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Unter der Epidermis liegt die Dermis oder Lederhaut, die hauptsächlich aus zwei Proteinen besteht: Kollagen und Elastin. Ineinander verwoben, machen sie die Haut elastisch und robust. Leder, daher Lederhaut, besteht ausschließlich aus Dermis. Die Menschheit jagt Tiere denn auch trotz enormer Kosten und ethischer Bedenken unverdrossen wegen ihrer Haut. Schon als die Werkzeuge noch nicht erfunden waren, schützten wir uns mit der einzigartigen, zugleich elastischen und widerstandsfähigen Tierhaut vor der Witterung, um zu überleben.
Epidermis und Dermis sind von einem Nervennetz durchzogen, das geringste Umgebungsveränderungen wahrnimmt, etwa das Gewicht einer Mücke oder den Temperaturunterschied zwischen 20 und 22 Grad im Büro. Bei körperlicher Anstrengung oder Stress dehnen sich mit dem Netz verflochtene winzige Äderchen aus, um unseren Körper herunterzukühlen, lassen uns erröten und verraten unsere Emotionen.
Außerdem besitzt unsere Haut recht große Follikel, die Haar und Härchen wachsen lassen. Vormenschliche Arten konnten sich dank ihrer einst in klimatisch kältere Zonen begeben. Heute gibt es dank ihrer einen gigantischen Markt, der es ermöglicht, durch Haarentfernung, Schneiden, Frisuren und Färben gemäß wechselnden Normen zu zeigen, wo in der sozialen Hierarchie man steht oder stehen möchte.
In unserer Haut befinden sich zudem drei verschiedene Drüsen, die Sekrete absondern. Die ekkrinen Schweißdrüsen geben Wasser zur Kühlung des Körpers ab. Die Talgdrüsen schützen die Haut durch eine fettige Talgschicht vor Trockenheit und Rissen, das heißt vor Beschädigungen der Schutzschicht, die todbringende Mikroben von unserem Körper fernhält.
Der Sinn der apokrinen Schweiß- oder Duftdrüsen, die sich während der Pubertät vor allem in den Achseln und im Genitalbereich entwickeln, ist weniger offensichtlich. Dass sie zusätzliche fettige Sekrete absondern, empfinden viele als übertrieben oder geradezu unbarmherzig. Mit Deos wollen wir genau diesen Drüsen zu Leibe rücken, und manch einer verbringt in seinem Leben viel Zeit mit diesem Kampf. Aber die apokrinen Drüsen spielen, wie wir heute wissen, auch eine wichtige Rolle für den Teil unserer Haut, den man als ihre vierte Schicht bezeichnen könnte: die Billiarden von Mikroben in und auf uns. Die Bakterien, die vor allem Achseln und Genitalbereich besiedeln, ernähren sich von unseren Hautfetten und produzieren die chemischen Stoffe, die in Verbindung mit Luft für unseren Körpergeruch verantwortlich sind.
Die abgesonderten Hautfette und Stoffe wie Natrium, Harnstoff oder Laktat, die unser Körper beim Schwitzen abgibt, haben Einfluss auf die Mikrobenpopulationen. Wie man seit Kurzem weiß, enthält Schweiß unter anderem Peptide mit antimikrobiellen Eigenschaften wie Dermcidin, Cathelicidin oder Laktoferrin, die zum Erhalt und der Wiederherstellung des mikrobiellen Hautgleichgewichts beitragen. Wenn Ihnen also das Schwitzen einmal unangenehm ist, könnten Sie Ihren Mitmenschen ganz einfach erklären, dass Ihr Körper gerade einen raffinierten, rätselhaften biochemischen Tanz aufführt.
Dass auf unserer Haut überhaupt Mikroben leben, ist schon länger bekannt. Seit die Biologie Bakterienkulturen anlegt, weiß sie, dass sich aus menschlichen Hautpartikeln ein wunderbarer mikrobieller Garten züchten lässt. Doch erst im vergangenen Jahrzehnt hat man dank der DNA-Sequenzierungstechnologie erkannt, wie umfassend und vielfältig das mikrobielle Leben auf unserer Haut ist. Unsere Haut- und Darmmikroben zusammengenommen machen einige Kilo unseres Körpergewichts aus. In und auf unserem Körper gibt es mehr mikrobielle als menschliche Zellen.
Lange Zeit hat man die Haut als Barriere betrachtet, die uns von unserer Umgebung trennt, doch wie neuere Erkenntnisse zum Mikrobiom zeigen, ist sie wohl eher eine dynamische Schnittstelle. Im Grunde sind unsere Hautmikroben eine Erweiterung unserer selbst. Nur selten lösen sie, ebenso wenig wie unsere Darmmikroben, Krankheiten aus. Wenn überhaupt, dann beschützen sie uns vor ihnen. Aber alles, was wir mit unserer Haut anstellen, oder auch nicht, wirkt sich auf die Mikrobenpopulationen aus.
Mit jedem Waschen greifen wir zumindest vorübergehend in die Populationen ein. Wir entfernen sie oder nehmen Einfluss auf ihre Ressourcen. Auch wenn wir keine ausdrücklich »antimikrobiellen« Körperpflegeprodukte verwenden, verändern die aufgetragenen chemischen Stoffe die Umgebung, in der die Mikroben gedeihen. Die Seifen und Gesichtswasser, die unsere Haut trockener und weniger fettig machen sollen, entfernen auch den Talg, von dem sich die Mikroben ernähren.
Da Wissenschaft und Medizin den Umfang und die Bedeutung der Mikroben erst seit Kurzem durch neue Technologien sichtbar machen konnten, wissen wir bislang nur wenig darüber, was sie wirklich auf unserer Haut tun. Doch je mehr der neue Forschungsbereich das Zusammenspiel von Mikroben und Haut erhellen kann, desto fraglicher werden lang gehegte Annahmen über das, was für die Haut gut oder schlecht ist.
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Die Milben in unserem Gesicht verdeutlichen vielleicht am eindrucksvollsten, wie das Wissen um die Hautmikroben unser Selbstverständnis verändert.
Als eine Forschungsgruppe 2014 einen Abstrich von der Gesichtshaut vierhundert Freiwilliger aus North Carolina nahm, entdeckte sie unter den Hautpartikeln Mikroben namens Demodex. Diese farblosen, einen halben Millimeter kleinen Milben, die normalerweise versteckt in den Hautporen leben, besitzen am vorderen Körperdrittel vier Beinpaare, mit denen sie den Rest ihres Körpers hinter sich herziehen. »Ein Anus fehlt«, vermerkte eine schweizerische dermatologische Zeitschrift bei der anatomischen Beschreibung, wohl um etwaigen Sorgen entgegenzuwirken, was die Milben in unserem Gesicht alles anstellen könnten. Anus hin oder her, meine erste Reaktion und die vieler anderer war: »Um Himmels willen, wie werde ich die bloß wieder los?« Seriösere Wissenschaftsjournalist*innen entschieden sich für Schlagzeilen wie die auf der Website vom amerikanischen Sender NPR: »Hey, in deinem Gesicht leben Milben. In meinem auch.«
Unter all unseren Mikroben sind, soweit wir das wissen, nur die Milben so groß, dass man sie mit der Lupe sehen kann. Dann folgen in puncto Größe die Pilze, die uns dank unserer Körpertemperatur allerdings nur selten besiedeln, die Bakterien, Archaeen, Protozoen und schließlich die viel kleineren Viren. Eigentlich ist es also schleierhaft, wieso wir nicht mehr über die Milben wissen. Entdeckt wurden sie schon vor Längerem: Ein deutscher Anatom fand sie 1841 auf einigen Leichnamen und später gelegentlich an Lebenden. Obwohl er seine Entdeckung dokumentierte und betonte, wie bedeutsam sie wohl sei, gerieten die winzigen Milben weitgehend in Vergessenheit.
Warum fanden die Milbenjäger aus North Carolina also gerade jetzt heraus, dass wir vor Demodex nur so wimmeln?
Erst die neue DNA-Sequenzierungstechnologie, mit der auch das restliche Mikrobiom entdeckt wurde, machte es möglich. Die Milben leben nämlich gut versteckt in den Hautporen und sind meist nur schwer zu finden. Wenn man aber auf der Haut nach Spuren ihrer DNA sucht, finden sich die Milben bei uns allen. Und das ist der Grund, warum wir über diese winzigen Gefährten, wie über so viele andere auch, noch so wenig wissen.
Auch wenn der Gedanke an Milben den meisten wohl kaum behagt, wäre es vermutlich weitaus schlimmer, gar keine zu haben. Und welches Merkmal könnte im Übrigen näher an die Definition von »normal« herankommen als eines, das auf 100 Prozent der Menschen zutrifft? Da muss es einen guten Grund für die Milben geben. Oder etwa nicht?
Michelle Trautwein, Professorin für Dipterologie (Fliegenkunde) an der California Academy of Sciences und Co-Autorin der genannten Studie, erkennt in den Milben die Schönheit des Lebens: »Sie sind ein universaler Bestandteil unseres Menschseins.« Insektenkundler*innen wie Trautwein gehen gemeinsam mit Dermatolog*innen und Ökolog*innen der Frage nach, warum wir Milben besitzen, und entdecken dabei neue Wahrheiten über uns. Zum einen: Der Mensch ist kein autarkes Lebewesen, er ist auf andere Organismen, die auf ihm und um ihn leben, angewiesen.
Die Milben, so Trautwein, ernähren sich vermutlich von unseren toten Hautzellen und wären damit die »natürlichste« Peelingmethode. Außerdem verringern sie wohl auch den Staub in unseren Wohnungen, der zum Teil aus Hautzellen besteht. Dennoch würde uns jedes Produkt im Drogeriemarkt oder auf Instagram verlockend erscheinen, das uns verspricht, uns von den Gesichtsmilben zu befreien.
Auch wenn wir alle Milben im Gesicht haben, kann ihre anormale Vermehrung oder eine anormale Reaktion auf ihre Vermehrung nachweislich zu Hautkrankheiten führen. So besteht etwa, wie eine kürzliche Auswertung von achtundvierzig Studien ergab, ein Zusammenhang zwischen Milbendichte und Rosazea. Wie bei anderen Erkrankungen mit Mikrobenbezug geht es dabei jedoch vor allem um Zahlenverhältnisse und den Kontext, nicht einfach um eine Invasion »böser« Lebewesen. Normalerweise ist die Milbe Demodex gutartig und offenbar sogar der Gesundheit förderlich. Doch wenn sich ihr Umfeld ändert, kann sie pathogen (krankheitsauslösend) werden. Ähnlich wie der Mensch selten mit der Neigung geboren wird, andere zu verletzen, aber im Krieg und mit einem Schießbefehl ohne Weiteres tötet.
Die Entdeckung der Milben und Billiarden anderer winziger Geschöpfe unseres Hautmikrobioms bedeutet das Ende der sogenannten »Keimtheorie«, der simplen Vorstellung also, wir müssten die Mikroben bekämpfen, um Krankheiten vorzubeugen. Das Bild ist bunter geworden. Die meisten Mikroben gelten inzwischen nicht nur als harmlos, sondern sogar als nützlich, wenn nicht gar überlebenswichtig. Das Ich und das Andere sind weniger eine Dichotomie als vielmehr ein Kontinuum.
Obwohl sich das menschliche Baby in einer sterilen Umgebung, der mikrobenfreien Gebärmutter, entwickelt, ist es nach Verlassen des Geburtskanals ein brüllender Bakterienschwamm, der sofort Mikroben aufliest, die seine Gesundheit und Überlebensfähigkeit fördern. Seine Haut wird von mütterlichen Bakterien besiedelt, von denen einige lebenslang in den Hautporen verbleiben und die Interaktion mit allen späteren Mikroben überwachen.
Ab diesem Zeitpunkt wird die Hautgesundheit vor allem zu einer Frage des Umfelds. Außenwelt und Haut beeinflussen die Mikroben, Mikroben und Körperfunktionen ihrerseits die Haut.
Die Forschungen zum Mikrobiom sind gerade im Begriff, unsere Grundannahmen der Hautpflege auf den Kopf zu stellen. Die Folgen sind alles andere als nebensächlich. Da ist etwa die kürzliche Studie des Dermatologen Richard Gallo von der University of California in San Diego. Sein Team bestrich eine Mäusegruppe mit dem Bakterium Staphylococcus epidermidis, das auch auf der menschlichen Haut vorkommt. Eine andere Gruppe säuberte man so gründlich, dass sie bakterienfrei war.
Dann verpasste man beiden eine schöne Bräune. Die Mäuse mit den Bakterien entwickelten seltener Hautkrebs. Laut Gallo erzeugt Staphylococcus epidermidis einen Stoff namens 6-N-Hydroxyaminopurin, der Krebszellen angreift und ihre Vermehrung verhindert.
Natürlich handelt es sich hier um eine erste Studie, und sie hat die Mikroben auch nur an Mäusen und nicht an Menschen erforscht. (Menschen UV-Licht auszusetzen, um zu sehen, ob sie Krebs entwickeln, wäre unethisch.) Doch ähnliche Studien werden derzeit offenbar im Wochentakt veröffentlicht. Zusammengenommen werfen sie zumindest die Frage auf, ob wir wirklich alle Hautbakterien so entschieden und willkürlich abwaschen sollten, wie man uns beigebracht hat.
Doch um das herauszufinden, müssen wir zunächst der Frage nachgehen, wie unsere heutigen Sauberkeitsvorstellungen überhaupt entstanden sind.
II. REINIGEN
Val Curtis hat Fremden gern Bilder von verfaulten Nahrungsmitteln, von Würmern, Körperflüssigkeiten und Ähnlichem gezeigt und ihre Reaktionen dann aufgezeichnet.
Das war ihr Job. Curtis war eine weltweit führende »Ekelogin«, ehe sie im Herbst 2020 starb. In ihrer langen Laufbahn als Professorin an der London School of Hygiene and Tropical Medicine ging sie zu Beginn der Frage nach, warum Menschen sich – häufig aus einem innersten Bedürfnis heraus und mit großer Leidenschaft – um Sauberkeit bemühen.
Die Reaktionen auf die gezeigten Bilder waren, so Curtis, fast identisch, quasi universell, also unabhängig von Wohnort, Alter, Geschlecht und anderen erfassten Variablen. Die allgemein verbreitete Reaktion auf »dreckige, klebrige, tropfende, wimmelnde Gegenstände« bezeichnete sie in ihren Studien als »starkes Ekelgefühl«.
Aber was verbarg sich dahinter? Um das herauszufinden, arbeitete Curtis mit dem sogenannten Laddering-Verfahren aus der Marktforschung. Mithilfe der »kognitiven Leiter« kommt man tieferliegenden Motiven auf die Spur. Eigentlich eine einfache Fragetechnik, wie sie Dreijährige in aller Welt beherrschen: Warum, warum, warum? Wenn man einen Restaurantgast beispielsweise fragt: »Warum haben Sie diesen Salat bestellt?«, wird er vielleicht antworten: »Er hat sich gut angehört.« Fragt man aber weiter nach dem Warum, stößt man möglicherweise auf das komplexe Verhältnis, das wir zu Nahrungsmitteln haben, zur Sterblichkeit und unserem Wunsch der Kontrolle darüber. Das Laddering-Verfahren eignet sich für erste Dates genauso wie für die Forschung. Die Antworten auf Curtis’ Fragen liefen irgendwann immer auf dasselbe hinaus: »Ekel«.
»Dreck ist einfach ekelhaft. Schmodder ist einfach ekelhaft. Verdorbene Nahrung ist ekelhaft«, sagte sie in unserem Gespräch. »Weiter kam ich nie.«
Also machte sie sich daran herauszufinden, was diese Dinge gemeinsam hatten.
Ihr Büro verwandelte sich in eine Bibliothek zu ihrem Forschungsgegenstand, eine »riesige, kunterbunte Sammlung von allem, was die Menschen auf der Welt ekelhaft finden«, wie sie sagte. Und auf der Suche nach dem gemeinsamen Muster »stieß ich jedes Mal auf Krankheit«.
Ein ausgefallenes Haar etwa könne Kopfhautflechte übertragen. Und darum reiche schon ein einziges verirrtes Haar auf dem Teller, um ein Restaurant in Grund und Boden zu verdammen, nie wieder einen Fuß dort hineinzusetzen und den Küchenchef samt Familie auf ewig zu verfluchen.
Genauso könne Erbrochenes, das überall als ekelhaft gelte, ungefähr dreißig verschiedene Krankheiten übertragen.
Dabei ekeln wir uns offenbar nicht vor dem Leid an sich. Wenn jemand an Krebs stirbt oder einen Herzinfarkt hat, eilen wir ohne Zögern an seine oder ihre Seite. Doch der Anblick von Blut, Erbrochenem oder Fäkalien, so Curtis, löst bei uns eine instinktive Abwehr aus, die uns vor ansteckenden Krankheiten schützt.
»In unserem Alltag ist der Kontakt mit anderen vermutlich das Gefährlichste«, erläuterte sie, »der andere trägt den Bazillus in sich, der uns krank machen kann.«
So gesehen ist Ekel sehr nützlich. Wenn wir bei einem bestimmten Verhalten oder Aussehen Ekel empfinden, schützt uns das vor den Krankheiten der anderen. Darum ekeln wir uns auch manchmal vor uns selbst, schämen uns für unser Aussehen oder sind peinlich davon berührt. Wir wollen keinen Ekel erregen, weil wir sonst Gefahr laufen, sozial ausgegrenzt oder aus der Gemeinschaft verstoßen zu werden. Wert auf unser Äußeres zu legen, gehört also zu unserer Evolutionsgeschichte.
»Wenn Sie mein Freund sein wollen, müssen Sie mir in die Augen blicken, mich anhören, mir die Hand geben und in gewissem Maße Körperflüssigkeiten mit mir austauschen können. Weil wir uns anatmen«, sagte Curtis. »Wäre ich verdreckt und ungepflegt, hätte überall Parasiten und Verletzungen und würde schlecht riechen, würden Sie sich schnell vor mir ekeln und meine Gesellschaft meiden.«
Und sie fügte hinzu: »Weil wir eine kollaborative Spezies sind und den anderen zum Überleben brauchen, fühlen wir uns bedroht.« Als Mensch leben wir in der ständigen Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und der Notwendigkeit, uns vor anderen zu schützen.
Aber auch das Tierreich kennt »Hygieneverhalten«, wie die Evolutionswissenschaft die Körperpflege nennt. Die Karibik-Languste meidet Artgenossen mit Virusinfektionen, die Ameise säubert sich von krankheitserregenden Pilzen und räumt tote Kameraden beiseite, die Bienen entfernen erkrankte Freunde aus dem Stock und lassen sie sterben. Das alles scheint grausam, aber ihre Kranken können ohne ausgefeilte, moderne Gesundheitssysteme wie die unsrigen nicht behandelt werden.
Sämtliche Wirbeltiere befolgen offenbar Hygieneregeln: Ochsenfroschkaulquappen gehen, so Curtis, Artgenossen mit Candida-Pilzbefall aus dem Weg. Renken können den Parasit Pseudomonas fluorescens erkennen und meiden. So wie fast alle Säugetiere und Vögel, putzen sich Fledermäuse, um sich von Parasiten zu befreien. Das Schimpfwort Nestbeschmutzer ist nicht nur eine Metapher. Kein Vogel beschmutzt sein Nest. Selbst an verführerisch kalten Tagen kackt er draußen, etwa im Überflug auf einen Menschenkopf. Auch Waschbären, Dachse oder Lemuren wissen, wie die Sache läuft, und haben bestimmte »Latrinenplätze«. Bei Schimpansen lässt sich nach dem Kopulieren manchmal sogar so etwas wie Penispflege beobachten. Als Idee zumindest nett, wenn sich auch nicht alle sexuell übertragbaren Krankheiten so vermeiden lassen.
Krankheitsvorbeugende Verhaltensweisen sind in der Natur genauso universell verbreitet wie Sex. Eigentlich sogar noch mehr. Selbst hirnlose Fadenwürmer, die Sex in jeder Form scheuen, können nachweislich krankheitserregende Bakterien erkennen und vermeiden. Das hat ihnen die leidenschaftslose Evolution gelehrt. Die Gene von Exemplaren, die sich nicht vor Krankheiten schützen konnten, sind ausgestorben. Wer dagegen eine gute Hygiene betrieb, überlebte, vermehrte sich und fraß seine toten Brüder. Nein, die wurden begraben.
In der Fachsprache meint Hygiene ein krankheitsverhütendes Verhalten. Beim Menschen bedeutet dies Händewaschen, die Hand oder die Ellenbeuge beim Husten und Niesen vor den Mund zu halten, offene Wunden abzudecken und den Stuhlgang vorschriftsmäßig zu erledigen. Solche gesundheitsfördernden Urinstinkte können aber zugleich zu Diskriminierung beitragen. Selbst heute noch, so Curtis, können etwa Humpeln, leichte Asymmetrien oder ungewöhnliche Größenmaße Abscheu hervorrufen, weil sie unseren evolutionsgeschichtlichen Selbstschutz vor Ansteckung aktivieren.
So konnten in früheren Zeiten Schwellungen bei Menschen etwa auf Filariose hinweisen, eine durch Mücken übertragbare Wurmerkrankung, die Körperteile anschwellen und die Haut verdicken ließ. Sie waren also ein Gefahrenhinweis. Bis heute können solche Instinkte in Abscheugefühlen zum Ausdruck kommen und so definieren, was als normal gilt. Während die evolutionsgeschichtlichen Hinweise meist bedeutungslos geworden sind, bekommen Menschen, die zu stark von der normalen Bandbreite abweichen, anders aussehen, riechen oder klingen, die gesellschaftlichen Folgen weiterhin zu spüren.
Obwohl bei den Todesursachen die Infektionskrankheiten längst von den chronischen Erkrankungen überholt wurden, fürchtet sich unser Gehirn noch immer unverhältnismäßig stark vor einer Ansteckung. Und wenn zu dem Ekel vor uns selbst und anderen noch Weiteres hinzukommt, das mit Krankheit nichts zu tun hat, können wir die echten Gefahren leicht aus dem Blick verlieren. Hinter manchen heutigen Hautpflegemethoden verbirgt sich wohl auch der Antrieb, keinen Ekel erregen zu wollen, selbst wenn sie auf weit mehr abzielen, als dass wir nicht blut- oder kotbeschmiert herumlaufen.
In den wohlhabenden Ländern, so Curtis, orientiert sich die große Mehrheit bei der Körperpflege an einer abstrakten Vorstellung von Reinheit. Doch »rein« habe, anders als Hygiene, nicht nur mit Krankheitsvorbeugung zu tun.
»Die meisten Leute kaufen Körperpflegeprodukte nicht aus vernünftigen Gesundheitsgründen«, sagte sie. »Sie wollen gut aussehen, Akne, Ekzeme und Falten loswerden und angenehm duften.«
Dass der Mensch nach Schönheit und Wohlgeruch strebt, hat natürlich sehr komplexe Gründe. Manche werden durch kulturelle Normen und Erwartungen zu Verhaltensweisen gedrängt, die sie im Grunde gern aufgeben würden. Es hängt von unserer beruflichen und sozialen Stellung ab, ob wir glauben, es uns leisten zu können, ästhetischen Normen nicht zu entsprechen. Besonders bei Frauen hat die Körperpflege nachweislich Auswirkungen auf das Gehalt sowie insgesamt auf das Körperselbstbild. Hinzu kommt, dass das Pflegeritual Spaß macht, weil man sich täglich ein wenig Zeit für sich nimmt.
Schönheit kann auch Selbstzweck sein. Eigentlich haben mir viele vertrauenswürdige Menschen aus dem Literaturbetrieb davon abgeraten, in diesem Buch Charles Darwin zu erwähnen, das sei ein peinliches Klischee. Also spreche ich wohl besser von einem nebulösen Finkenliebhaber des 19. Jahrhunderts. Obwohl der Mann tugendhaft und häuslich war und in einem Zeitalter der sexuellen Unterdrückung lebte, war seine Ästhetik der sexuellen Auslese radikal. Schönheit sei evolutionär bedingt, sie bereite dem Menschen Lust, und Lust sei ein Selbstzweck. Es gehe bei Schönheit nicht nur darum, Fortpflanzungspartner anzulocken. Wir Tiere würden nämlich alles lieben, was uns ein gutes Gefühl gebe, selbst wenn das unserem langfristigen Überleben entgegenstehe – wie etwa die Paarung mit schönen Tieren, die uns nicht guttun, sich als schlechte Versorger herausstellen oder selbst nicht überleben.
Der deutlich biederere Alfred Russel Wallace, »Mitentdecker« der Evolutionstheorie, widersprach Darwin in diesem Punkt: Schönheit sei das Ergebnis von Anpassung und diene dem Überleben der Art. Seine Ansicht setzte sich über Generationen in den Lehrbüchern durch. Viele Theorien zur natürlichen Selektion bezogen sich fast ausschließlich darauf, wie Männer eine paarungswillige Frau gewinnen und Frauen eine attraktive Partnerin sein können. Dass Frauen autonome Wesen mit eigenständiger sexueller Lust und Absicht sind, kam nicht einmal theoretisch als Möglichkeit vor.
Der Evolutionsornithologe Richard Prum von der Yale University widmet schon sein ganzes Berufsleben der Wiederbelebung der verschütteten Theorie von Schönheit als intrinsischem Gut. »Schönheit passiert«, so seine Theorie, und habe sich wie jeder andere evolutionäre Prozess zufällig entwickelt. Demnach setzten sich Farben, Gesänge, die Größe, Form oder Textur eines Körpers durch, weil sie Lust erzeugen und sich als soziale und genetische Präferenz verbreiten konnten. Männliche Tiere seien nicht größer und aggressiver als weibliche, weil sie paarungswillige Konkurrenten körperlich ausstechen müssten, sondern weil Weibchen größere, kräftigere Männchen bevorzugten. Einfach weil sie sie schöner fanden.
Prum zeigt am Beispiel des Orgasmus, dass die Fähigkeit, Lust zu schenken, auch beim Überleben von Vorteil sein kann: Weibchen, die mehr Spaß am Paarungsvorgang haben, bekommen vermutlich mehr Nachwuchs. Und Männchen, die ihnen diese Lust besser verschaffen können, wahrscheinlich öfter Gelegenheit dazu. Wissenschaftliche Zeitschriften lehnten Prums Artikel zunächst ab, doch langsam freundet sich die Wissenschaftswelt mit der Vorstellung an, dass Schönheit ein Wert an sich ist, auch wenn sie nicht unbedingt stärker, gesünder oder zeugungsfähiger macht.
Auch wenn die Biologie eine Weile gebraucht hat, bis sie damit warm wurde, die Schriftstellerin Toni Morrison hat es schon immer gewusst. In einem Interview von 1993 für den Paris Review sagte sie: »Man kann die Schönheit nicht ausblenden. Sie ist kein Privileg oder ein Luxus. Eigentlich muss man sich nicht einmal darum bemühen. Man kann sie fast mit dem menschlichen Streben nach Wissen vergleichen, der Mensch ist dafür gemacht.«
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Die längste Zeit der Menschheitsgeschichte hatte Körperpflege eher mit Spiritualität und Ritus zu tun als mit heutigen Gesundheits- oder Schönheitsvorstellungen. So schlugen die Azteken im 15. Jahrhundert riesige Wasserbecken für Reinigungsriten in den Bergfels. Wenn die Babys von den Hebammen gewaschen wurden, riefen sie die Wassergottheit Chalchiuhtlicue an:
Komme zu deiner Mutter Chalchiuhtlicue … Möge sie dich empfangen! Möge sie dich waschen! Möge sie allen Schmutz, der von deiner Mutter, deinem Vater auf dich gekommen ist, von dir nehmen und fortwerfen! Möge sie dein Herz reinigen! Möge sie es edel und gut machen! Möge sie dein Verhalten edel und gut machen!
Bei den Azteken wurden selbst die Sklav*innen, die man zur Opferung vorbereitete, mit heiligem Wasser gereinigt. Im alten Ägypten kleidete man die Toten wie Gottheiten und wusch sie nach einem bestimmten Ritual, damit sie leichter ins Jenseits gelangten.