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»Wohnen kann man hier jedenfalls nicht mehr«, stellt Mats fest. »Schade, es würde mir gefallen!«
Venn schnaubt aufmunternd und tappt behutsam voran, aber er ist schwer und bricht bei jedem zweiten Schritt ein. Nur mühsam kann er seinen Huf befreien.
»Pbr-au-uuu«, schimpft er die Holzlatten an, als ein Splitter ihn in die Fesseln pikst. Auf die nächsthöhere Ebene der Stelzenhäuser kann er unmöglich gelangen. Mats breitet die Arme aus wie ein Seiltänzer und tippt jeden Balken an, bevor er auf ihm balanciert. Er schafft es besser als sein Kelpie, muss aber höllisch aufpassen, nicht abzustürzen. Selten hat es sich so gut angefühlt, zwei Beine zu haben, aufrecht gehen zu können und – im Vergleich zu einem Kelpie – ein Fliegengewicht zu sein.
Venn bleibt stehen. »Eine Hydda ist intakt! Suche sie, ich warte auf dich!«
Mats hält mitten auf seinem Balken inne und dreht sich zu dem Kelpie um. Schon wieder!
»Du redest wirklich mit mir! Nicht nur in meiner Einbildung, sondern richtig echt, oder? Ich weiß nämlich nicht, was eine Hydda ist, und das Wort intakt würde ich selbst in Gedanken nie benutzen.«
»Die Stelzenhäuser werden Hyddas genannt«, erklärt Venn. »Und du hast bisher angenommen, dir meine weisen Ratschläge lediglich auszudenken?«
»Ähm … na ja … bisher irgendwie schon«, räumt Mats ein.
»Und das fandest du wahrscheinlicher, als einen guten Freund zu verstehen?« Venn gibt ein schnaubendes Gelächter von sich.
»Ich dachte eben, du redest bloß in meinem Kopf, weil …«
»… weil wir uns mit dem Herzen verstehen«, vervollständigt Venn und nickt. »Ja, so hat unsere Verständigung vor vielen Monden angefangen. So haben wir gegenseitig unsere Sprachen gelernt, und du verstehst, was alle Meermenschen um dich herum für wiehernde Laute halten.«
»Ich bin der Einzige, der dich versteht?«
»So ist es, ich kenne niemanden, der je die Kelpsprache erlernt hat.«
»Auch mein Vater nicht?«
»Falor erahnte vieles, aber wir konnten nicht miteinander sprechen.«
»Und Exena?«
»Pah, sie am wenigsten! Fällt es dir so schwer zu glauben, dass du etwas Besonderes kannst?«
Mats lässt niedergeschlagen den Kopf hängen. »Frag mal Usgur und die anderen Quellwächter, die halten mich alle für einen Totalausfall!«
»Solange du dich nicht selbst für einen hältst!«
»Manchmal schon«, gibt Mats zu. »Ich bekomme keinen Eiszauber hin und singen kann ich noch weniger.«
»Du siehst doch, wozu die Fähigkeiten der Quellwächter und Sirenen dienen, sie bewachen eine Insel. Nur weil du nicht kannst, was alle können, heißt das nicht, dass deine Aufgabe weniger wichtig sein wird.«
»Du bist wirklich ein wunderbarer Freund.« Mats hüpft vor Glück auf und ab und der Balken unter ihm fängt gefährlich an zu knacksen.
»Das Kompliment gebe ich gerne zurück! Aber jetzt gehst du besser und suchst nach der Hydda deiner Mutter. Wenn es dunkel wird, sollten wir nicht mehr hier sein.«
Kurz zögert Mats, er hätte noch zig Fragen, jetzt, da er weiß, dass Venn ihn versteht. Andererseits können sie später immer noch reden, sich unbemerkt aus der Eisstadt schleichen und sich hier in aller Ruhe umsehen, kann er wahrscheinlich so schnell nicht wieder.
Also fragt Mats nur: »Hast du eine Ahnung, wo ich suchen soll?«
Venn schüttelt die Mähne. »Ich weiß nur, dass deine Mutter in einem der Stelzenhäuser lebte und ich von dort, wo ich jetzt stehe, laut wieherte, um sie zu deinem Vater ins Wasser zu rufen.«
Mats muss unwillkürlich lachen. »Wie ein Telefon auf vier Beinen.«
»Ein WAS, bitte?«
»Nicht so wichtig, bloß menschlicher Technikkram. Ich mach mich jetzt auf die Socken«, und weil er Venns nächste Rückfrage vorausahnt, schiebt er rasch hinterher, »… also, auf die Suche.«
Er setzt seinen Balanceakt fort. Jetzt nur nicht nach unten schauen.
»Wenigstens habe ich keine Höhenangst«, murmelt Mats.
Wie sind die Wikinger früher nach oben gelangt? Wahrscheinlich standen damals noch Holztreppen oder sie benutzten Strickleitern. Nicht gerade eine bequeme Art, ins eigene Zuhause zu kommen, dafür blieben auch bei Sturm und Wellengang ihre Füße trocken, und sie waren vor gefährlichem Getier geschützt. Überhaupt erinnern Mats die Behausungen an eine Mischung aus den sonst fensterlosen Langhäusern der Wikinger und ihren schnittigen Holzschiffen, mit denen sie die Weltmeere beherrschten. Als ob sich Viken Rangnak, der Anführer, und sein Clan auch an Land nicht ganz vom Seefahrerleben verabschieden wollten.
Mats lässt den Blick durch das erste Haus schweifen und versucht, sich die Wikingerabteilung im Museum Krønasår ins Gedächtnis zu rufen. Früher war es bestimmt sehr gemütlich hier, doch von der Einrichtung ist jetzt nicht mehr viel übrig. Ein windschiefes Holzgestell in der Ecke könnte ein Bett oder eine Sitzbank gewesen sein. Mit einem Fell oder einer Matte hat der ehemalige Bewohner es vielleicht sogar für beides genutzt. An dem Platz in der Mitte, an dem üblicherweise die Feuerstelle war, klafft ein tiefes Loch und erinnert Mats daran, sich weiterhin sehr vorsichtig über die morschen Böden zu bewegen.
In der nächsten Hütte erwartet ihn nahezu derselbe Zustand, allerdings ist die Kochstelle noch verkohlt erkennbar, dafür sind Teile des Dachstuhls eingestürzt. Mats muss die Balken erst zur Seite zerren, um überhaupt weitergehen zu können. Und überall häufen sich Schilfblätter, Gras und Stroh. Wenn er sich jede Hydda so genau anschaut, wird er frühestens in einer Woche alle besichtigt haben. Zu dumm, dass Venn ihm nicht genau beschreiben konnte, wo seine Mam gewohnt hat.
Mit jedem weiteren Haus werden die Schatten länger, das ist Mats bewusst, immerhin ist er erst spät nach Mittag von dem Festessen aufgebrochen. Trotzdem will er den goldroten Schein der untergehenden Sonne nicht wahrhaben. Nur noch ein Haus, das nächste muss es doch sein. Oder das übernächste …
Er will nicht aufgeben, gerade nach der Pleite beim Rennen wünscht er sich sehnlich einen Hinweis auf seine Mutter. Besonders, weil er Finja seinen Fund präsentieren könnte, nachdem sie sich seelenruhig mit Seespargel vollgestopft hat. Vielleicht interessiert sie sich dann wieder mehr für ihn – und für die gemeinsame Suche nach ihrer Vergangenheit. Ursprünglich hat sie ihn in der Menschenwelt aufgestöbert, wollte alles über ihre Eltern herausfinden und war sogar bereit, Rulantica für immer zu verlassen. Und jetzt? Seit sogar Exena sie für die auserwählte Retterin Rulanticas hält und sie zur Quellwächterin ausbildet, hat Finja nichts anderes mehr im Sinn. Ihr fällt nicht einmal auf, dass Exena ihm nichts zutraut, obwohl sie doch Zwillinge sind und beide eine Hälfte von Friggs Amulett besitzen. Diese Gedanken lassen Mats noch eifriger weiter- und weitersuchen.

»Mrk, mrrrk!«
Zu spät fällt Mats auf, wie sich der Himmel komplett verdunkelt. Ganz ohne Übergang zur Dämmerung. Er hebt erst den Kopf, als das Kreischen unerträglich laut wird.
»MRK, MRRK, MRRRRKK!«
Mats zuckt zusammen, über dem Loch im Dach der Hydda kreisen mehrere Vögel. Tiefschwarz glänzt ihr Gefieder. Mit ausgebreiteten Flügeln ist jeder einzelne von ihnen größer als Mats, er schätzt eine Spannbreite von zwei bis drei Metern. Und als ob das nicht genügen würde, hat jeder Riesenvogel zwei Schnäbel, der eine gefährlich spitz und dünn wie ein Dolch, der andere größer, kräftig und nach unten gebogen. In schrillem Gelb leuchten sie an den schwarzen Köpfen.
Wie konnte er sie vergessen: die schwarzen Mauks! Finja hat ihn gewarnt, sogar Snorri hat Angst vor ihnen, sie kennen weder Freunde noch Gnade. Und damit nicht genug, was er für zufällige Ansammlungen von Schilf und Stroh gehalten hat, sind in Wahrheit ihre Nester. Rangnakor ist längst nicht mehr die Stadt der Wikinger, sondern der Riesenvögel! In dem Schilfhaufen direkt neben Mats liegt außerdem ein dunkler Brocken. Bei genauerem Hinsehen entpuppt er sich als großes schwarzes Ei – oh, oh: Er steht mitten in einem Brutplatz – das sieht nicht gut für ihn aus! Die Mauks müssen ihn nicht nur für einen Eindringling halten, sondern für einen Dieb, der ihrem Nachwuchs an die Eierschale will.
Er hat den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als der erste Mauk bereits zum Sturzflug ansetzt. Mats springt zur Seite, trotzdem trifft der spitze Schnabel ihn an der linken Schulter und das krumme Ende des zweiten Schnabels ritzt seine Haut auf.
»A-aa!«, brüllt Mats.
Da spürt er bereits den nächsten Stich im Rücken.
»Mrrk!« Mit einem triumphierenden Schrei trägt sein Gegner einen Fetzen seines Pullis davon.
Mats geht in die Knie und schnappt sich den nächstliegenden Balken, er schwingt ihn über dem Kopf wie einen Propeller. Einen seiner Angreifer erwischt er am Flügel und drängt ihn ab, doch sofort rückt der nächste Mauk auf und stößt in die Tiefe. Mats spürt den Schmerz am Oberschenkel, in seiner Hose klafft ein Loch. Sein Gegenangriff bringt überhaupt nichts, dafür sind es zu viele und ständig drängen mehr Mauks von draußen nach. Er muss sich irgendwie schützen, um nicht als Schweizer Käse mit tausend Löchern zu enden. Hektisch schaut er sich um. Ob er es bis zu der Bank dort drüben schaffen kann?
Mats kugelt sich zusammen und rollt, so schnell er kann, über den Boden. Es kracht und knackt bedenklich unter ihm, ein Flügel streift seinen Arm, ein Schnabel schlägt direkt neben seinem Kopf ein.
»MRRK, MRRRRKKKK, MRRRRRRKKKKKK!«
Wütend, weil sie ihn nicht voll erwischen, aber umso angriffswilliger formieren die Mauks sich neu. Mats nutzt die Gelegenheit und verschanzt sich unter der Bank und nimmt noch ein Holzscheit zur Verteidigung mit. Wirklich sicher ist er hier nicht, aber er bietet weniger Angriffsfläche als vorher, vor allem sind die Mauks zu groß, um zu ihm unter die Bank zu kriechen. Der nächste Mauk fliegt heran, hackt aber lediglich ins Holz. Doch schon lassen sich zwei weitere Riesen direkt über ihm auf der Sitzfläche nieder und fangen an zu picken. Jede Holzfaser, die sie herauszupfen, macht Mats eines bewusst: Er sitzt in der Falle! Denn auch von der unteren schmalen Seite watschelt einer der Vögel heran und krallt durch die Ritze.
Mats muss immer wieder die Füße wegziehen, damit die scharfen Krallen ihm nicht die Sohlen aufschlitzen. An seinem Kopfende ein ähnliches Spiel, ein Mauk äugt abwechselnd durch die Balken, und sobald er Mats sieht, schiebt er den Schnabel in seine Richtung. Von allen Seiten wird Mats bedroht – er krümmt sich so klein zusammen wie möglich und kann den Angreifern doch nicht komplett ausweichen. Hätte er bloß auf Venn gehört und wäre bei Tageslicht aus der Stadt verschwunden! Venn! Der könnte ihn retten. Soll er nach ihm rufen? Besser nicht, Venn würde es nicht schaffen, zu ihm hochzuklettern, und bei dem Versuch womöglich abstürzen. Mats könnte es sich nie verzeihen, den einzigen Freund zu gefährden, den er je hatte.
Andere Auswege sind allerdings nicht in Sicht, im Gegenteil, einem Mauk über ihm gelingt es, ein großes Holzstück aus der Bank zu meißeln, sein Schnabel pickt durch das Loch und zwickt Mats auf Brusthöhe, nicht tief genug, um ihn zu verwunden, aber er erwischt das Band, an dem seine Amuletthälfte hängt.
»Nein, nein, das bekommst du nicht, du Biest«, ruft er verzweifelt und versucht noch, das Band festzuhalten. Zu spät, samt Anhänger baumelt es im Schnabel seines Angreifers.

»Mrrrrr-KKK«, triumphiert der Vogel. Seine Freunde hören für einen Moment sogar auf, Mats weiter zu belagern, um sich die Beute anzusehen. Die Pause reicht lediglich für ein kurzes Durchatmen, seine Lage ist aussichtslos, früher oder später werden sie seinen Schutzwall weggepickt haben und dann gnade ihm Frigg.
»MRK!«
Das aufgeregte Kreischen verstummt wie auf Knopfdruck. Mats späht durch die Ritzen. Alle Mauks scheinen in dieselbe Richtung nach oben zu blicken, doch er kann nicht erkennen, was sie sehen. Das Schlagen von Flügeln kündigt einen weiteren Vogel an, dann biegen sich die Balken über Mats, als der Neuankömmling auf der Bank landet. Eine Klaue, die um einiges ausladender ist als die der anderen Mauks, gräbt sich in das Loch über Mats’ Brust, mehr kann er immer noch nicht sehen. Trotzdem vermutet Mats den Anführer der Mauks über sich, warum sonst sollten sie so ruhig sein. Wenn er recht hat, wird dieser Riesenvogel über sein weiteres Schicksal entscheiden, ihn seiner Meute endgültig zum Fraß vorwerfen oder ihn sich selbst zum Abendessen einverleiben. Einwenden kann er dagegen kaum etwas, sie werden nicht auf ihn hören, aber er muss es wenigstens versuchen.
»Ich wollte euch nichts tun! Auch keines eurer Eier stehlen.«
Was treibt er da? Wie kommt er darauf, mit ihnen reden zu können? Außer Kreischen hat er nichts von ihnen verstanden, warum sollte das umgekehrt anders sein? Die Tatsache, dass er plötzlich mit Venn sprechen kann, muss ihn total verwirrt haben! Mats zieht die Beine enger an den Körper, faltet die Hände über dem Kopf und stellt sich auf die finale Attacke ein. Wie erwartet legen die Mauks wieder los. Mrk hier, Mrk dort und alle hacken auf die Bank über ihm ein.
Finja
Finja fischt mit den Fingern noch ein paar Seespargelstängel aus der großen Kalkschale. Einen davon hält sie hoch und sofort ist Snorri bei ihr.
»Smm!«, schmatzt er und stibitzt sich mit seinen sechs Fangarmen abwechselnd die besten Happen, sobald ein Meermensch seinen Muschelteller unbeaufsichtigt lässt. Soll er! Heute ist ein Festtag, auch für den kleinen Sixtopus! Finja lächelt hinüber zu Kailani und Bror, ihrem Ziehvater, der inzwischen ebenfalls als Gast an der Ehrentafel Platz nehmen durfte. Es ist wunderbar, wieder einmal einen ganzen Tag mit allen zu verbringen! Ein perfekter Odins-Dank-Tag. Na ja, fast perfekt. Bis auf die Sache mit dem verpassten Sieg. Wie konnte Exena ihrem Bruder das antun? Er war eindeutig als Erster im Ziel. Immer, wenn Finja glaubt, einigermaßen mit der Anführerin der Quellwächter klarzukommen, passiert wieder so was Dummes. Sie legt es darauf an, von allen gehasst zu werden! Obwohl – heute hat sie denjenigen zum Sieger gekürt, den die allermeisten in der Eisstadt feiern wollten.
Finja schämt sich, weil sie so denkt, aber Mats ist nicht sonderlich beliebt in der Unterwasserwelt. Also zumindest nicht bei den Jungwächtern, mit denen sie ihre Ausbildung absolvieren. Woran das wohl liegt? Sie kommt doch auch mit den meisten klar. Mit Ilai kann sie sich prima im Zweikampf messen, Xizir und sie geben sich gegenseitig Tipps in Wasser- und Eismagie, und Timur rechnet sie immer noch hoch an, dass er sie damals, kurz bevor sie Rulantica verlassen hat, sogar vor Usgur in Schutz genommen hat. Trotzdem vermisst sie Aquamaris. Manchmal ist ihr die Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet, zu groß. Dann wünscht sie sich, einfach wieder Aquina, die Sirene, zu sein, die in den Tag hineinleben durfte. Gleichzeitig ist es ein geniales Gefühl, dass Mama Kailani und sogar Exena ihr zutrauen, eines Tages Rulantica von dem Fluch zu befreien. Zusammen mit Mats – obwohl sich Finja nicht sicher ist, was Exena ihrem Bruder zutraut, erst recht nicht nach dem Rennen heute. Wäre das schön, wenn sie eines Tages völlig frei wären! Sie könnte mit Mats abwechselnd in seiner Stadt und in Aquamaris leben oder die ganze Welt bereisen …
»Jade und Orchid haben sich nach dir erkundigt«, platzt Bror in Finjas Grübelei.
»Wie geht es ihnen?«, erkundigt sich Finja sofort.
»Gut«, sagt Bror. »Jade war neulich sogar besser als Larima beim Skjol.«
Das versetzt Finja einen Stich. »Oh, da wäre ich gerne dabei gewesen. Larima war bestimmt blass und giftig wie Krötenschleim.«
»Finja!«, tadelt Kailani, allerdings in ausgesprochen mildem Ton. »Schadenfreude steht dir nicht!«
»Das war nicht gegen Larima gemeint, ich freue mich nur für Jade«, verteidigt sich Finja. »Weil ich sie und die anderen vermisse, versteht ihr? Nicht so sehr wie euch, aber auch ziemlich«, fügt sie schnell hinzu.
»Natürlich verstehen wir das!«, schaltet sich Bror wieder ein. »Es geht uns doch nicht anders!«
Kailani nickt. »Ich werde nachher mit Exena sprechen. Sie muss dich einfach öfter zu uns nach Aquamaris lassen. Ihre Disziplinmaßnahmen hin oder her, aber du gehörst eben genauso zu uns wie zu den Quellwächtern. Zu einer besonderen Stellung gehört auch ein besonderes Maß an Freiraum!«
»Und Mats?«, rutscht es Finja heraus.
Kailani blinzelt irritiert. »Der darf selbstverständlich mitkommen, er ist im Muschelpalast genauso willkommen wie du, das weißt du doch!«
»Das meine ich gar nicht«, sagt Finja. »Für ihn hast du dich vorhin nicht eingesetzt, als Exena ihm den Sieg weggenommen hat.«
»Das ist etwas ganz anderes!«, sagt Kailani. »Ich würde es auch nicht dulden, wenn Exena sich in meine Angelegenheiten in Aquamaris einmischt. Umgekehrt muss ich in ihrem Reich ihre Entscheidungen akzeptieren. So haben wir es vor vielen Jahren vereinbart.«
»Außer, wenn sie mir nicht erlaubt, euch zu besuchen. Damit stellst du ihre Regeln doch genauso infrage!«, beharrt Finja. Sie nimmt in Kauf, Kailani durch ihre Hartnäckigkeit zu vergrollen. Sosehr sie sich die Lockerung des Ausgangsverbots wünscht, so wenig kann sie Mats verletzten Gesichtsausdruck vergessen. Er ist schließlich ihr Zwilling. Sie kann fühlen, was er fühlt, selbst wenn sie leider immer häufiger anders empfindet als er. Klingt verwirrend und das ist es auch. In der fremden Menschenwelt war sie ihm viel näher als hier, obwohl es in der Unterwasserwelt viel, viel schöner ist. Sie nimmt Mats überallhin mit, aber er sagt wenig bis gar nichts. Ist das vielleicht der Grund, warum außer ihr noch niemand erkannt hat, wie liebenswert er ist? Ob es heute anders gelaufen wäre, wenn außer ihr noch jemand gegen Exenas Entscheidung protestiert hätte?
Aber sie kann nicht mehr für ihn tun, wenn nicht einmal Kailani es wagt.
»Ach, Aquina«, seufzt Kailani.
»Finja«, korrigiert Bror sanft und seufzt ebenfalls.
Finja betrachtet die beiden, von denen sie so lange dachte, dass sie ihre Eltern sind. Niemand spricht es aus, aber genau das ist der Unterschied zwischen ihr und Mats: diese zwölf Aquina-Jahre.
Jetzt seufzt auch Finja.
In diesem Moment beugt Snorri sich kopfüber in die Kalkschale, um die letzten Spargelspitzen zu erwischen. Als er den Kopf zurückzieht, sitzt die Schale fest auf seinem Kopf. Das scheint ihn weniger zu stören als Exena, die zornig versucht, ihm die Schüssel abzujagen.
»Das kann sie vergessen«, lacht Kailani, sichtlich erleichtert über die Ablenkung. »Snorri hat schon früher gerne alles Mögliche auf den Kopf gesetzt, deshalb haben wir ihm irgendwann einen Helm überlassen. Das wird nicht einmal Exena ihm abgewöhnen können!«
»Ich werfe den frechen Sixtopus aus meiner Stadt!«, brüllt Exena am Kopfende der Tafel, wobei selbst Usgurs Mundwinkel verdächtig zucken.
Nur Finja fühlt mit einem Mal einen dumpfen Schmerz in Brust und Magen. Was ist los? So viel hat sie nun auch wieder nicht gegessen … Nein, irgendetwas stimmt nicht! Hektisch blickt sie sich um. Wo steckt Mats eigentlich?

GRÅ

»MRK!«
Stille.
»Mrk, ein Mensch. Mit zwei Beinen. Seit Jahrren hat sich keinerr zu uns verirrrt!«
Ungläubig lauscht Mats den Worten. Das bildet er sich doch bloß ein. Diesmal ist es ganz bestimmt nur eine Stimme in seinem Kopf. Vorsichtshalber fragt er nach.
»Wieso kannst du meine Sprache?«
Die Antwort ist eine Gegenfrage: »Mrk, woherr hast du das Amulett?«
Das ist eine längere Geschichte, denkt Mats. Da er nicht sicher ist, ob der Mauk ihm so lange bereitwillig zuhört, selbst wenn er sich das alles nicht nur einbildet, entschließt er sich zur Kurzfassung.
»Von meiner Mutter.«
Die Balken über ihm fangen gefährlich an zu wippen, offensichtlich ausgelöst durch den auf und ab hüpfenden Riesenvogel.
»Mrk, werr ist deine Mutterr?«
»War«, sagt Mats mit belegter Stimme. »Vivika Stenrokk.«
»Mrk, bedauerrlich!«
Jetzt ist es an Mats, unter der Bank zu zappeln.
»Du, du kanntest sie?«
»Mrk, könnte sein!«
»Ich leider nicht«, rutscht es Mats heraus.
»MRK!«
Die Bank knarrt und die Balken drücken sich auf Mats’ Brustkorb.
»MRRRK!«
»Was sagst du?«
»Mrk, das warr nicht für dich bestimmt, sondern für meine Scharr. Sie forderrn deinen Tod.«
»Nein, bitte, ich wollte wirklich nicht …«
»MRK – still, Mensch! Das entscheide ich! Jetzt komm rraus, damit ich dich sehen kann!«
Alles in Mats sträubt sich. Wieso sollte er freiwillig den einzigen Ort verlassen, der ihm etwas Schutz gibt?
Rums, der spitze Schnabel dringt nur wenige Zentimeter neben seinem Kopf in das Holz ein, als wäre es nicht viel mehr als Schaumstoff.
»MRRK! Du hast keine Wahl!«
Der Angstschweiß rinnt Mats in Sturzbächen von der Stirn. Egal, was er tut, er ist den Vögeln ausgeliefert. Die spitzen Schnäbel müssen nur einmal zustechen. Aber auf Dauer ist sein Platz unter der Bank sowieso nicht sicher, er kann sich genauso gut gleich stellen. Und immerhin kannte der Mauk seine Mam, was auch immer das bedeutet.
Mats streckt vorsichtig die Gliedmaßen aus. Wie hat er es jemals durch den schmalen Spalt unter die Bank geschafft? Oder ist er in der letzten Viertelstunde dicker geworden? Mit Ach und Krach und einigen Abschürfungen kriecht er unter der Bank hervor. Erschöpft bleibt er auf dem Rücken liegen und schielt nach oben. Über ihm auf der Bank thront ein gigantischer Vogel, er überragt die anderen um Längen, aber vor allem sind seine Federn nicht schwarz, sondern grau, als wären sie im Lauf der Jahre ausgeblichen. Auch seine Schnäbel leuchten kaum mehr, sondern sind schmutzig gelb mit einigen Scharten von den Kämpfen, die er damit zweifelsohne gefochten und gewonnen hat. Denn egal wie alt dieser Mauk auch sein mag, seine aufrechte Haltung und sein alles durchdringender Blick lassen keinen Zweifel daran, dass er immer noch der stärkste und klügste seiner Schar ist. Der wahre König der Insel Rulantica. Und er, Mats, liegt hier vor ihm auf dem Rücken wie ein hilfloser Käfer.
Der Vogel beugt sich über ihn, die beiden Schnäbel kommen seinem Gesicht verflixt nahe. Erst jetzt fallen Mats die stechenden Augen auf, die von gelben Federn umrandet werden wie von einer Maske. Das betont ihren starren Raubvogelblick, unter dem sich Mats kleiner als eine Maus vorkommt. Er wagt es nicht, auch nur zu blinzeln. Der Halsflaum des Mauks plustert sich auf, er bläst ein wenig Luft durch seinen krummen Schnabel und pustet damit Mats’ rote Haarsträhnen aus seiner Stirn.
»Mrk, gut fürr dich, du siehst ihrr ähnlich! Auch wenn du dich seit unserrerr letzten Begegnung sehrr verränderrt hast.«
Der graue Mauk hüpft zurück, um Mats von oben bis unten zu begutachten. Bisher haben die anderen Mauks sich das Spektakel einigermaßen ruhig angesehen, in einem dichten Ring um Mats und die Bank herum. Doch kaum rückt der große Graue etwas von Mats ab, schiebt sich ein schwarzer Vogel an ihn heran, pickt ihn an der Fußsohle und setzt an, ihn aufzuspießen.

»Auaa!«, schreit Mats.
Flap, flap – Mats hört die Flügelschläge mehr, als er sie sieht, aber vor allem spürt er die Bewegung in der Luft. Sie fährt ihm unter die Haare, unter den Rücken und hebt ihn an.
Flap, flap – der schwarze Mauk an seinem Fußende schlägt ebenfalls mit den Flügeln. Mats schwebt einen Meter über dem Boden und kann nichts dagegen unternehmen, er wird zwischen den beiden Raubvögeln hin- und hergezerrt wie ein Spielzeug.