Der Junge, der mit Jimi Hendrix tanzte

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Von weitem sah Appaz eine Gruppe Oberstufenschüler, die Haare bis auf den Hemdkragen hatten. Einer trug eine Hose, die aussah wie eine vollgekleckste Malerhose, als Schultasche hatte er einen Lederbeutel mit langen Fransen über der Schulter.
»Hippies«, sagte Kerschkamp. Seine Stimme klang verächtlich.
Appaz wusste, dass Hippies so etwas waren wie die Gammler. Sein Vater hatte von den Gammlern erzählt, die auf dem Georgsplatz, wo er und seine Kollegen im Sommer ihre Mittagspausen verbrachten, die Bänke blockiert und für allgemeinen Unmut gesorgt hatten. Mehrmals waren sogar Angestellte der Stadt dagewesen und hatten den gesamten Platz mit scharf riechenden Desinfektionsmitteln eingesprüht, aber kaum waren die Bänke abgetrocknet, waren auch die Gammler zurückgekehrt. »Gammler lassen sich trotz Säuberungsaktion nicht vertreiben«, hatte in der Zeitung gestanden, und Bundeskanzler Ludwig Erhard hatte versprochen »Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören«. Appaz’ Mutter hatte erzählt, wie schnell man sich irgendwo »Läuse holen« konnte. Allein die Vorstellung, dass ihr Mann womöglich seinen Mittagskaffee auf einer zuvor von Gammlern besetzten Bank getrunken hatte, schien bei ihr nachhaltiges Entsetzen hervorzurufen.
»Guck mal«, sagte Kerschkamp plötzlich und rammte Appaz seinen Ellbogen in die Seite. Er zeigte auf ein Schwarzweiß-Foto, das als Vergrößerung an der Wand neben ihnen hing. Auf dem Foto war das Kollegium des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums abgebildet, eine Gruppe von älteren Herren in dunklen Anzügen, die, auf der Treppe vor dem Schulgebäude aufgereiht, starr und ohne ein Lächeln in die Kamera blickten, als müssten sie irgendeiner unklaren Bedrohung standhalten. Ganz vorne erkannte Appaz den Mann mit der schwarzen Hornbrille, offensichtlich der Schulleiter, links und rechts von ihm standen die beiden einzigen Frauen des Kollegiums, beide in grauen Kostümen mit weit über die Knie reichenden Röcken und nahezu identisch ondulierten Haaren.
Der Schulleiter hieß Dr. Siegfried, wie Appaz auf der Namensliste sah.
Hinter Dr. Siegfried her marschierten sie jetzt in die Aula und verteilten sich auf die Stuhlreihen, ihre Schulranzen stellten sie zwischen ihre Beine. Kerschkamp schwitzte stark, rechts von Appaz setzte sich ein Junge hin, dessen Fingernägel bis aufs Blut abgekaut waren.
Dr. Siegfried betrat das Podium, auf dem ein Rednerpult stand, links vor den Fenstern versammelte sich die Gruppe der Klassenlehrer, die sie bekommen würden. Auch eine der beiden Frauen war dabei und ein kleiner, dicker Lehrer, der über seinem Anzug einen weißen, bis zum Hals durchgeknöpften Kittel trug. Genau vor dem Bauch fehlte ein Knopf, und der Kittel klaffte weit auseinander.
Der Junge neben Appaz kicherte und schob seine Finger in den Mund.
Dr. Siegfried begrüßte sie. Sie seien jetzt auf einer Schule mit einer langen Tradition, er könne nur hoffen, dass sie dem Namen Gottfried Wilhelm alle Ehre machen würden, es läge jetzt an jedem Einzelnen von ihnen, was er mit den ihm gebotenen Chancen anfing. Und: Die Schüler des Gottfried-Wilhelm-Gymnasiums hätten es nicht nötig, arrogant zu sein, sie seien »privilegiert« allein durch die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der »Gottfried-Wilhelmer«, das sei gerade in Zeiten wie diesen wichtiger denn je, »wenn humanistische Werte und Bildungsideale plötzlich nichts mehr gelten sollen …«
»Was?«, fragte Kerschkamp laut, wurde aber sofort von der Lehrerin niedergezischt und suchte mit rotem Kopf Deckung hinter den Schultern seines Vordermannes.
Dr. Siegfried verlas nun eine Liste mit Namen, nach der sie in die einzelnen Klassen aufgeteilt wurden. Appaz und Kerschkamp kamen beide in die 5d, der Klassenlehrer war der Dicke mit dem weißen Kittel, er hieß Löffler. Oberstudienrat Löffler.
Auch Buchmann kam in ihre Klasse. Buchmann wohnte zwei Eingänge neben Appaz, sein Vater arbeitete in der gleichen Versicherung wie Appaz’ Vater. Sie waren auch im gleichen Kegelverein, der sich jeden Freitagabend im »Gasthaus zur Eiche« in der Silberstraße zusammenfand. Buchmann hatte Appaz mal im Winter mit einer Wäscheleine an einen Laternenpfahl gebunden und mit Schneebällen beworfen. Und Appaz hatte sich gerächt, indem er ihm - Wochen später - aufgelauert und ihn dann von hinten vom Fahrrad gestoßen und seinen Kopf in eine Pfütze gedrückt hatte, bevor er schnell weggelaufen war.
Jetzt nickte Buchmann ihm mit einem unsicheren Lächeln zu.
Appaz nickte zurück.
»Per aspera ad astra«, schloss Dr. Siegfried seine Begrüßung, »durch Mühen zu den Sternen, denkt immer daran, dass ihr hier für euer späteres Leben lernt, ich wünsche euch viel Erfolg für die vor euch liegende Schulzeit.«
Er schob seine Zettel zusammen. Im gleichen Augenblick meldete sich der Junge rechts neben Appaz, seine Hand mit den blutigen Fingerkuppen streckte sich zitternd nach oben und blieb auf halber Höhe unentschlossen hängen.
Dr. Siegfried guckte irritiert und erteilte mit einem Nicken die Erlaubnis zum Sprechen.
»Ich … mein Name …«, stotterte der Junge hilflos.
»Lauter«, forderte ihn Dr. Siegfried auf.
»Ich bin nicht drangekommen. Mein Name war nicht dabei.«
»Wie heißt du?«
»Klaus-Dieter …«
»Nachname!«
»Brennecke. Klaus-Dieter Brennecke.«
Dr. Siegfried überflog erneut die Namensliste.
»5d«,erklärte er mit einem Gesichtsausdruck, als wäre es die Schuld des Jungen, dass er ihn vergessen hatte.
»Dann bin ich bei euch«, flüsterte Klaus-Dieter und wirkte deutlich erleichtert.
Appaz versuchte, so was wie ein Grinsen zustandezubringen, obwohl ihm nicht nach Grinsen zumute war und er Klaus-Dieter mit seinen abgebissenen Fingernägeln auch nicht unbedingt mochte, geschweige denn zum Freund haben wollte.
Oberstudienrat Löffler trat vor und hielt die Hände wie einen Trichter vor seinen Mund: »Fünfte Dora, antreten!«, brüllte er über die Sitzreihen hinweg.
»Das sind wir«, sagte Kerschkamp.
Sie nahmen ihre Schulranzen und drängten sich aus der Reihe.
»Fünfte Dora, Abmarsch!«, brüllte Löffler, als sie vollzählig waren, und sie folgten ihm - wiederum in ordentlicher Zweierreihe - aus der Aula hinaus und quer über den Pausenhof. Appaz und Kerschkamp bildeten das Schlusslicht, Klaus-Dieter war ein Stück weiter vorn gelandet.
Unter dem einzigen Baum auf der geteerten Fläche stand ein Denkmal, ein einfacher Stein mit der Aufschrift: »Unseren Toten«. Davor lagen zwei Kränze, deren Blumen lange schon verwelkt waren.
Als sie den Seitenflügel betraten, in dem sich ihr Klassenraum befand, merkte Appaz, dass er seine Jacke in der Aula vergessen hatte. Ohne zu überlegen, scherte er aus der Reihe aus und rannte zurück, gerade noch, dass er Kerschkamp zurief: »Ich hab meine Jacke vergessen, bin gleich wieder da!« In der Pausenhalle kam ihm die nächste Klasse entgegen, sie wurde von der Lehrerin angeführt, die Appaz mit einem raschen Schritt zur Seite stoppte und ihm zwei schallende Ohrfeigen verpasste: »Hier wird nicht gerannt! Das Rennen ist im gesamten Schulgebäude verboten!«
»Aber …«, stotterte Appaz entgeistert und hielt sich die brennende Wange, »ich wollte doch nur … ich habe meine Jacke in der Aula vergessen, tut mir leid.«
»Merk es dir einfach«, sagte die Lehrerin, ohne auf Appaz’ Erklärung zu reagieren, »beim nächsten Mal schreibst du die Hausordnung ab und meldest dich beim Direktor!«
Appaz’ Jacke lag noch auf seinem Stuhl, aber natürlich kam er zu spät in die Klasse, alle anderen saßen schon. Oberstudienrat Löffler zeigte wortlos auf den freien Platz neben Klaus-Dieter. Gleich in der ersten Reihe ganz links außen. Die Sitzordnung folgte der alphabetischen Abfolge ihrer Namen, Appaz war der einzige Schüler, dessen Name mit A begann, nach Brennecke kam Buchmann.
2
Als Appaz in Kerschkamps verbeulten Volvo einsteigt, dröhnen ihm die Kinks entgegen: »Everybody’s a dreamer, everybody’s a star …« Und anstelle irgendeiner Form von Begrüßung legt Kerschkamp sofort mit einem seiner erklärten Lieblingsthemen los - dass die Kinks das beste Beispiel dafür sind, dass die Scorpions nichts taugen. Egal wie fragwürdig Kerschkamps Schlussfolgerung auch sein mag, entbehrt sie doch nicht einer gewissen Logik: »Du brauchst nur ein einziges Mal Zelluloid Heroes< von den Kinks hören, um zu begreifen, dass >Wind of Change< keine Rockballade, sondern bestenfalls billige Autoscooter-Musik ist«, regt er sich auf, während er gleichzeitig den Gang reinwuchtet und Gas gibt.
Appaz nickt nur. Kerschkamps Begeisterung für Ray Davies und die Kinks ist genauso bekannt wie die Tatsache, dass die Scorpions auf seiner persönlichen Worst-of-Music-Liste womöglich sogar noch vor Heinz Rudolf Kunze rangieren. Aber die Geschichte, die Kerschkamp gleich darauf zum Besten gibt, ist auch für Appaz neu.
»Da war ich Ostern mit Susanne und den Kindern zum Skilaufen«, erzählt er, »wieder da in Österreich, du weißt schon, wo wir immer hinfahren. Und dann hocken wir auf irgend so einer Berghütte und lassen uns die Ohren zudröhnen von dem Mist, den sie da immer spielen. Und jetzt halt dich fest, erst kommt >Meiner hat zwanzig Zentimeter oder so was und dann >Wind of Change<. Da hast du es doch, genau das ist es, was ich meine!«, erklärt er, während er einem Radfahrer rücksichtslos die Vorfahrt nimmt, »Bumsmusik, nichts anderes! - Hier, lies dir den Scheiß doch mal durch …«
Kerschkamp zeigt auf die Stapel aus einzelnen Zeitungsseiten, die auf dem Armaturenbrett liegen. Als Appaz ihn verständnislos ansieht, beugt er sich vor und wühlt mit einer Hand zwischen den Ausschnitten, bis er gefunden hat, was er sucht. »Hier, das ist echt der Hammer! Lies mal!«
Er hält Appaz einen Artikel hin und reißt gleichzeitig das Lenkrad herum, um schlingernd auf die Hauptstraße einzubiegen.
Appaz klammert sich am Türgriff fest. Er ist lange nicht mehr mit Kerschkamp im Auto unterwegs gewesen und hat fast vergessen, dass Kerschkamps Fahrstil einiges zu wünschen übrig lässt. Wenn auch der Volvo im Gegensatz zu ihrem alten VW-Bus von damals selbst grobe Fahrfehler gutmütig zu verzeihen scheint. Wäre ich bloß selber gefahren, denkt Appaz dennoch, und: Wenn er so weitermacht, muss ich irgendwas sagen, auch auf die Gefahr hin, dass er dann sauer ist. Aber ich habe keine Lust, am nächsten Laternenpfahl zu landen!
»Lies mal!«, wiederholt Kerschkamp, nachdem er den Volvo von den Straßenbahnschienen zurück auf die Fahrbahn gezwungen hat. »Die wichtigsten Stellen habe ich angestrichen …«
Es geht um irgendeinen Bericht aus der hannoverschen Tageszeitung, der überschrieben ist mit »Der Soundtrack für die Revolution«. Darunter sind ein Bild von den Anfängen der Scorpions in den sechziger Jahren und ein Interview mit Klaus Meine, wie er das Jahr 1968 als Panzerjäger bei der Bundeswehr in Schwanewede bei Bremen erlebt hat.
Kerschkamp hat einzelne Sätze aus Meines Antwort dick mit einem gelben Filzstift markiert.
»Ich war nicht der Typ, der sich mit allen Mitteln um diese Verantwortung drückte«, fängt Appaz an zu lesen. Weiter kommt er nicht.
»Alles klar?«, fragt Kerschkamp. »Der ist auch noch stolz darauf, dass er beim Bund war! Ich habe mich nicht um diese Verantwortung gedrückt! Das ist doch unglaublich. Der sagt doch nichts anderes als dass alle, die den Scheiß nicht mitgemacht haben, Drückeberger waren. Und das sagt er heute noch, das ist das Schlimmste daran! Damit macht er alles platt, was damals an guten Sachen gelaufen ist. Und außerdem ist er ein Frog!«, setzt er hinzu und bringt den Volvo im letzten Moment vor einer Ampel zum Stehen, die schon seit geraumer Zeit Rot zeigt.
»Ein was?«, fragt Appaz irritiert und reibt sich über die Stelle an seiner Schulter, wo sich der Sicherheitsgurt bei Kerschkamps Vollbremsung gestrafft hatte.
»Ein Frog«, wiederholt Kerschkamp. »F-R-O-G, friend of Gerd, alles klar? Schröder, Mann, unser Ex-Kanzler!«
Die Ampel springt auf Grün. Aber Kerschkamp macht keine Anstalten loszufahren. Stattdessen nimmt er beide Hände zu Hilfe, um Schröders Freunde aufzuzählen.
»Erstens, ein Bauunternehmer, der mit verblüffender Regelmäßigkeit immer wieder wegen irgendwelcher Umweltskandale in der Presse auftaucht, zweitens, ein Finanzoptimierer, der mittlerweile rund eine Milliarde Euro Privatvermögen auf der hohen Kante hat, drittens, der Bumsmusik produzierende Meine, viertens, irgend so ein Havanna-Zigarren rauchender Rechtsanwalt …«
Der Wagen hinter ihnen hupt.
»Ja, ist ja gut, reg dich ab«, sagt Kerschkamp und lässt mit einem Ruck die Kupplung kommen, sodass der Volvo aufheulend über die Kreuzung schießt. Nachdem Kerschkamp ruckartig geschaltet hat, nimmt er immerhin die Hände wieder ans Lenkrad. Appaz stößt erleichtert die Luft aus.
»Wo war ich stehengeblieben?«, fragt Kerschkamp. »Ach ja, ich weiß schon wieder, Schröders Freunde. Da unten, habe ich alles gesammelt…«
Er zeigt auf die Matte vor Appaz’ Füßen, auf der sich noch mehr Zeitungsartikel stapeln.
»Alles! Wie Schröder zu seinem Geburtstag mit Gottschalk und Karl Dail und natürlich wieder dem singenden Panzerjäger Tischfußball gespielt hat. Und wie irgendein Sternekoch in einem Luxusschrebergarten Bratwürstchen für die Frogs gegrillt hat. Luxusschrebergarten, achte drauf, Alter! Und wie Schröder auf einer Party für den Finanzoptimierer mit Veronica Ferres und Ex-Spice Girl Mel C. …«
»Was soll das eigentlich?«, unterbricht ihn Appaz, während er nervös beobachtet, wie sich der Volvo schon wieder bedenklich den Straßenbahnschienen nähert. »Warum sammelst du das ganze Zeug?«
»Alles Material für ein neues Buch! Wir machen mal was ganz anderes, habe ich mir überlegt, wollte ich dir eigentlich neulich schon erzählen, aber dann warst du ja plötzlich echt weggetreten. Mann, du hattest vielleicht einen im Kahn! Aber ich auch. Aber ist ja auch egal, der Titel steht jedenfalls schon, für unser Buch, meine ich. Frogs, ist ja klar, in Großbuchstaben, F-R-O-G-S, und wir nehmen uns alle vor, jeden Einzelnen von ihnen, die ganze Bande, auch Heinz Rudolf! Schon gut, sag nichts, ich weiß, dass der nicht zu den Freunden von Schröder gehört, aber andererseits irgendwie doch wieder, verstehst du? Er muss jedenfalls unbedingt mit rein in unser Buch …«
»Warte mal«, sagt Appaz in der durchaus berechtigten Sorge, dass Kerschkamp gleich auch noch auf die angeblich getönten Haare des Ex-Kanzlers oder seine frühere Vorliebe für die Currywürste im Voss kommt. »Wer soll das Ganze hinterher lesen? Wenn wir ein neues Buch machen, sollte es schon irgendwas sein, das wenigstens ein paar Leute interessiert.«
»Wie, wer soll das hinterher lesen? Die ganze Republik natürlich! Das wird für Monate ganz oben auf der Spiegel-Liste stehen, das sage ich dir, du.«
»Aber das interessiert keinen«, wiederholt Appaz. »Außer vielleicht ein paar Leute in Hannover. Sonst gibt es sowieso niemand mehr, der Heinz Rudolf noch kennt.«
»Was?«
Kerschkamp zieht den Volvo mit quietschenden Reifen nach rechts und bringt ihn mit dem Vorderrad auf der Bordsteinkante zum Stehen.
»Du meinst, die Leute kennen Heinz Rudolf Kunze nicht mehr?«, fragt er entgeistert.
»Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert«, sagt Appaz.
»Warte mal!«, ruft Kerschkamp. »Das ist doch gar nicht von Heinz Rudolf, das ist doch von …«
»Eben. Aber es interessiert sowieso keinen mehr, das meine ich damit.«
»Aber die Scorpions, Alter!«, setzt Kerschkamp wieder an.
»Auch schon länger her, oder?«
»Mann, du kannst einen aber auch echt fertig machen.« Kerschkamp haut mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Und Schröder, fällt dir dazu auch irgendwas ein?«
»Nur dass ganz bestimmt keiner wissen will, ob er mit irgendwelchen Rechtsanwälten Tischfußball spielt.«
»Vielleicht hast du recht«, gibt Kerschkamp nach kurzem Zögern zu. »Ist nur schade eigentlich. Ist eine Menge gutes Material dabei, du, das kannst du mir glauben …«
Ein bisschen wehmütig blickt er auf die Zeitungsausschnitte zu Appaz’ Füßen und auf dem Armaturenbrett. »Aber die Sache ist noch nicht vom Tisch, Alter, lass uns da trotzdem nochmal drüber nachdenken …«
»Apropos Rechtsanwälte«, hakt Appaz schnell ein, weil er befürchtet, dass Kerschkamp sich sonst unerbittlich an dem einmal gefundenen Thema festbeißt, »apropos Rechtsanwälte«, sagt er also, »was meinst du, wie viel Leute von uns werden wohl Rechtsanwälte geworden sein?«
»Keine Ahnung. Nurminski ist Kinderpsychologe, das hat mir irgendjemand erzählt. Und Buchmann ist Lehrer geworden, glaube ich jedenfalls. Aber Rechtsanwalt? Keine Ahnung«, wiederholt Kerschkamp. »Höchstens Nolle vielleicht, der hatte schon damals irgendwas Perverses …«
»Nölle«, korrigiert Appaz und schüttelt den Kopf. »Nölle ist Pathologe geworden.«
»Ach, echt? Na ja, sag ich doch, passt doch. Aber das werden wir ja gleich hören, was der Rest so macht. Versicherung wahrscheinlich. Oder Bank. Und jede Menge Computer-Fuzzis, aber irgendeiner ist auch garantiert Rechtsanwalt. Trotzdem, Alter«, ruft er dann und haut Appaz begeistert aufs Knie, »ich wette, die Einzigen, die immer noch lange Haare haben, sind wir beide!«
Kerschkamp fädelt sich wieder in den fließenden Verkehr ein, indem er einfach den linken Arm aus dem Fenster hält und Gas gibt.
Als Ray Davies »I’m not like everybody eise« singt, stellt Appaz die Musik noch lauter, als sie ohnehin schon ist. Aber so hört er wenigstens das wütende Gehupe hinter ihnen nicht mehr.
Sie sind tatsächlich auf dem Weg zu diesem Klassentreffen, von dem Kerschkamp im Voss erzählt hat. Gleich am nächsten Tag hat er noch mal bei Appaz angerufen und so lange ein mehr oder weniger haarsträubendes Argument nach dem anderen vorgebracht, bis Appaz schließlich zusagte, wenn auch mit deutlich gemischten Gefühlen. Die Zeit auf dem Gymnasium war nicht gut gewesen, und er sah eigentlich keinen Grund dafür, das alles noch mal aufzuwärmen. Andererseits reizte es ihn plötzlich, ein paar Leute von früher wiederzusehen. Und zusammen mit Kerschkamp könnte das Ganze vielleicht sogar Spaß machen. Hat er neulich am Telefon noch gedacht.
Jetzt ist er sich nicht mehr so sicher. Kerschkamp scheint nicht gerade sonderlich gut drauf zu sein. Appaz kennt solche Phasen bei ihm schon, immer wenn Kerschkamp irgendwelche Probleme hat, neigt er dazu, anderen unbedingt die Welt erklären zu wollen. Und die Idee jetzt mit dem Buch über Schröder und Schröders Freunde aus der Boulevard-Presse läuft genau in diese Richtung. Kerschkamp regt sich über irgendetwas auf, was eigentlich völlig ohne Bedeutung ist, und will gleich blindlings um sich schlagen: Wir nehmen sie uns alle vor, jeden Einzelnen von ihnen! Aber wozu, denkt Appaz, es ist ein Unterschied, ob wir uns abends in der Kneipe darüber einig sind, dass in den letzten zehn oder zwanzig Jahren ein paar Sachen deutlich aus dem Ruder gelaufen sind, ohne dass wir es eigentlich so richtig mitgekriegt haben, oder ob wir deswegen gleich alle von unserer Sicht der Dinge überzeugen wollen. Und wenn, dann bestimmt nicht mit einem Buch über den Ex-Kanzler und den singenden Panzerjäger, von Heinz Rudolf mal ganz zu schweigen. Das ist kleinlich und riecht verdammt nach Frustration, denkt er, und womöglich nach Neid. Das haben sie nicht nötig. Sie haben es ja beide hingekriegt, sie schaffen ganz gut den Spagat, das nötige Geld zum Leben zu verdienen, ohne ihre Haltungen aufzugeben. Und dass sie sich hartnäckig allem verweigern, was nach Karriere riecht, das wollen sie so und können es wahrscheinlich auch gar nicht anders. Also haben sie auch keinen Grund, sich zu beschweren, nicht wirklich jedenfalls. Andererseits ist es wichtig, die Wut zu behalten und immer wieder das Maul aufzumachen, da hat Kerschkamp schon recht. Sonst würden sie über kurz oder lang entweder einfach nur resignieren oder in selbstgefälliger Versunkenheit Whiskey schlürfend vor dem offenen Kaminfeuer sitzen, das sie beide nicht haben …
Drei Romane hat Appaz bisher abgeliefert, zwei Theaterstücke, zwei Hörspiele. Von denen das eine immerhin einen Preis gewonnen hat, der ihm ermöglicht hat, eine Weile lang einfach so vor sich hinzuschreiben, ohne ständig Sorge haben zu müssen, dass die eher mageren Vorschüsse nicht bis zum nächsten Vertrag reichten. Von den Verkaufszahlen allein kann er nicht leben, aber mit Hilfe einer wöchentlichen Glosse in einer überregionalen Frauenzeitschrift und zwei bis drei Jerry-Cotton-Heften pro Jahr kommt er ganz gut über die Runden. Sowohl die Glosse als auch den Jerry Cotton schreibt er unter verschiedenen Pseudonymen, bis auf Kerschkamp und Appaz’ frühere Frau weiß kaum jemand etwas von diesen schriftstellerischen Nebenschauplätzen, und das soll möglichst auch so bleiben.
Kerschkamp arbeitet als Fotoreporter für eine Bildagentur. Trotz oder vielleicht gerade wegen des Glasauges hatte er damals nach der Schule alles daran gesetzt, eine Ausbildung zu machen, die für ihn eher nicht in Frage zu kommen schien. Und er hat es geschafft. Auch finanziell kann er nicht klagen, zumal Susanne als Übersetzerin regelmäßig etwas dazuverdient. Aber sie haben auch drei halbwüchsige Kinder mit ziemlich teuren Hobbys, vor kurzem erst ist die Rede davon gewesen, dass Kerschkamps Älteste ein Pferd bekommen soll. Appaz ist froh, dass seine Tochter nie auf diesem Trip war. Obwohl sie sich seit Neuestem anscheinend für alles interessiert, was mit Snowboarden oder Surfen zu tun hat - und soweit Appaz weiß, kann auch das eine Menge Geld kosten. Wenn sie am nächsten Wochenende wieder bei ihm ist, wird er mal mit ihr darüber reden, was sie überhaupt so vorhat. Noch drei Wochen, dann würde sie ihr Abi in der Tasche haben. Und sie hat mal irgendwas gesagt, dass sie im Sommer vielleicht gerne eine Zeitlang an dem neuen Projekt mitarbeiten würde, das er mit Kerschkamp geplant hat.
Vor einigen Jahren haben Appaz und Kerschkamp nebenher einen Kleinst-Verlag für schräge Bildbände gegründet, Kerschkamp liefert die Fotos und Appaz schreibt die Texte, das Layout machen sie gemeinsam. Mit einigen Titeln sind sie ziemlich auf die Nase gefallen, sie haben immer noch eine Garage voll mit nicht verkauften Exemplaren, aber ihr Hit ist ein Buch über Badezimmer, »Der Deutsche auf dem Klo«, das mittlerweile in der vierten Auflage erscheint. Als Nächstes will Appaz unbedingt ein Buch über Turnschuhe machen, »Stinkfoot« ist der Arbeitstitel. Dass Kerschkamp jetzt plötzlich mit der völlig hirnrissigen Ex-Kanzler-Idee ankommt, ärgert Appaz. Manchmal ist es schwierig, mit Kerschkamp zu arbeiten.
Anstrengend, denkt Appaz. Genauso anstrengend, wie neben ihm im Auto zu sitzen. Und dunkel zu ahnen, dass Kerschkamp in seiner momentanen Stimmung es wahrscheinlich darauf anlegen wird, auf dem Abitreffen allen endlich mal die Meinung zu sagen. Während er selber gar nicht weiß, ob ihm wirklich daran gelegen ist, die Rechnung, die sie beide mit den anderen noch offen haben, nach so vielen Jahren jetzt zu begleichen.
Vielleicht wäre es sinnvoller, das alles zu vergessen und nach vorne zu blicken, denkt er, und macht gleich darauf die Augen zu, als vor ihnen die Einmündung auf den Schnellweg auftaucht und Kerschkamp den Volvo im dritten Gang bis an die Drehzahlgrenze zwingt.
Appaz tastet nach seinem Handy in der Jackentasche, das leicht vibriert. Das könnte sie sein, denkt er, obwohl sie es wahrscheinlich nicht ist, aber wenn doch, dann brauche ich wenigstens nicht mehr zu überlegen, wie ich sonst an ihre Nummer komme. Oder unter welchem Vorwand ich im Krankenhaus auftauchen kann. Tatsächlich hat er schon erwogen, sich wie zufällig nach dem Alten mit dem Beil im Kopf zu erkundigen. Weil er gerade in der Nähe sei oder so was, aber er hat Bedenken gehabt, dass der Alte vielleicht wirklich noch da ist und er dann nicht umhin kann, sich mit ihm zu unterhalten. Was nun absolut nicht das ist, was er eigentlich will…
Eine SMS. Von ihr!
»Sorry dass ich mich nicht schon eher gemeldet habe. Ich habe erst deine Karte suchen müssen. Du weißt ja, wie es auf meinem Schreibtisch aussieht.«
Quatsch, denkt Appaz, ich habe die Karte doch mittendrauf gelegt! Weiter …
»Hier ist die Hölle los. Lass mal was von dir hören. LG. Darleen«
Appaz fängt sofort an zu tippen.
»Was macht unser gemeinsamer Freund? Hast du noch was von ihm gehört?«

