale reagiert sie so, wie sie es in Jahrmillionen gelernt hat. Sie will ihr Gleichgewicht wahren.
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Die Haut ist das größte Organ des Menschen. Würde man sie ausbreiten, wäre sie fast zwei Quadratmeter groß. Sie ist in alle Richtungen beweglich, dehnbar und registriert selbst winzigste Temperatur-, Druck- und Feuchtigkeitsschwankungen. Die Signale werden von Nervenenden in der Haut an unser Gehirn weitergeleitet, dank derer wir alles zwischen furchtbaren Schmerzen und ekstatischen Freuden empfinden können. Die Haut verrät es auch der Welt, wenn wir krank, müde, ängstlich oder erregt sind. Wenn sie aufreißt, kann sie in wenigen Tagen wieder verheilen. Sie schützt uns vor tödlicher Überhitzung, indem sie sich selbst in Flüssigkeit badet und so dafür sorgt, dass wir die Wärme schneller an die Umgebungsluft abgeben. Die Haut ist so lebenswichtig wie unser Herz, Rückgrat oder Gehirn. Ohne sie würde alles Flüssige, aus dem wir bestehen, verdunsten, die Außenwelt in uns eindringen, uns infizieren, und schon bald wären wir tot.
Die Haut ist also extrem wichtig. Doch Hautpflege heißt weit mehr, als sich mit irgendetwas einzuschmieren.
Zieht man die Lehrbücher zurate, erfährt man – wie auch ich an der medizinischen Hochschule –, dass die Haut aus drei anatomischen Schichten besteht. Die untere Schicht, die Unterhaut, setzt sich hauptsächlich aus Fett und Bindegewebe zusammen. Die beiden anderen Schichten sind allerdings interessanter. Die obere heißt Epidermis oder Oberhaut. Mit einem Millimeter ist sie ungefähr so dick wie ein Blatt Papier, aber in diesem Millimeter passiert überraschend viel. Die wichtigste Epidermiszelle heißt Keratinozyt und produziert das Faserprotein Keratin, aus dem unsere Haut überwiegend besteht, unsere Fingernägel und Haare sogar vollständig. Dazwischen sind zudem Immunzellen, winzige Nervenfasern sowie die Melanin produzierenden Zellen eingelagert, die der Haut ihre Farbe geben. Alle Hautzellen reagieren hochsensibel auf die Umgebung und können sich daran anpassen.
Die Epidermis regeneriert sich fortlaufend und so häufig wie kaum ein anderer Teil unseres Körpers. Obwohl sie nur einen Millimeter dünn ist, besteht sie aus mehreren Zellschichten unterschiedlichen Alters. Die Basalzellschicht enthält die Stammzellen, die sich fortlaufend teilen und neue Zellen hervorbringen, besonders in der Jugend. Doch neue Zellen bilden sich ein Leben lang und schieben die älteren in Richtung Hautoberfläche. Dort angekommen, sind sie meist bereits verhornt, das heißt abgestorben, abgeplattet, ausgetrocknet und so miteinander verklebt, dass sie mit bloßem Auge zu erkennen sind. Von diesen älteren Zellen sollen die Peeling-Produkte unsere Haut befreien und frische Zellen zutage fördern. Doch eigentlich fallen die Zellen von ganz allein ab. Der gesamte Zyklus dauert ungefähr einen Monat, die Hautoberfläche bildet sich also laufend neu.