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Meine Töchter sind 1982 und 1984 geboren. So um 1988/89, meine ältere Tochter ging schon zur Schule, stellten wir fest, dass es nur noch ein paar Lehrer gab, die wirklich Haltung zeigten in diesen mittlerweile aufregenden und von großer Unzufriedenheit und dem Wunsch nach Glasnost und Perestroika in der DDR geprägten Vorwendetagen. Da bekam ich Lust, wieder als Lehrer einzusteigen. Also schrieb ich im Sommer 1989 eine Bewerbung. Aus Zeitgründen schickte ich sie erst während unserer Urlaubsreise in Prag ab. Wir waren auf dem Weg nach Ungarn, wohin viele in diesem Sommer fuhren, um in den Westen zu gehen. Viele unserer Bekannten hatten uns abgeschrieben. Wir wollten jedoch nicht abhauen. Nach meiner Rückkehr war der Termin zu einem Vorstellungsgespräch längst verstrichen. Ich ging hin und man erklärte mir, unter welchen Bedingungen ich als Lehrer anfangen könnte: Erstens müsste ich mein Äußeres dem einer sozialistischen Lehrerpersönlichkeit angleichen, zweitens sollte ich ein klares Bekenntnis zu den Beschlüssen des gerade stattgefundenen IX. Pädagogischen Kongresses der DDR erklären, in dem Margot Honecker u.a. das Ziel festlegte, die Jugend müsse notfalls mit der Waffe in der Hand den Sozialismus verteidigen. Drittens müsse mir klar sein, dass ich wegen der drei Jahre Abstinenz vom Schuldienst Fortbildungen besuchen müsse und keine Zeit mehr für Kulturarbeit hätte, und viertens hätte ich kein Wunschrecht für die Einsatzschule. Meine Antwort: »Wir können über alles reden, aber die Schule möchte ich selbst bestimmen.« So wurde aus dem Neuanfang erst mal nichts.
In dieser Zeit trafen sich das erste Mal ein Dutzend Leute konspirativ in N. in einer Tischlerwerkstatt, um zu beraten, welchen Beitrag wir zu Veränderungen in der DDR leisten könnten. Wir organisierten gemeinsam mit Leuten von der evangelischen Kirche erste Montagsgebete mit anschließenden Demonstrationen. Ausgangspunkt war immer die Klosterkirche. Als DJ begleitete ich mit meiner Tontechnik fast alle diese Demonstrationen. So holten wir quasi das Neue Forum* nach N. Eine Reihe ganz profaner logistischer Probleme waren dabei zu überwinden. Die Mitgliederlisten mussten zum Beispiel von Bärbel Bohley aus Berlin geholt werden. In diese Listen mussten sich während des Montagsgebets bis zu 400 Menschen eintragen. Jeder fühlte sich danach zum Neuen Forum* und damit zur Opposition zugehörig.
Anfang 1990 wurde ich angesprochen, ob ich für die ersten freien Kommunalwahlen kandidieren würde. Ich war erst einmal überrascht, denn so weit hatten wir anfangs noch gar nicht gedacht. Letztlich bekamen wir unsere Wahllisten voll, um für das Neue Forum* zu kandidieren. Ich hatte nicht ansatzweise damit gerechnet, dass ich gewählt werden würde. Jedoch erreichte ich ein ziemlich gutes Wahlergebnis. Ich wurde als Mitglied des Kreistages und meine Frau zur gleichen Zeit in die Stadtverordnetenversammlung gewählt. Wir hatten unglaubliche Stapel Akten durchzuarbeiten. Es galt, das gesamte DDR-Verwaltungssystem in das bundesrepublikanische zu überführen und gleichzeitig aktuelle Kommunalpolitik zu machen. Das Verrückte war, dass ich mir damals nur vorstellen konnte, eine Wahlperiode im Kreistag zu sitzen. Danach sollten andere ran. Heute bin ich nach der siebenten Wahlperiode immer noch im Kreistag. Anfangs wollten wir als 89er in keine Partei, sondern unbedingt eine Bürgerbewegung bleiben. Das konnten wir nicht lange durchzuhalten, weil wir ein ganz großes Problem in unserer Region hatten, das in meinen Augen nicht allein mit Bürgerinitiativen zu lösen war. Es ging um den Luft-Boden-Schießplatz in der Kyritz-Ruppiner Heide. Seit 1945 wurde das Gelände von der Roten Armee expandierend genutzt. 1989/90 war es über 144 Quadratkilometer groß. Das Problem war, dass nach dem Abzug der russischen Armee sowohl die Bundeswehr als auch die 14 Anliegergemeinden Interesse an diesem Gelände hatten. Die Anwohner hatten nach 45 Jahren ›Krieg üben‹ vor der Haustür die Nase von donnernden Düsenjets und explodierenden Bomben gestrichen voll. Es lagen Ideen für die Nutzung zum Beispiel als Kiesgruben, für die Landwirtschaft oder den Naturschutz vor. Dem stand die Bundeswehr gegenüber, die die Heide wie bisher nutzen wollte. So formierte sich eine einzigartige ständig wachsende Bürgerinitiative, die Freie Heide. Nach 17 Jahren Kampf für eine nichtmilitärische Nutzung der Region verzichtete der damalige Verteidigungsminister letztlich auf die Pläne des Bundes. Nicht nur wegen des Ergebnisses, sondern auch wegen der vielen fantasievollen gewaltfreien Aktionen war das absolut außergewöhnlich. Die Auseinandersetzungen wurden mit diversen Verteidigungsministern geführt. Dazu bedurfte es einer Partei, die im Bundestag vertreten war. Für mich kam nur eine Partei dafür infrage, die Grünen. Wir haben mit der Freien Heide wirklich was geschafft. Und das auf drei Ebenen: Auf der einen Seite nutzten wir natürlich die Straße mit Demonstrationen und Kundgebungen. Es war imposant, dass anfangs jeden Monat vielleicht 200 bis 300 Leute demonstrierten, was auf Dauer nicht durchzuhalten war. Es gab eine ganze Reihe von Aktionen zivilen Ungehorsams. Um nur eine zu erwähnen: Wir errichteten in einer Nacht- und Nebelaktion mitten auf dem Bundeswehrgelände eine Gedenkstätte für die Opfer der letzten Kriegstage. Hier kreuzten sich nämlich die Wege von versprengten Wehrmachtseinheiten, Flüchtlingen aus den Ostgebieten und ehemaligen KZ-lern. Mitstreiter unserer Bürgerinitiative berichteten, dass sie in den letzten Kriegstagen als 15-Jährige gezwungen wurden, dort Leichen zu verscharren. Neben der Straße war das Parlament eine wichtige zweite Säule unseres Protestes. Über alle Parteien hinweg haben wir es erreicht, dass sich der Bundestag damit beschäftigte, ob die militärische Nutzung gegen sämtliche Anliegergemeinden, Kreistage bis zum Land Mecklenburg-Vorpommern durchgesetzt werden konnte. Die dritte Schiene war die juristische. Wir hatten Unterstützung durch die besten Rechtsanwälte in der Bundesrepublik, die u.a. gegen das Atomkraftwerk Wyhl in den 1970er Jahren erfolgreich geklagt hatten. Von über fünfzehn Prozessen haben wir fast alle uneingeschränkt gewonnen. Die Bundeswehr mit ihrer Sonderstellung in diesem Land hatte bis dahin bei solchen Auseinandersetzungen immer Recht bekommen. Dementsprechend überheblich traten deren Rechtsanwälte vor Gericht auf und wurden immer wieder in die Schranken verwiesen.
Zum absoluten Höhepunkt entwickelten sich unsere Ostermärsche. Beim letzten bestand für mich die Herausforderung, mit meiner Diskotechnik 15.000 Menschen zu beschallen. Wir hatten Teilnehmer aus dem ganzen Bundesgebiet, internationale Presse, bis zur japanischen. Mich beeindruckte am meisten, dass wir so viele Engagierte mit unterschiedlichsten Motiven zusammenbrachten. Dabei waren Anwohner, die 40 Jahre lang russische Tiefflieger und Bombenabwürfe ertragen mussten, Leute, die 1947 unter vorgehaltener Kalaschnikow gezwungen wurden, ihr Land zu verkaufen, Bildungsbürger, Autonome, Pazifisten, Vertreter von Parteien und Kirchen – alle gewaltfrei und fantasievoll, für mich eine unbeschreibliche menschliche Bereicherung, die ich da erleben durfte.
Zurück zur Schule. Als in der Wendezeit in N. die ersten verordneten Dialogveranstaltungen stattfanden, auf denen Verantwortungsträger mit dem Volk reden sollten, klagte ein Vertreter des Schulamtes, dass es wegen der in den Westen gegangenen Lehrer kaum noch möglich wäre, den Unterricht abzusichern. Als ich an meine Bewerbung vom Sommer erinnerte und fragte, wann ich anfangen könne, meinte er: »Am besten vorgestern.« So habe ich am 1. Dezember 1989 wieder im Schuldienst begonnen. Das war die Zeit dramatischer Entwicklungen bei Jugendlichen, aber auch bei Eltern. Man musste genau beobachten, was da eigentlich passierte. Ich habe als ziemlich unbelasteter Lehrer Geschichte und Gesellschaftskunde, heute Politische Bildung, unterrichtet. Wegen Spannungen mit meinem Schulleiter wechselte ich von der Gesamtschule in eine Förderschule. Berufsbegleitend studierte ich Sonderpädagogik an der Potsdamer Uni, was mich noch einmal in eine völlig andere pädagogische Richtung brachte. Ich bin 17 Jahre an der Schule geblieben, überwarf mich dann doch mit der Schulleitung und dem Kollegium, weil ich wirklich von der Inklusion überzeugt bin. So ging ich an eine Regelschule zurück, brachte mich als Sonderpädagoge ein, um vor allem Kinder mit Schwierigkeiten zu fördern. Meine Aufgabe ist es, den Förderbedarf der Kinder zu diagnostizieren und zu versuchen, ihnen so zu helfen, dass sie in ihrer Regelschule bleiben können, auch wenn sie, mit dem altmodischen Begriff bezeichnet, ›lernbehindert‹ sind. Das ist eine Herausforderung. Aber nach meinen Erfahrungen wird durch das Ausgliedern in andere Schulformen ihr möglicher Lebensweg verbaut. Die Schüler verlieren ihren Bezug zu anderen, zur Realität, schmoren im eigenen Saft mit irgendwelchen scheinbar Gleichgesinnten. Besser ist gemeinsames Lernen. Und das sollte bereits im Kindergarten beginnen. Ich bin überzeugt, dass es gelingt, wenn an den Regelschulen mehr sonderpädagogische Kompetenz aufgebaut wird. Ich habe damit eine Reihe von Erfolgen erreicht. Einer der als lernbehindert Diagnostizierten hat sogar nicht nur einen Hauptschulabschluss, sondern einen Realschulabschluss geschafft.
Ich selbst bin Vater von mittlerweile zwei erwachsenen Kindern und bereits vierfacher Großvater. Das älteste Enkelkind ist elf Jahre alt, ein tolles Gefühl. Mit Stolz schaue ich auf die Entwicklung der beiden Töchter. Eine ist selbst Lehrerin geworden. Die andere hat ihr Hobby zum Beruf gemacht. Sie ist Konditorin und Konditormeisterin geworden und war danach ein Jahr in Australien. Beide haben gute, kreative Jobs und sind glücklich, beide sind gute Mütter, einfach toll. Eine Tochter hat sich von ihrem Mann getrennt und lebt nun in einer Partnerschaft mit dem neuen Mann sehr harmonisch, auch mit den Kindern. Neudeutsch sagt man Patchwork dazu, denn er hat eine eigene Tochter. Meine zweite Tochter ist mit ihrem Mann, den sie als Konditorin im Bundestag kennengelernt hatte, verheiratet und hat vor kurzem ihr zweites Kind bekommen.
Das Familienleben war in den vielen Jahren eine echte Herausforderung für uns alle. Wenn man wie ich als Ehrenamtlicher auf so vielen verschiedenen Hochzeiten tanzt, als Abgeordneter, bei der Freien Heide oder im Freizeitzentrum im Jugendclub, gelangt die Familie zuweilen ins Hintertreffen. Hinzukam, dass ich nach wie vor seit meiner eigenen Schulzeit bei allen möglichen Veranstaltungen, Familienfeiern und Dorffesten Musik auflegte und moderierte. Und das fast jedes Wochenende, bis heute. Inhaltlich, politisch, von unseren Zielen her haben meine Frau und ich uns allerdings immer wieder an der Sache orientiert und sind im Gleichklang gewesen, haben die anstehenden Aufgaben gemeinsam bewältigt. Ich weiß allerdings auch, dass ich das alles nur leisten konnte, weil mir letztlich die Familie den Rücken freigehalten hat. Wir haben unser Familienleben gemeinsam organisiert. Einige Lasten nahmen uns meine Mutter, die bei uns im Haus lebte, und meine Schwiegereltern ab. Trotzdem, denke ich, haben wir das gemeinsam ganz gut hinbekommen. Im Nachhinein muss man sagen, dass das mit einer großen Belastung für meine Frau verbunden war. Sie war als Buchhalterin berufstätig. Zeitweilig hat sie ihre Arbeitsstunden auf sechs Stunden reduziert, um alles zu schaffen.
Im Moment ist unsere Situation etwas schwierig. Wir haben uns vor vier Jahren getrennt, weil wir uns ziemlich auseinandergelebt hatten. Die Spannungen waren für mich zuweilen unerträglich. Ich bin zu Hause ausgezogen und lebte mit einer anderen Frau zusammen. Jetzt wohne ich in einer größeren Wohngemeinschaft auf einem ehemaligen Bauernhof. Das Verhältnis zu den Kindern ist durch die Trennung natürlich belastet. Aber nach anfänglichen Schwierigkeiten haben wir einen Modus gefunden, damit ganz gut umzugehen.
Unterschiede gibt es meiner Meinung nach nicht so sehr zwischen Ost- und Westmännern, eher zwischen Typen von Menschen und ihren Charakteren. In der DDR hatte es erst einmal mit der Sozialisation, mit der Erziehung zur Doppelzüngigkeit zu tun. In der Schule durfte nicht alles erzählt werden, was zu Hause passierte oder gesprochen wurde, dass man Westfernsehen schaute. Und dies hat etwas mit der Entmündigung in der DDR zu tun. Lebensentscheidungen wurden den Menschen abgenommen. Man fühlte sich wohl oder hatte ein gutes Leben, solange man nicht selbst aktiv werden wollte. Alles war in Ordnung, man konnte sich entwickeln, alles war vorbestimmt. Ich war sicherlich nicht der einzige, den diese Vorherbestimmtheit störte. Aber ich wollte nicht gehen, sondern hier in diesem Land etwas verändern. Und so sehe ich auch den Aufruf des Neuen Forums*, der eigentlich nur sagte: »Lasst uns darüber reden, was nicht stimmt.« Wir mussten erst die freie Rede erlernen, Argumente zu liefern und Argumenten zuzuhören, miteinander in ein Streitgespräch zu kommen, um Kompromisse zu finden. Ich glaube, dass diese Fähigkeit in der DDR nicht gewollt war. Der Lehrplan in der Schule sah das nicht vor. Jede Diskussion sollte durch den Lehrer in eine bestimmte ideologische Richtung gelenkt werden.
Ich habe nach der Wende einige westliche Glücksritter kennengelernt, die Karriere machen wollten und dazu im Osten ihre große Chance witterten. Viele sind kurze Zeit später gescheitert. Ich selbst aber habe sehr viel mehr Leute kennengelernt, die mich politisch stark beeinflussten. So sind nicht nur Lehrerinnen und Lehrer meine Freunde geworden. Viele haben mich mit ihrem Engagement innerhalb der Schule, in pädagogischen Gremien, in Gewerkschaften, aber auch darüber hinaus durch ihr politisches Engagement stark beeindruckt und beeinflusst.
Das betrifft auch seit fast 30 Jahren unser Engagement in N. gegen rechts, für Demokratie, gegen Antisemitismus und Gewalt. Unser Ort war seit den 1990er Jahren immer wieder Aufmarschgebiet für rechte Parteien und Vereine. Für mich sind engagierte Leute wichtig, egal ob sie aus dem Westen, dem Osten oder dem Ausland kommen. Nach meinen Erfahrungen sind solche Charaktereigenschaften, wie Haltung beziehen und sich aktiv einbringen, das Entscheidende. Dieses Engagement ist unheimlich wichtig, und ich wünschte mir viel mehr solcher Aktivitäten für und von den einheimischen Leuten. Viele haben das nie gelernt, sie sahen aber auch früher nie die Notwendigkeit oder die Möglichkeit, sich irgendwo kritisch einzubringen. Man zog sich stärker ins Private zurück oder hatte Sorge, dass es gefährlich werden könnte. Da war die Wendezeit zwischen Oktober 1989 und Januar 1990 so ganz anders. Die Leute gingen aus sich heraus, ergriffen ein Mikrofon und sprachen offen ihre Träume, Ängste, Sorgen und Hoffnungen aus. Das waren Menschen, von denen man das niemals erwartet hätte. Leider hat das nicht lange angehalten. Und das hat meiner Meinung mit der Art und Weise der Wiedervereinigung zu tun. Wir haben damals als Bündnis 90 wirklich dafür gekämpft, dass wir nicht nach Artikel 23 die Vereinigung durchziehen und angeschlossen werden. Wir wollten die Deutsche Einheit nach Artikel 146 erreichen. Es sollten auf Augenhöhe zwei gleichberechtigte Staaten miteinander vereinigt werden. Die Wahlen sprachen eine andere Sprache und so wurde die DDR doch nach Artikel 23 angeschlossen. Dies führte letztlich bis heute zu riesengroßen Enttäuschungen mit allen Deformierungen wirtschaftlicher Art, mit Arbeitslosigkeit und sozialem Absturz. Dass dies eintreten würde, war absehbar. Vor allem die CDU unter Kohl und seine Unterstützer in der Ost-CDU, der DSU und beim Demokratischen Aufbruch hier in der DDR, verhinderten letztlich eine neue gemeinsame Verfassung.
Detlef A., Jahrgang 1962 | 1 Kind, verheiratet in erster Ehe
Ost: Gas-Wasser-Installateur, West: Installateur, selbstständiger Haushandwerker,
Meister für Maschinenbau selbstständiger Trainer für Reha-Sport
Wenn wir uns streiten, streitet sie
und ich höre geduldig zu
Wir Kinder wuchsen in einer Dreiraumwohnung mit 58 Quadratmetern auf. Ich bin der mittlere von drei Brüdern. Der zwei Jahre ältere ist bereits an Krebs verstorben, der andere ist vier Jahre jünger als ich. Unser Kinderzimmer war so beengt, wie das heute fast nicht mehr vorstellbar scheint. Da wir direkt am Wald wohnten, haben wir natürlich viel draußen gespielt. Ich entstamme einem politisch eher linken, sehr naturverbundenem Elternhaus. Unser Vater hat sich vom Chemiefacharbeiter zum Meister qualifiziert. Später machte er in der Gewerkschaft des Zementwerkes ein bisschen Karriere. Unsere Mutter, ebenfalls Chemiefacharbeiterin, bildete sich ebenfalls weiter und arbeitete als Erzieherin und Lehrerin für Kunsterziehung. Natürlich bin ich in den Kindergarten gegangen, besser gesagt gerollert. Ich bin mit meinem Roller den einen Kilometer langen Weg zum Kindergarten alleine gefahren. Heute unvorstellbar! 1968 wurde ich eingeschult. Die Kinder aus unserer Straße liefen die knapp drei Kilometer zur Schule ohne Begleitung zu Fuß. Bis zur 10. Klasse besuchte ich die POS*. Ich überlegte lange, für welchen Beruf ich mich entscheiden sollte, schwankte zwischen Koch und Gas-Wasser-Installateur. Letztendlich entschied ich mich für den Installateur. Das Kochen ist jedoch meine große Leidenschaft geblieben.
Den Beruf des Installateurs erlernte ich im Zementwerk. Mit 17 Jahren habe ich auf dem Weg zur Berufsschule meine heutige Frau kennengelernt. Bereits mit 19 Jahren haben wir geheiratet und nach dem Motto »jung gefreit hat nie bereut« führen wir bis heute eine glückliche Ehe. Vielleicht haben sich einfach die Richtigen getroffen. Entscheidender als die Jugend wird aber sein, dass wir eine Partnerschaft auf Augenhöhe führen.
1981 wurde ich für anderthalb Jahre als Bau-Pionier zur Armee eingezogen. In dieser Zeit haben wir geheiratet. Nach meiner Armeezeit bin ich vom Radsport zum Handball gewechselt. Ich habe selbst Handball gespielt und dort Übungsleiterausbildungen durchlaufen. 30 Jahre lang habe ich ehrenamtlich als Handballtrainer gewirkt.
Bis 1984 arbeitete ich im Zementwerk als Installateur, wechselte dann als Betriebshandwerker in die Wohnungsbaugenossenschaft in R. Mein weiterer Berufsweg führte mich damals in das Chemiewerk nach R. Dort wurde ich als Brigadier eingesetzt und übernahm bald eine Meisterstelle, zunächst noch ohne die entsprechende Ausbildung. Da der Betriebsleiter aber Wert darauf legte, dass ich eine Meisterausbildung absolviere, begann ich im Frühjahr 1989 die Ausbildung zum Meister für Maschinenbau. Die theoretische Ausbildung gestaltete sich ziemlich schwierig. Durch die Wendewirren 1989/90 galten plötzlich völlig neue Regeln. Die Meisterausbildung habe ich trotzdem erfolgreich beendet. Aber der Betrieb, der mich zur Ausbildung entsandt hatte, stand kurz vor dem Aus. Die Ruinen des Betriebes stehen bis heute noch in der Landschaft und dienen ab und zu als Filmkulissen. Um den technischen Fortschritt nicht zu verpassen, denn in dieser Zeit änderten sich viele Materialien und Techniken, musste ich mir so schnell wie möglich Neues aneignen. Mit dem Meisterabschluss für Maschinenbau konnte man damals überhaupt nichts anfangen, denn die Maschinenbauindustrie der DDR wurde komplett platt gemacht. Ich hätte mit meiner Ausbildung sicherlich in den alten Bundesländern Fuß fassen können, da ich aber in der Region fest verwurzelt bin, habe ich daran keinen Gedanken verschwendet.
Also fing ich im Nachbarort bei einem bereits seit Jahren selbstständigen Installateurmeister an. Wegen des Instandhaltungs- und Modernisierungsrückstaus aus DDR-Zeiten waren das die Boomjahre in dieser Branche. In den fünf Jahren, in denen ich dort arbeitete, brachte ich mich auf den neuesten Stand der Technik. Von dort führte mich mein beruflicher Weg nach Berlin in einen größeren Betrieb. Dort arbeitete ich zwei Jahre wieder als Meister. Meine nächste sehr interessante Berufsstation war eine überbetriebliche Ausbildungsstätte. In dieser Einrichtung wurden Jugendliche in einem berufsvorbereitenden Jahr mit verschiedenen Tätigkeiten vertraut gemacht. Dort qualifizierte ich mich zum Ausbilder für Installateure und für Metallbauer. Die Arbeit mit den Jugendlichen hat mir wirklich sehr viel Spaß gemacht. Gestört hat mich allerdings, dass der Chef der Einrichtung damit eigentlich nur Geld verdienen wollte. Irgendwann merkte ich, dass es ihm völlig egal war, ob und wie die Jugendlichen ausgebildet wurden. Das interessierte ihn nicht im Geringsten. Er äußerte mir gegenüber: »Am liebsten sind mir die Teilnehmer, die nur rumsitzen oder in der Ecke schlafen. Dann verbrauchen sie kein Material, müssen sich nicht so oft die Hände waschen, was wiederum Wasser spart.« Das war nicht mein Ansatz. Ich wollte den Jugendlichen etwas beibringen.
Mir wurde klar, dass ich dort nicht bleiben konnte. Ich dachte darüber nach, mich selbstständig zu machen. Um den Existenzgründerzuschuss vom Arbeitsamt zu erhalten, musste ich jedoch arbeitslos sein. Also ließ ich mich kündigen und ging für zwei Wochen in die Arbeitslosigkeit. In dieser Zeit besuchte ich ein Existenzgründerseminar, verfasste den von mir geforderten Businessplan – und dann ging es los. Ich habe mich als Handwerker »Rund ums Haus« selbstständig gemacht und konnte auf Anhieb von den Einkünften leben.
Im Jahr 2005 suchte im Nachbarort ein Sportstudio Kursleiter für Reha-Sport-Kurse. Da mich das interessierte und ich handwerklich nicht voll ausgelastet war, bewarb ich mich und fing dort mit zwei Kursen pro Woche an. Meine Kurse waren immer gut besucht. So wurde schnell mehr daraus. Weitere Sportstudios in der Umgebung suchten ebenfalls Trainer, und so legte ich meinen Fokus mehr und mehr auf den Reha-Sport. Mittlerweile bin ich nur noch als selbstständiger Trainer in den Bereichen Orthopädie und Innere Medizin tätig. Natürlich muss ich mich ständig weiterbilden und meine Lizenzen erneuern. Da ich meine Dienste für verschiedene Sportstudios und Vereine anbiete, habe ich mehrere Standbeine. Feste Geschäftspartner, feste Kurszeiten und stabile Einnahmen tragen dazu bei, dass ich abends beruhigt einschlafen kann. Letztlich habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht. Mit der beruflichen Selbstständigkeit habe ich meine Erfüllung gefunden. Ich konnte meine Potenziale gut entwickeln und bin zufrieden in meinem Job als Trainer. Das Feedback ist unmittelbar. Man spürt sofort, ob der Kurs gut läuft, oder ob man etwas umsteuern muss. Ich erhalte praktisch mit jedem Sportkurs Anerkennung – und wer hat das schon in seinem Job.
Die Corona-Pandemie stoppte für mich alles. Corona bedeutet für mich, wie für viele andere auch, von einem Tag auf den anderen Berufsverbot.
Parallel betätige ich mich weiterhin ehrenamtlich auf unterschiedlichsten Ebenen. Seit 2002 bin ich Vorstand der örtlichen Wohnungsbaugenossenschaft und bereits seit 1990 vertrete ich, damals die PDS*, heute Die Linke in der Gemeindevertretung als Fraktionsvorsitzender. Im Zuge der letzten Kommunalwahl wurde ich zum Ortsvorsteher für unseren Ortsteil mit über 10.000 Einwohnern gewählt. Ich gehörte nie zu denjenigen, die danebenstehen und nur meckern. Eher versuche ich anzupacken, um etwas zu verbessern. Das war zu DDR-Zeiten so und es ist bis heute so geblieben. Was ebenfalls geblieben ist, ist das Gefühl, bei allem Engagement auch heute oft gegen Mauern zu laufen, die sich anscheinend nicht einreißen lassen.
Da ich mit zwei Brüdern aufgewachsen bin, ist Hausarbeit für mich nichts Ungewöhnliches. Backen und Kochen habe ich im Elternhaus gelernt. Ich hatte überlegt, Koch zu werden. Putzen ist für mich kein Problem. Wir organisieren unser Familienleben partnerschaftlich gleichberechtigt, so wie es mir meine Eltern beigebracht haben. Allerdings hat mein Vater das, was er uns predigte, selbst nicht immer so praktiziert. Er hat sich seine Auszeiten gegönnt, sodass die Hauptlast der Arbeit, auch mit uns drei Jungs, auf den Schultern unserer Mutter lag.
Bei uns ist es so geregelt, dass sich meine Frau um die Wäsche kümmert und ich mich um die Küche. Die anderen anfallenden Hausarbeiten teilen wir zwischen uns auf. Unser großes Glück, unser Sohn, wurde 1985 geboren. Mittlerweile arbeitet er als Mediziner an der Uniklinik Heidelberg. Er hat unser Modell des Familienlebens übrigens weitestgehend übernommen. Ab einem gewissen Alter haben wir ihn stets mit einbezogen, sowohl in unsere Gespräche als auch in die tägliche Hausarbeit. Unsere Schwiegertochter, die aus der Nähe von Heidelberg stammt, empfindet das natürlich als angenehm. So richtige Probleme gab es in unserer Ehe noch nie. Meine Frau sagt immer, wenn wir uns mal streiten, streitet sie und ich höre geduldig zu.