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Aquinas Papa hob seinen Arm und drehte und wendete ihn, als ob er das Band gerade erst bemerkte. »Das kann man auch als Meermann gut tragen, findest du nicht?«
»Wenn du meinst …«, erwiderte Kailani gedehnt. Aquina verkniff sich nur mit Mühe das Kichern.
»Und es ist sehr praktisch«, fuhr Bror fort. »Ich kann meine Angelhaken daranhängen und habe beim Schwimmen die Hände frei!«
»Verstehe«, seufzte Kailani, »du hältst zu Aquina, wie immer!«
»Das ist nicht wahr«, widersprach Aquinas Papa. »Die Algetarier-Spinnerei finde ich genauso bescheuert wie du. Aber die Bänder gefallen mir! Und weil ich von unserer wunderbaren Tochter gelernt habe, wie man sie herstellt, habe ich hier etwas …« Ihr Vater hielt inne und zog dann ein besonders zierliches Bändchen aus silberweiß schimmerndem Federgras hervor. Sogar eine kleine Mondperle hatte er eingeflochten. »… für dich!« Er legte Kailani das Band um den Arm.
»Das ist … du bist … na gut, ihr habt gewonnen, das ist wirklich wunderschön«, gab Kailani zu und lächelte Bror und Aquina an.
Aquina wusste, dass Papa auch ihr an dem Abend ein Geschenk gemacht hatte, und war ihm endlos dankbar dafür gewesen. Kailani trug das Federgrasband nämlich tatsächlich, ohne Aquina jemals wieder Vorwürfe zu machen.

Einen Mondlauf ist das jetzt her. Aquina wischt sich über die Augen, weil die Erinnerung sie immer noch rührt. Auch Snorri kennt ihre Bändchen. Wenn sie ihm also ein paar geflochtene Blätter in seinem Unterschlupf zurücklässt, dann wird er kapieren, dass sie da war. Sie wählt drei Blätter und fängt an, sie zu verknüpfen, als etwas ihre Schulter berührt. Sie zuckt zusammen und dreht sich um. Nichts zu sehen. Was war das? Vielleicht nur der Stamm eines Tangbaums. Sie wendet sich wieder ihren Blättern zu. Etwas streift ihren Rücken. He! Sie fährt herum. Das war eindeutig keine Pflanze. Aber auch diesmal ist kein Fisch oder Krebs zu sehen. Es zieht an ihren Haaren. Das traut sich nur einer!

»Snorri!«, ruft Aquina. Sie versucht, einen Arm ihres Freundes festzuhalten. Doch er ist schneller.
»Na, warte!« Aquina lässt ihr Geflecht fallen und nimmt die Verfolgung auf. Durch die Kelpbäume, linksrum, rechtsrum, ein Stück nach oben, zurück zum Meeresboden – rechts – links …
Wo steckt er? Snorri ist kleiner und wendiger als sie. Er schlüpft durch die Pflanzen wie durch einen Parcours. Aquina kann ihm gerade so folgen, aber er ist immer schon weggewitscht, bevor sie ihn packen kann. Sie sieht bloß noch die schlingernden Pflanzenspitzen, durch die bereits das Sonnenlicht blitzt.
»Ich gebe auf!«, schnauft sie. »Ich wollte dir eigentlich nur erzählen …«
Sie verstummt, weil Snorri ihr einen Fangarm auf die Lippen legt. Was soll das nun wieder? Jetzt hört sie es auch. Stimmen. Richtig echte Stimmen, keine Tierlaute. Ach, du Schreck! Das ist eindeutig die Stimme ihrer Mutter, sie erkennt nun auch ihre grünblaue Schwanzflosse, die nervös im Wasser paddelt, während sie sich an der Oberfläche direkt über dem Kelpwald unterhält. Aquinas erster Impuls ist Flucht. Ihre Mutter darf sie hier nicht erwischen! Aber irgendetwas hält sie davon ab, sofort umzudrehen. Sie lauscht hinauf zu dem Gespräch mit den Wellen. Stumm wie ein Fisch duckt sie sich möglichst dicht in den Tang.
»Ihr müsst euch geirrt haben«, sagt Kailani gerade.
»Nein nein nein, wir wir wir irren irren irren uns uns uns nicht nicht nicht!«, plätschern die Wellen.
»Das ist unmöglich!«, beharrt Kailani. »Der Junge ist vor vielen Gezeiten verunglückt, daran gibt es keinen Zweifel!«
Aquina stutzt. Von welchem Jungen ist die Rede? Sie weiß von keinem Meerjungen, der gestorben ist. Vielleicht jemand von den Quellwächtern? Aber auch davon hätte sie doch gehört! Bei Angriffen und in allen wichtigen Angelegenheiten halten Sirenen und Quellwächter nach wie vor zusammen – und ein Trauerfall wäre doch wichtig gewesen.
Aquina schielt zu Snorri, dem plötzlich alle Farbe aus dem kugelrunden Gesicht gewichen ist. Ob er den Jungen kannte? Die Frage danach muss sie sich aufheben, wenn sie weiter lauschen will.
»Er er er trug trug trug das das das Amulett Amulett Amulett«, plätschern die Wellen weiter.
Der Fischschwanz ihrer Mutter bebt, als wäre sie von einem Rochen gestochen worden. »Das Amulett? Friggs Amulett? Das kann nicht sein, das darf nicht sein! Bitte schwört, es niemandem zu erzählen. Vor allem nicht Exena und den Quellwächtern. Würde sie es erfahren, geraten wir alle in Gefahr!«
»Wir wir wir schwören schwören schwören es es es!«

Der Schwur der Wellen ist noch nicht ganz verklungen, als Aquina aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnimmt. Einige Schwimmzüge von ihr entfernt löst sich ein Katzenhai aus seinem Tangversteck und schlängelt sich davon. Er muss alles mitbekommen haben, genau wie Aquina. Ihr ist sofort klar, wohin der kleine Hai unterwegs ist. Zur Eisstadt. Die Haie sind – neben den Kelpies – die bevorzugten Wassertiere der Quellwächter. Sie arbeiten und leben so eng zusammen, dass sich sogar ihr Aussehen aneinander angepasst hat. Die Fischschwänze der Quellwächter sind nicht bunt und schillernd wie die der Sirenen, sondern überwiegend grau und rau und bieten ihnen eine Art natürliche Rüstung. Ihre Schwanzflossen sind oft asymmetrisch und kantig, die Quellwächter können sie als zusätzliche Waffe einsetzen. Dank ihrer Eiszacken sind die Quellwächter kaum weniger gefährlich als ihre Haifreunde. Aquina beobachtet ihr Training hin und wieder heimlich, obwohl auch das ihrer Mutter ein Dorn im Auge ist. Wahrscheinlich hat sie Angst, Aquina könnte eines Tages die Seite wechseln und sich heimlich zur Quellwächterin ausbilden lassen. Ganz falsch liegt sie damit nicht. Aquina bewundert den kraftvollen und gleichzeitig eleganten Kampfstil ihrer Nachbarn und die Eiszauber sind um einiges cooler als die lahme Wassermagie. Aber dass ein Spion von Exena ein Geheimnis ihrer Mutter weiterträgt, will Aquina trotz allem nicht zulassen. Wenn es so gefährlich ist, wie sie sagt, dann muss Aquina den Katzenhai unbedingt aufhalten.
Ohne lange nachzudenken, nimmt sie die Verfolgung auf. Vielleicht lässt sich nebenbei herausfinden, was hinter dem geheimnisvollen Jungen steckt. Ihren Grottenarrest hat sie völlig verdrängt.
Von der Seite schlingt sich ein Arm um ihren: Snorri. Allerdings wirkt er nicht so aufgekratzt und fröhlich wie sonst, wenn sie zusammen zu einem Abenteuer aufbrechen.

IN DER EISSTADT

Aquina gibt sich größte Mühe, an dem wendigen Katzenhai dranzubleiben, ohne dass er sie bemerkt. Wenn sie ihn fangen will, hat sie nur einen Versuch, und der sollte wohlüberlegt sein. Auch wenn der grau gepunktete Fisch nicht lebensgefährlich für sie werden kann, hat sie Respekt vor seinen spitzen Zähnen. Gegen eine Sirene wird er sie mit besonderer Wonne einsetzen und sie hat noch genug von dem Muränen-Angriff. Aber vielleicht kann sie den Katzenhai bei den Felsenhöhlen kurz vor der Eisstadt in die Enge treiben? Aquina gibt Snorri ein Zeichen, von unten auf den Hai zuzuschwimmen. Sobald er abgelenkt ist, will sie ihn von hinten überraschen. Snorri kneift seine Augen zusammen. Es behagt ihm gar nicht, als Köder eingesetzt zu werden, trotzdem lässt er sich mit einem energischen Fingerzeig von Aquina überreden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
Snorri taucht unter dem Hai durch und vor ihm auf, tut so, als hätte er ihn nicht bemerkt. Eigentlich eine Einladung, die der Hai nicht ausschlagen kann. Sobald der Hai die Fährte aufgenommen hat, soll Snorri ihn in eine der Felsenhöhlen locken, wo Aquina ihm dann den Rückweg versperren und ihn schnappen kann. Aber statt auf ihn zuzuhalten, schlägt der Hai einen Haken um Snorri herum.
Aquina rutscht ein erstaunter Laut heraus. Das hat sie noch nie erlebt! Ein Hai, der einen Leckerbissen wie Snorri ignoriert – wo gibt es denn so was? Der Hai wirft nur einen ganz kurzen Glupschaugenblick auf Aquina und stürzt sich dann in die Tiefe, auf den felsigen Untergrund zu. Aquina schnellt ihm hinterher, ist aber durch ihre Größe behäbiger, der Fisch kann seinen Vorsprung ausbauen. Die Felsenhöhlen, die Aquina nutzen wollte, um ihm den Rückzug zu versperren, kommen jetzt stattdessen dem Hai als Versteck zugute. Es muss doch eine Möglichkeit geben, ihn aufzuhalten. Der Wasserwirbel fällt ihr ein – damit könnte es gehen. Aquina deutet mit ihrem Zeigefinger auf den Katzenhai und versucht, ihre Stimme so energisch wie die von Skyrn erschallen zu lassen: »VATT GALDUR!«
Das Wasser um ihren Finger fängt an, sich zu kräuseln. Der Wirbel setzt sich in Bewegung, hält auf den fliehenden Fisch zu, streift ihn an der Seite. Aquina kann es selbst kaum glauben. Zum allerersten Mal scheint ihr der Spruch richtig gut zu gelingen. Im Notfall ist Wassermagie vielleicht doch nicht so unbrauchbar. Der Katzenhai gerät ins Trudeln, gleich wird er gefangen sein, wie Aquina neulich im Unterricht. Doch ohne Vorwarnung bricht der Wirbel ab. Aquina ist verzweifelt, warum bloß bekommt sie die Zauber nie so richtig hin? Der Hai schüttelt seine Flossen, als sei ihm ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen, und taucht dann unbehelligt in das Felsenlabyrinth unter sich ab. Aquina kann ihm endgültig nicht mehr folgen, wenn sie sich nicht sämtliche Schuppen aufreiben will. Snorri gibt sein Bestes, aber allein nimmt er es lieber nicht mit einem Hai auf und er dreht nach ein paar Schwimmzügen um.
Sie bekommen gerade noch mit, wie der Hai auf die Eisstadt zusteuert.
»Verdammt!«, rutscht es Aquina heraus. »Jetzt können wir ihn nicht mehr aufhalten. Was immer er gehört hat, wird er brühwarm Exena berichten. Und wenn die Gerüchte stimmen, versteht sie jedes Wort aus der Haisprache! Was machen wir denn nun? Wenn ich ohne Erfolgsmeldung komme, macht meine Mutter mich einen Kopf kürzer, weil ich eigentlich gar nicht draußen sein dürfte«, erinnert sich Aquina.
»Snö«, macht Snorri und lässt den Kopf noch tiefer hängen als sie.
Ihr Verdacht von vorhin fällt ihr wieder ein.
»Kennst du den Jungen eigentlich, von dem die Wellen erzählt haben?«, fragt Aquina. Immerhin ist Snorri deutlich länger auf der Welt als sie und hat schon einiges mehr gesehen. Und tatsächlich nickt Snorri eifrig.
»Ein Freund von dir?«
Snorri schiebt einen Arm auf seine und einen zweiten auf Aquinas Brust, dort, wo das Herz schlägt. Ein klitzekleiner Stich trifft Aquina, es gibt also jemanden, den Snorri genauso gerne hat wie sie? Das hat sie nicht erwartet. Wer ist der Junge, für den alle sich so ungewöhnlich benehmen? Aquinas Neugierde ist mehr als geweckt, und sie schwimmt unbewusst weiter auf die Eisstadt zu, in der Hoffnung, dass nicht alle Antworten mit dem Katzenhai auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind.
Wie eine Kuppel aus Eis liegt sie vor ihnen. Ein blaues Leuchten geht von der Stadt aus. Kalt und unnahbar. Die Quellwächter haben eine gigantische Glocke aus Eisblöcken erschaffen, um unwillkommene Eindringlinge abzuwehren. In Aquamaris führen sternförmige Wege in die Stadt, sie zeigen, dass jederzeit Fischschwärme und andere Wasserbesucher willkommen sind. In die Eisstadt gibt es hingegen nur einen einzigen Eingang. Odins wachsames, weises Auge ziert – in Eis gemeißelt – den Torbogen und macht sofort klar, welcher Gott hier verehrt wird. Aquina fröstelt wie immer, wenn sie auf die Stadt zuschwimmt. Sirenen sind nicht gerne gesehen, aber gerade noch geduldet. Trotzdem wird sie auffallen und die Wachen werden sie befragen. Die Verfolgung eines Katzenhais ist ganz sicher nicht die Antwort, die ihr Einlass verschaffen wird. Es gibt eigentlich nur einen halbwegs plausiblen Grund für einen Besuch in der Stadt. »Komm, Snorri, wir versuchen es!«, flüstert Aquina.

»Halt! Was willst du in der Eisstadt, Sirene?« Der Quellwächter ist groß und hager, die langen dunklen Haare im Nacken zusammengebunden, mit seinem mattgrauen Fischschwanz verstellt er Aquina den Weg.
»Ich muss zu Mimir«, behauptet Aquina.
»Das könnte ja jeder dahergeschwommene Meermensch behaupten. Was willst du von unserem Heiler?«
Aquina dreht ihren Arm und hält dem Wächter den Muränenbiss unter die Nase. Obwohl es schon einige Sonnen her ist, ist die Stelle immer noch rot entzündet, und die Zähne haben deutliche Löcher hinterlassen.
»Der kleine Kratzer? Ihr Sirenen haltet wahrlich nichts aus!«, höhnt der Wächter.

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