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»Glaub mir, im Meer ist es viel schöner als an Land«, will Kailani sie jedes Mal beruhigen und vergisst doch nie zu mahnen: »Halte dich fern von Rulantica! Auch vom Wasser aus, hast du verstanden? In der alten Pfahlstadt sollen sich gefährliche Wesen angesiedelt haben. Das ist nichts für ein junges Meermädchen wie dich!«
»Gefährliche Wesen gibt es hier doch auch. Eishaie und Teufelsrochen zum Beispiel«, hat Aquina ihr nicht nur einmal entgegengehalten.
Aber Kailani lässt sich in diesem Punkt nicht umstimmen. »Das ist etwas ganz anderes. Den Umgang mit den Gefahren im Meer hast du gelernt, von mir, von Papa und in der Schule. Darauf bist du vorbereitet, auf die Landgefahren nicht!«
Die Warnungen machen die Insel für Aquina aber nur interessanter. Seit einiger Zeit wagt sie sich immer näher heran und versucht, so viel wie möglich von der Inseloberfläche zu erspähen. Ihrer Mutter verschweigt sie diese Erkundungstouren wohlweislich.
Die Neugier und das Fernweh ziehen und zerren in Aquina wie das Brennen von Salz auf der Haut, wenn sie das Gesicht zu lange in die Sonne streckt. Sie kann es gerade noch aushalten, aber es geht nie ganz weg, solange sie nichts dagegen unternimmt.

Als ob jemand ihre Gedanken gelesen hätte, ertönt plötzlich ein ohrenbetäubendes Heulen, das selbst Larimas Skjol in den Schatten stellt. Blitzschnell rollt Aquina sich herum und hält Ausschau nach der Ursache. Nichts zu sehen. Doch das Geräusch kommt eindeutig von der Insel, und Aquina hat eine schreckliche Vorahnung, wer es sein könnte. In einer Geschwindigkeit, die selbst einen Schwertfisch wie eine Meeresschnecke aussehen lassen würde, schwimmt Aquina auf das Ufer zu.
Der Strand von Rulantica glüht in der Sonne. Er wurde deshalb früher Goldstrand genannt. Allerdings hat sich dort inzwischen allerlei Strandgut angesammelt. Hauptsächlich von den zahlreichen Schiffen, die Exena, die Anführerin der Quellwächter, hier im Laufe der Jahrhunderte versenkt hat und deren Wracks nach und nach angespült wurden.
Aquina schlängelt sich durch die Wrackteile und sieht sich gleichzeitig über Wasser um. Gerade noch kann sie einem Mast ausweichen, der knapp unter der Wasseroberfläche wie ein Speer nach oben ragt. Kratsch, mit ihrer Flosse schrappt sie gleich über den nächsten Mast. Hoffentlich hat sie dabei keine Schuppen angeschrammt. Sie taucht mit dem Kopf unter Wasser, um sich wenigstens kurz zu orientieren, wo die nächsten Hindernisse lauern. Es ist purer Leichtsinn, sich in das Labyrinth der Schiffswracks zu verirren. Es gibt nur einen, der leichtsinnig genug wäre, es trotzdem zu riskieren, um zum Strand zu gelangen …
Schon von Weitem bestätigt sich ihr Verdacht. Im goldenen Sand bemerkt sie einen knallblauen kugeligen Kopf und fünf Fangarme, die wie wild durch die Gegend fuchteln. Der sechste Fangarm scheint irgendwie im angeschwemmten Abfall festzustecken, denn der kleine Kugelkopf zieht und zerrt und heult immer wieder herzzerreißend. So dicht sie kann, schwimmt Aquina heran, aber es liegt trotzdem noch mindestens eine Schiffslänge zwischen ihnen.
»Snorri!«, ruft sie.
Der kleine Kopf dreht sich zu ihr. Im Gegensatz zu Aquina kann ihr Tintenfischfreund mit seinen sechs Armen auch an Land herumspazieren und normalerweise beneidet sie ihn darum, aber heute scheint ihm seine Neugierde zum Verhängnis geworden zu sein. »Was hast du dort verloren, Snorri? Der Strand ist doch gefährlich mit all dem morschen Krempel!«
»SNRRR, SNG, SNGG!«, antwortet er schrill.
Aquina weiß genau, dass er sie verstanden hat, auch wenn sie seine Sprache nur vage deuten kann. Aber um zu begreifen, dass er sich einen Arm eingeklemmt hat und deshalb nicht mehr vom Strand wegkommt, reichen Snorris Klagelaute vollkommend aus.
»Was soll ich tun?«, jammert Aquina. »Ich kann nicht an Land, um dir zu helfen.«
»SNNN-NN«, macht Snorri statt eines Vorschlags. Sein pinkfarbener Kamm am Kopf schwillt bereits feuerrot an vor lauter Anstrengung. Aquina versucht, sich ein Stück über die Wasseroberfläche zu stemmen, um zu sehen, wo Snorri festhängt, aber das ist aus der Entfernung unmöglich zu erkennen. Aquina spürt die aufkeimende Panik des kleinen Tintenfischs über die Wellen hinweg. Snorri ist zwar in der Lage, eine ganze Weile außerhalb des Wassers zu leben, aber wenn er sich nicht fortbewegen kann, ist er leichte Beute für Robben oder andere Raubtiere. Oder die Sonne trocknet nach und nach seine zarte Meereshaut aus. Aquina muss schlucken, sie kann doch nicht tatenlos zusehen! Ach, könnte sie einfach an Land gehen und ihren Freund aus dieser Lage befreien! Wenn sie doch bloß Beine hätte … Hat sie aber nicht, also muss ihr etwas anderes einfallen. Auf keinen Fall kann und will sie zusehen, wie ihr Tintenfischfreund so ein schreckliches Ende findet. Er ist der Einzige, der ihre Sehnsucht, noch mehr von der Welt zu erkunden, versteht, ganz ohne Worte. Und mit dem sie auf Streifzüge gehen kann, ohne sich anhören zu müssen, wie gefährlich das für ein Meermädchen ist.
Snorri zieht weiter an seinem Arm, legt aber zwischendurch immer längere Pausen ein. Seine erschöpften Atemzüge dringen bis zu Aquina ins Wasser. Hektisch schaut sie sich um. Noch ist kein Feind in Sicht, aber eine Lösung leider auch nicht, außer diesen blöden Wracks. Moment! Vielleicht sind die verrottenden Schiffe gar nicht so blöd – Aquina taucht kurz ab und nimmt bei einem Schiff eine lockere Planke ins Visier. Ob die bis ans Ufer reicht? Sie löst die Planke vom Rumpf und taucht mit ihr zurück nach oben. Mist, die Holzlatte ist nicht lang genug! Aber wenn sie eine unversehrte wählt, die die volle Schiffslänge hat, dann müsste es klappen. Aquina taucht erneut ab und steuert das nächste geeignete Wrack an. Gar nicht so leicht, eine Planke abzumontieren!
Aquina zerrt unter Wasser fast so wie Snorri oben. Zum Glück spielt zumindest das Gewicht im Wasser keine große Rolle, aber die alten rostigen Nägel, die die Bretter zusammenhalten, erfüllen auch nach langen Jahren noch erstaunlich gut ihre Aufgabe. Endlich, mit einem lauten Krack, lösen sich die mittleren Nägel, jetzt hängt alles nur noch an einer Seite. Aquina umfasst das Plankenende und zuckt zurück, als ihr ein schlangenförmiger Fisch entgegenschnellt – eine braungraue Wrackmuräne zeigt ihre spitzen Zähne. Aquina hat sie nicht nur aus ihrem Mittagsschlaf geweckt, sondern hat ihre Behausung zerstört und das nimmt sie ihr richtig übel. Sie faucht und stößt urplötzlich aus dem Innern des Wracks hervor, direkt auf Aquinas Gesicht zu. Mit den meisten Meeresbewohnern kommt Aquina prima aus, aber mit Muränen, vor allem mit Wrackmuränen, ist nicht zu spaßen. Doch heute kann sie nicht einfach verschwinden, Snorri ist viel zu wichtig! Aquina weicht im Zickzack aus, hält den linken Arm schützend vor ihr Gesicht und rupft mit dem rechten schnell weiter an der Planke. Nur ein Stückchen noch, dann gibt der letzte Nagel nach. Aber die Muräne hat ebenfalls eine Kehrtwende hingelegt und denkt gar nicht daran, den Abbau ihres Unterschlupfs tatenlos hinzunehmen. Sie schnappt zu. Uh, wie das brennt! Aquina beäugt die fiesen kleinen Löcher, die die Zähne auf ihrem Handrücken hinterlassen haben. Jetzt ist aber Schluss mit lustig! Das Meermädchen ist richtig geladen, und ohne weiter nachzudenken, brüllt sie die Muräne an: »VERSCHWINDE!«

Eine wütende kleine Welle drängt den Fisch zurück, er ist von diesem Ausbruch mindestens so überrascht wie Aquina selbst. Wahrscheinlich ist die Muräne es gewohnt, dass bereits bei ihrem Anblick alle fliehen, spätestens aber, wenn sie zubeißt. Kurz glotzt sie mit ihren runden weißen Augen, in denen die starren schwarzen Pupillen wie Tiefseekrater aussehen, dann tritt sie tatsächlich den Rückzug in den Schiffsbauch an.
»Warum nicht gleich so?«, knurrt Aquina ihr hinterher. Sie reibt sich die Hand, bevor sie weiter an der Planke zerrt. »Dieses Ding muss doch endlich … Hilfe!« Beinahe wäre Aquina abgerutscht, als plötzlich doch der letzte Nagel nachgibt und wie ein Geschoss aus dem Schiffsrumpf geschleudert wird. Das lange Holzbrett federt hinterher und landet mit Schwung in Aquinas Armen. Auch wenn unter Wasser alles weniger wiegt, ist die Planke verdammt unhandlich, Aquina eiert von links nach rechts, in die Mitte und wieder nach links, sie kann das lange Ding kaum halten, geschweige denn ans Ufer zu Snorri schieben. Die ganze Mühe und der Biss umsonst!
Aquina legt die Planke auf einem Schiffsdeck ab und streckt den Kopf aus dem Wasser, um nach Snorri zu sehen. Unverändert. Er hängt immer noch fest, nur seine Gegenwehr hat nachgelassen, weil ihm die Kraft ausgeht. Flehend winkt er ihr mit einem seiner freien Arme zu und lässt wieder einen Klagelaut hören, der Aquina antreibt. Sie muss eine Lösung finden! Neben ihr ragt etwas aus dem Wasser. Nicht besonders hoch, nur ein paar Schuppenlängen. Der höchste Mast des gesunkenen Schiffs und gleich darunter das, was die Seeleute Krähennest nennen: der Ausguck, in den sie den schwindelfreisten Matrosen schicken, damit er berichtet, wenn Land in Sicht kommt oder Gefahr droht. Das hat diesem Schiff allerdings nichts genutzt. Selbst wenn der Matrose aufgeweckt genug gewesen sein sollte, die Eiswelle vorher zu sehen, hätte er sich und die Mannschaft nicht retten können. Exena ist genauso eiskalt wie ihre Magie, und wenn sie ein Schiff bemerkt, das der Insel zu nahe kommt, dann ist es wenige Wellenschläge später bereits auf dem Weg zum Meeresgrund und mit ihm die gesamte Mannschaft, die zu Eisblöcken gefriert und keine Chance hat, dem sicheren Tod zu entgehen. Das unterscheidet Exena und die Quellwächter grundsätzlich von den Sirenen: Sie sorgen für handfeste Taten gegen die Menschen anstelle von reinen Abwehrgesängen und normalerweise findet Aquina das furchtbar. Aber nun kommt ihr der Mast des gesunkenen Schiffs wie gerufen. Wenn sie es schafft, die Planke bis hier hochzuhieven, dann könnte sie das Krähennest als Auflage benutzen.

Aquinas Gesicht läuft fast so rot an wie Snorris Kamm, als sie versucht, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Immer wieder rutscht die Planke ihr aus der Hand, beinahe schlägt sie sich selbst damit nieder, weil das dumme Teil anfängt, sich um sich selbst zu drehen.
»Halte durch!«, ruft sie über das Wasser und meint damit genauso Snorri wie sich selbst.
Sie könnte sehr gut Hilfe gebrauchen, aber es ist weit und breit niemand in Sicht, außer ein paar Schwarmfischen, die nicht einmal in der Lage wären, einen Nagel hochzuheben. Also gut, noch einmal! Mit der Kraft der Verzweiflung packt Aquina das Holzbrett, das schon wieder fast bis zum Grund gesunken ist. Vorsichtig, damit es nicht abdriftet, wuchtet sie es höher und höher. Sie wackelt und wankt, stützt die Planke zusätzlich mit ihrem Fischschwanz, kommt dadurch zwar langsamer, aber dafür stabiler voran. Als ob zumindest das Meer auf ihrer Seite ist, hält es diesmal ganz still, bis Aquina die Planke auf die Höhe des Krähennests gezerrt hat und ablegen kann. Ab jetzt ist es viel einfacher. Wie auf einer Schiene kann sie die Planke in Snorris Richtung schieben, ohne sie gleichzeitig anheben zu müssen.
»Vorsicht!«, ruft sie ihrem Freund zu. »Hier kommt Hilfe!«
Snorri beäugt das Brett zuerst wie eine Schlange, die es auf ihn abgesehen hat, und weicht, so weit wie es sein eingeklemmter Arm zulässt, zurück. Erst als er begreift, dass die Planke nicht vorhat, ihn zu fressen, sondern dass Aquina sie lenkt, beruhigt er sich etwas.
»Na los, halt dich mit den freien Armen daran fest!«, fordert Aquina ihn auf.
Immer noch skeptisch tippt Snorri mit einer Fangarmspitze auf die Planke. Trotz der ernsten Lage muss Aquina sich ein Schmunzeln verkneifen. Snorris behutsame Tests sind einfach zu niedlich!
»Trau dich!«, feuert sie ihn an.
Wahrscheinlich hätte Snorri die Planke noch eine ganze Weile umtänzelt, doch da fällt ein Schatten auf ihn. Snorri und Aquina legen die Köpfe in den Nacken und blinzeln in den Himmel. Aquina zuckt zusammen, ein schwarzer Mauk!
»Mrk, mrrrrk!« Das Kreischen des riesigen Vogels hört sich wie ein Triumphschrei an.
»Er hält dich für sein Mittagessen«, ruft Aquina. »Schnapp dir endlich das Brett!«
Der kreisende Vogel verleiht Snorri den nötigen Antrieb. Er schlingt seine Fangarme um das Holz, so fest er kann, und kneift die Augen zusammen.
Zuerst probiert Aquina, das Brett zu sich ins Wasser zu ziehen, aber sie merkt schnell, dass die Kraft in ihren Armen nicht ausreicht. Man müsste …
»MRRRRK!«
Der Mauk setzt zum Tiefflug an. Keine Zeit mehr zum Überlegen. Aquina hat nur einen Versuch. Sie zieht sich am Krähennest hoch und lässt sich dann von so weit oben wie möglich – Fischschuppenpo voran – auf die kurze Seite des Bretts plumpsen.

Dann passiert alles gleichzeitig. Aquina spürt den schmerzhaften Aufprall auf dem Brett, bevor es über sie hinwegklappt. Sie landet im Wasser. Ein Pfeifgeräusch in der Luft. Etwas saust über Aquinas Kopf. Ein lautes Platschen. Das Brett fliegt ihr um die Ohren. Der Mauk lässt ein Kreischen hören. Das Brett überschlägt sich und fällt ins Wasser. Aquina taucht unter.
Hat sie es geschafft? Hat der Schwung gereicht, um Snorri zu befreien? Oder hat der spitze leuchtend rote Schnabel des Mauks ihn gefangen? Aquina hält auf die Stelle zu, von der das erste Platschen kam. Kein Snorri. Nein, das darf nicht sein! Er muss doch hier irgendwo sein! Mit jedem Schwimmzug wächst ihre Verzweiflung.
»Snorri! Snorriiiii!«
»Snr.« Sehr leise, sehr klein. Aber Aquina hat es gehört. Er ist da, hockt auf dem Meeresboden und hält sich mit zwei Armen den Kopf.
»Geht es dir gut?« Aquina lässt sich neben Snorri nieder und zählt als Erstes nach: eins, zwei, drei, vier, fünf … sechs. Puh, zum Glück sind noch alle Fangarme dran!
Snorri streckt ihr einen Arm entgegen, der deutlich rot und angeschwollen ist. Mit zarten Fingern streicht Aquina darüber. »Tut’s sehr weh?«
Snorri schiebt die Unterlippe vor und nickt.
»Kannst du ihn noch bewegen?«
Er hebt den Arm und zeichnet einen Kreis ins Wasser, verzieht aber das Gesicht.
Aquina lächelt ihn aufmunternd an. »Wenn das noch geht, wird es ganz schnell wieder gut!«
Sie legt den Arm um den kleinen Sixtopus und er kuschelt sich an sie. »Was wolltest du eigentlich an Land?«, fragt Aquina.
Snorri macht eine Unschuldsmiene.
»Sag schon«, drängt Aquina.
Ein verschmitztes Lächeln huscht über sein Gesicht, bevor er ein Stück zur Seite rutscht, damit Aquina sehen kann, worauf er bisher gesessen hat. Aquina betrachtet das zerquetschte Etwas. Es muss vor dem Aufprall handtellergroß und wahrscheinlich fast rund gewesen sein und mit einer Art rot-gelben Schale, aus der jetzt platt gedrückt der Innenteil herausquillt. Und der ist einfach bloß: Matsch – unansehnlich, gelb mit bräunlichen Flecken. In der Mitte ragt ein kleiner Holzstängel heraus. Dieser Matschhaufen kann unmöglich der Grund für Snorris waghalsige Aktion sein.
»Hast du dir deswegen den Arm eingeklemmt?«, fragt Aquina fassungslos. »Und das Zeug noch nicht mal losgelassen, als du dich mit aller Kraft an der Planke festhalten solltest?«
Snorri senkt den Kopf und schielt sie schuldbewusst von unten an, bevor er nickt.
»Bist du von allen Meergeistern verlassen? Für so was setzt man doch nicht sein Leben aufs Spiel!«
Statt einer Antwort steckt Snorri einen Fangarm in den Haufen und anschließend in seinen Mund. Genießerisch verdreht er die Augen und schmatzt dazu. Aquina schüttelt sich angewidert. »Du willst doch wohl nicht behaupten, dass das schmeckt?«
Snorri streckt erneut einen Arm aus, nimmt vorsichtig etwas von dem Brei und reicht ihn Aquina.
»Das esse ich nicht!«
Aber der Sixtopus lässt nicht locker, er schwenkt den Fangarm unter ihrer Nase, bis sie den süßlichen Duft wahrnimmt.
»Riecht tatsächlich besser, als es aussieht«, räumt Aquina ein.
Snorri grinst und schleckt sich über die Lippen. Soll sie es wagen? Giftig ist es sicher nicht, und wenn es gar nicht schmeckt, kann sie es einfach wieder ausspucken. Also öffnet Aquina den Mund und lässt sich von Snorri füttern, sie erwartet nicht allzu viel. Irgendwas zwischen dem meersalzigen Geschmack der Algen und dem zartwürzigen Aroma der Kräuter aus ihrem Garten, vielleicht mit einem Hauch Grundschlamm. Aber der Matsch übertrifft jede Erwartung, so was hat Aquina noch nie in ihrem Leben gegessen. Er ist saftig und süß, gleichzeitig frisch und knackig, aber ohne den knirschenden Sand, den man bei jeder Nahrung aus dem Wasser normalerweise im Mund hat. Es ist ihr völlig egal, wie er aussieht, sie würde den Haufen am liebsten komplett verdrücken und nie wieder etwas anderes essen.
»Snorri, das ist köstlich! Wo kommt das her? Gibt es noch mehr davon?«
Snorri grinst vom linken bis zum rechten Ohrentrichter, weil er sich so freut, seine Freundin auf den Geschmack gebracht zu haben. Eifrig deutet er nach oben.
»Schon klar, das kommt vom Land«, übersetzt Aquina. »Aber wie komme ich da ran?«
Er winkt ihr, ihm zu folgen, und pulpt los. Der Schmerz in seinem Fangarm scheint schon wieder fast vergessen. Snorri ist eben ein kleines Energiebündel. Aquina schwimmt ihm hinterher. Gleich nach dem Auftauchen suchen sie als Erstes den Himmel ab, aber der schwarze Mauk hat sich zum Glück bereits verzogen. Snorri hält auf Rulantica zu, schwimmt aber am Strand vorbei.
»Du weißt, dass ich nicht an Land gehen kann?«, erinnert Aquina ihn zur Vorsicht.
Snorri lässt ein schadenfrohes Schnattern hören.
»Mach dich nur über mich lustig«, mault Aquina. »Das nächste Mal rette ich dich nicht, wenn du wieder irgendwo festhängst!«
Zur Versöhnung hakt Snorri sich bei ihr unter und deutet in einiger Entfernung auf eine Reihe von großen Pflanzen am Ufer, die fast bis in den Himmel ragen. Aus einem Stamm wachsen mehrere kleine Arme, die sich immer weiter verzweigen und mit grünen Blättern bewachsen sind. Aquina bestaunt die Pflanzenriesen, die ihr noch nie so richtig aufgefallen sind, obwohl sie schon hin und wieder über die Wasseroberfläche gespäht hat. Aber bisher blieb ihr Blick immer an den alten Schiffen und Ruinen von Rangnakor hängen.
Snorri war da wohl wesentlich aufmerksamer, denn erst jetzt entdeckt Aquina sie auch: Die runden roten Kugeln zwischen den grünen Blättern müssen es sein. Wenn sie nicht platt gedrückt sind, sehen sie genauso lecker aus, wie sie schmecken. Aquina läuft das Wasser im Mund zusammen. Doch die Freude währt nur kurz. Auch wenn die Riesenpflanzen relativ nah am Ufer stehen, sind sie für Aquina unerreichbar. Sie seufzt und schielt zu Snorri. Er kann sich zwar im Gegensatz zu ihr und im Gegensatz zu den achtbeinigen Tintenfischen, die Aquina außer ihm kennt, auch an Land bewegen, doch sie bezweifelt, dass er auf die Riesenpflanzen klettern und sich eine der Kugeln pflücken könnte. Oder hat er etwa …?
»Wie bist du an die Kugeln herangekommen, Snorri? Mit deinem Schwebezauber? Ist der so stark?«
Aquina fällt ein, dass der kleine Tintenfisch ihr vor einiger Zeit ein Geheimnis gezeigt hat: Wenn er sich ganz fest auf einen Gegenstand konzentriert, dann kann er ihn herbeirufen, ohne ihn zu berühren. Snorri hat es ihr mit einer großen bunt schillernden Muschel vorgeführt, die wie von Geisterhand durchs Wasser auf sie zugeschwebt ist. Aber das war unter Wasser und Aquina hat es für eine Art Wellenzauber gehalten. Kann Snorri das auch an Land und in der Luft?
Snorri schüttelt den Kopf und richtet wie zur Bestätigung seine Tentakel auf den Pflanzenriesen mit den roten Kugeln. Aquina sieht, wie der Kamm ihres Freundes vor Anstrengung anschwillt, und tatsächlich bewegen sich die Kugeln ein bisschen, als würde eine unsichtbare Hand an ihnen ziehen. Doch ihr hölzerner Stiel bleibt fest mit den Armen der Pflanze verwachsen. Snorris Kraft reicht nicht aus, um sie abzulösen. Aquina ist trotzdem schwer beeindruckt: ein Über- und Unterwasserzauber!
Jetzt taucht Snorri kurz zurück ins Wasser und kommt mit einem Stein wieder, dreht sich auf den Kopf und streckt die Fangarme in die Luft, als wäre er eine Art Ableger der Riesenpflanze. Er schüttelt die Fangarme und lässt nach einer Weile den Stein ins Wasser plumpsen. Aquina klatscht in die Hände. »Ich verstehe! Die Kugeln fallen irgendwann herunter und dann musst du sie bloß noch vom Boden aufheben!«
Snorri nickt und freut sich, dass Aquina seine Pantomime erraten hat.
»Und wie lange müssen wir noch warten, bis die nächste herunterfällt?«
Snorri hebt und senkt die Fangarme. Eine Weile starren beide sehnsüchtig zu den roten Kugeln. Plötzlich fangen die Riesenpflanzen an zu vibrieren.
Aquina reißt die Augen auf. Das kann nicht von Snorri kommen. »Was ist das denn nun wieder?«, fragt sie.
»Snrr, snrr«, macht Snorri und zeigt auf Rulantica.
»So weit habe ich es auch verstanden, dass das von der Insel kommt.«
»Sn«, seufzt Snorri.
»Ja, ich weiß, manchmal wäre es besser, wir würden die gleiche Sprache sprechen«, stimmt Aquina zu.
Bevor sie sich über die Verständigung weiter Gedanken machen kann, wird das Beben stärker und stärker. Nicht nur die Riesenpflanzen wackeln, sondern die ganze Insel. Aquina schwimmt ein Stück weiter, um besser sehen zu können.
»Sn, sn!« Snorri deutet noch weiter ins Inselinnere.
»Was ist d…?«
Doch im selben Augenblick erkennt Aquina, was er meint. In der Inselmitte thront ein Berg, neben dem alle anderen Felsen wie Spielzeug aussehen, und obwohl er weit vom Meer entfernt liegt, spürt Aquina, welche Kraft von ihm ausgeht. Ihm fehlt die Spitze auf dem Gipfel, als ob jemand sie abgebissen und dafür einen Krater zurückgelassen hätte. Gerade jetzt fängt es aus dem Krater an zu qualmen. Zuerst nur eine dünne hellgraue Rauchsäule, die aber schnell dichter und dunkler wird. Gleichzeitig zittert die Erde weiter, das Wasser, das Aquina eben noch türkisklar und ruhig umgeben hat, bildet Kreise und trübt sich augenblicklich ein. Und dann geht es erst so richtig los. Der Berg spuckt glühende Steine aus seinem Inneren, sie fliegen über die halbe Insel, manche erlöschen sofort wieder, aber einige werden beim Aufprall sogar flüssig und fließen wie Feuerzungen weiter.

»Der Feuerberg«, flüstert Aquina tonlos. Sie hat ihre Mutter und die älteren Sirenen von ihm flüstern gehört. Wie gefährlich es in seiner Nähe ist, vor allem wenn er nicht nur wie jetzt ein paar vereinzelte Brocken in die Luft schleudert, sondern wenn er richtig ausbricht, sich seine geballte Wut in glühenden Strömen über das Land ergießt und sich angeblich selbst das Wasser in Ufernähe in kochend heiße Lava verwandelt. »Der Feuerberg ist die Magie der Insel selbst«, hat Aquinas Vater Bror einmal behauptet und Kailani hat ergänzt: »Das liegt daran, dass Rulantica eigentlich ein Stück von Asgard ist, dem Land, in dem die Götter zu Hause waren. Loki hat einst ein Stück davon abgebrochen, um es über die Regenbogenbrücke in unsere Welt Midgard rollen zu lassen und daraus Rulantica für uns Menschen zu erschaffen.«
Bisher konnte Aquina sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendjemand oder irgendetwas es mit der Eismagie der Quellwächter aufnehmen könnte. Aquina hatte die Quellwächter schon bei ihrem Training beobachtet, wenn sie in vollem Galopp auf ihren Wasserpferden, den Kelpies, dahinschnellten und mit Eispfeilen aus ihren Fingerspitzen selbst noch so kleine und weit entferne Ziel trafen. Es war jedes Mal ein tödlicher Treffer, hart, kalt und präzise berechnet. Gegenangriffe konnten sie mit einem Eisschild abblocken. Undurchdringlich und unüberwindbar. Nur die mächtige Seeschlange Svalgur könnte ihnen gefährlich werden, sollte sie jemals in ihrer heiligen Halle erwachen.